Schwa­men­din­gen im Um­bruch

«Als würde man in einem Album der Familie blättern», hält eine Besucherin im Gästebuch zur Ausstellung «K12 – Schwamendingen» in der Zürcher Kunsthalle fest. Doch die Fotos von Ruth Erdt machen nicht nur den bisherigen Wandel des Zürcher Stadteils sichtbar, sie lassen auch erahnen, welche sozialen Veränderungen ihm bevorstehen.

Date de publication
05-11-2024

Schwamendingen – am nord-­östlichen Stadtrand Zürichs gelegen und Teil des Kreis 12 – wird seit einigen Jahren in hohem Masse durch Ersatzneubauten nachverdichtet. Die gartenstadt­ähn­liche Siedlungsstruktur nach dem städtebaulichen Konzept aus dem Jahr 1948 bietet dafür viel grünen Zwischenraum, der bis heute mit seiner Weitläufigkeit das Leben der Menschen dort prägt. Mit jedem Ersatz eines alten Gebäudes wird aber nicht nur dieser Raum kleiner. Auch ziehen die grös­seren Gebäude mit den teureren Wohnungen neue Bewohner an. Kurz: Schwamendingen verändert sich stark – baulich und sozial.

Diese Veränderungen hält die Künstlerin Ruth Erdt – selbst seit den 1990er-Jahren in Schwamendingen wohnhaft – seit über 20 Jahren in ihrer fotografischen Langzeitstudie fest. Über 60 000 Aufnahmen befinden sich in ihrem Fundus. Davon sind in der Ausstellung in der Kunsthalle Zürich nun 5000 Stück zu sehen. Menschen und Gebäude dominieren die Bilder. Sie porträtiert die Bewohner in Alltagssituationen, auf einer Parkbank, im Schwimmbad oder im Nachtclub. Die farbkräftigen, oft fröhlichen Motive stehen im Kontrast zu der tristen Rohheit der Abbruchhäuser. 

Mit dem Bau der bescheidenen Wohngebäude wuchs in den 1940er- und 1950er-Jahren die Einwohnerzahl von 3000 auf 30 000 sprunghaft an. Heute weichen viele von ihnen den neuen, wuchtigeren Überbauungen, die erneut einen Wachstumsschub beabsichtigen. Auch Verkehrsthemen wie die Flugzeuge in der Einflugschneise und die Einhausung der Autobahn (Fertig­stellung 2025) dokumentiert die Künstlerin. Berührend sind die Überbleibsel der Aneignung, die Ruth Erdt kurz vor dem Abbruch festhält. Palmentapete und Graffiti zeugen vom facettenreichen Leben in den Gebäuden. 

Die Ausstellung ist mit verschiedenen Präsentationsformaten abwechslungsreich und doch übersichtlich. Am Eingang bilden raumhohe Bilder den Auftakt: Das überhohe Porträt einer jungen Frau hängt neben dem Querschnitt eines halb abgebrochenen viergeschossigen Hauses. Diese Pole zwischen dem gebauten und dem gelebten Schwamendingen wechseln sich auch an den Wänden und den vier Bildschirmen im Loop ab. Im Zentrum des Raums wartet noch ein besonderes Highlight: der Wühltisch. Eine In­stallation mit unzähligen Bildern im klassischen Fotoformat zum Anfassen. Spätestens hier ist auch dem Nichtkenner Schwamendingen ans Herz gewachsen. 

Passend dazu liegt als Teil der Inszenierung obenauf das Gästebuch. Die Einträge darin bestätigen meinen Eindruck. Es ist eine herzliche und lebensnahe Dokumentation von Schwamendingen. Mit Kommentaren wie «Kreis 12 – du Nutte! ♡» oder «Come sfolgiare un Album di Famiglia» drücken Gäste und wohl Schwamendingen-Kenner ihre Begeisterung aus. 

Während sich die Ausstellung auf die Kraft der Bilder konzentriert und wenig über den Hintergrund der Arbeit verrät, bietet der gewaltige Ausstellungskatalog neben 600 Bildern vier Texte zur Geschichte und Entstehung dieses umfangreichen Fotoprojekts. Die AG KiöR (heute KiöR) initierte den «Lokaltermin Schwamendingen», an dem sich verschiedene Künstler beteiligten. Ruth Erdt schlug dafür vor, eine Langzeitstudie und Werkserie im Kreis 12 zu machen. Bewusst förderte sie hiermit eine fotografische Arbeit. Sie sah die Relevanz für den öffentlichen Raum im Festhalten von verdrängten und verloren gegangenen Qualitäten. Ruth Erdt selbst erzählt witzige Anek­doten, die sie bei ihren Fotostreifzügen erlebt hat, und wie sich aus ihrer Sicht Schwamendingen verändert hat. 


Die Ausstellung ist bis zum 19. Januar 2025 in der Kunsthalle Zürich zu sehen.
 

Der Katalog
Urs Stahel (Hg.): K12–Schwamendingen. Ein Rand­bezirk von Zürich. Steidl, Göttingen 2024, 912 Seiten, 643 Abbildungen, Leineneinband, 20 × 27 cm, Deutsch / Englisch, ISBN 978-3-96999-422-1, Fr. 97.–