«Der Wettbewerb ist ein Anfang, aber kein Selbstzweck»
Alain Oulevey, Bauingenieur und ehemaliger Präsident der SIA-Sektion Waadt, ist seit April neues SIA-Vorstandsmitglied. Im Interview spricht er über die Beweggründe für sein Engagement und darüber, welche Themen ihm wichtig sind.
SIA: Herr Oulevey, von 2014 bis 2016 waren Sie Präsident des SIA Waadt. Derzeit sind Sie Verwaltungsratsmitglied beim espazium-Verlag. Zudem sind Sie kürzlich von den SIA-Delegierten in den Vorstand gewählt worden. Woher stammt Ihr Interesse für die Vereinsarbeit?
Alain Oulevey: Die ersten Erfahrungen, die mich auf den Geschmack der Vereinsarbeit brachten, machte ich im Elternvorstand einer Krippe. Dort kümmerte ich mich um soziale Themen und die strategische Entwicklung. Als der geologische Kataster für den Kanton Waadt angelegt wurde, gründeten wir einen Verein von Geotechnikerinnen, -technikern, Geologinnen und Geologen, um herauszufinden, wie wir uns auf dem Markt gegenüber Mitbewerbern positionieren. Von 2007 bis 2011 war ich Vereinspräsident.
2010 hatte die Sektion Waadt des SIA keine Ingenieurgruppe mehr. Angesichts der Notwendigkeit, sich innerhalb der Sektion mit Ingenieurfragen zu befassen, gründeten wir die Gruppe neu. Ich hatte zwei Jahre lang den Vorsitz inne. In der Gruppe behandelten wir beispielsweise die Kommunikation über unsere Berufe, unsere Werte und unser Engagement für das gebaute Erbe. 2012 stiess ich als Vizepräsident zum Vorstand des SIA Waadt, zwei Jahre später übernahm ich die Präsidentschaft.
Die damaligen Themen sind grösstenteils heute noch aktuell: das Vergabewesen, die Beziehung zu Kantons- und Gemeindeverwaltungen und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für unsere Berufe. Die Arbeit in Netzwerken sowie die Koordination und Qualität des Austauschs mit der Verwaltung und den politischen Akteuren waren wichtige Anliegen in unserer Sektion. Dabei stellten wir fest, dass jede Westschweizer Sektion für sich arbeitete, obwohl wir alle mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren. Zudem hatten manche Sektionen wegen Ressourcenmangel weniger Einflussmöglichkeiten als andere. Daher richteten wir zwischen 2014 und 2016 eine Koordination der Westschweizer Sektionen (CoRo) ein – ein langwieriges Projekt, das heute Früchte trägt.
Was ist Ihnen von Ihrer Zeit beim SIA Waadt am lebhaftesten in Erinnerung geblieben?
Besonders gut erinnere ich mich an ein Dossier zu Beginn meiner Amtszeit als Präsident: In der Beziehung zum Kanton gab es Verstimmungen bezüglich der Auftragsvergabe. Unsere Forderungen zerrütteten das Verhältnis zum Kantonsarchitekten und sorgten bei allen Beteiligten für eine gereizte Stimmung.
Ich realisierte, dass die Präsidentschaft des SIA Waadt zwar alle zwei Jahre wechselt und so einen frischen Blick auf die Dossiers erlaubt, dass die Mitarbeitenden in der Verwaltung aber dieselben bleiben – und mit ihnen auch die Frustrationen aus vergangenen Konflikten. Es ist entscheidend, dass der SIA vertrauensvolle Beziehungen zu seinen institutionellen Ansprechpersonen unterhält. Wir trafen uns daher zu einem offenen Austausch mit dem Kanton. Das war der Grundstein für einen regelmässigen Kontakt zur Verwaltung und für eine bessere Koordination unserer Aufgaben. Stefan Cadosch, der ehemalige SIA-Präsident, unterstützte uns bei der Wiederaufnahme dieses Dialogs. Der SIA demonstrierte so seine Bereitschaft für eine Zusammenarbeit, die auf Vertrauen zwischen dem Kanton, der SIA-Sektion Waadt und dem Bauamt beruht.
Für welche Themen haben Sie sich als Präsident der SIA-Sektion Waadt eingesetzt?
Ein wichtiges Thema war das Vergabewesen: 2013 wurde die Waadtländer Beobachtungsstelle für das Vergabewesen (Observatoire des marchés publics romands – OMPr) gegründet, mit dem Ziel, den Gemeinden zu erklären, welche Aufgaben Planende übernehmen. Ausserdem bezogen wir zum Thema Wettbewerb öffentlich Stellung, nachdem die Rechnungskommission einen negativen Bericht veröffentlicht hatte. Ein Wettbewerb ist das beste Instrument, um auf eine Problematik zu reagieren, solange Regeln und Parameter eingehalten werden. Wettbewerbe sind ein Instrument und eine Chance, wenn man sie richtig angeht: Auf eine schlecht gestellte Frage kann man keine gute Antwort erwarten. Wenn in der Jury die Kompetenzen nicht angemessen vertreten sind, die Kommunikation zwischen Fachleuten und Laien nicht funktioniert und keine Projektbetreuung stattfindet, dann besteht Missbrauchsgefahr. Der Wettbewerb ist ein Anfang, aber kein Selbstzweck. Er bietet einen Katalog an Lösungen, die anhand von festgelegten Kriterien geprüft werden, um den besten Vorschlag zu ermitteln. Danach folgen die Projektarbeit und die Vergabe. Das war eine aufregende Zeit, weil wir uns in einer Angelegenheit Gehör verschaffen wollten, die uns im Innersten getroffen hatte. Für Planende ist es sehr frustrierend, wenn bei einem Wettbewerb einzig der Faktor Preis zählt. Unsere Aufgabe besteht vor allem darin, eine Vertrauensbeziehung zur Bauherrschaft herzustellen und mit der gebührenden Sorgfalt vorzugehen.
Bisher haben Sie auf lokaler Ebene gearbeitet. Im SIA-Vorstand bewegen Sie sich auf nationaler Ebene. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?
Bei meinem Engagement in der Sektion Waadt habe ich den Reichtum und die Vielfalt an Begegnungen sehr geschätzt. In meinem Alltag als Bauingenieur lerne ich vor allem Berufskolleginnen und -kollegen kennen. Für mich ist es spannend, mit Fachleuten Themen zu besprechen, die nichts mit dem Berufsalltag eines Ingenieurs zu tun haben. Zudem freue ich mich, mit den anderen Vorstandsmitgliedern, den Sektionen und der Geschäftsstelle zusammenzuarbeiten. Wir befinden uns in einer Zeit grosser Umwälzungen, in der die kurzfristige Sicht auf Kosten und Termine überbewertet wird. Das zum Nachteil der ingenieurwissenschaftlichen Überlegungen, die die Grundlage dafür bilden, Termine einzuhalten und Kosten zu reduzieren.
Diese Haltung trägt nicht dazu bei, unsere Kreativität zu fördern. Vielmehr führt sie zu einer Verkümmerung unseres Berufs. Gegen diesen Trend kämpfe ich an, denn er läuft meinen Überzeugungen zuwider und kann kein Garant für Qualitätsbauwerke sein. Eine Möglichkeit dafür bietet das Engagement beim SIA und bei seinen Sektionen, denen ich mich sehr verbunden fühle. Ich möchte ihre Arbeit unterstützen und insbesondere die Zusammenarbeit zwischen den Sektionen, dem SIA und den Berufsgruppen stärken.
Für welche Themen werden Sie sich im Vorstand einsetzen?
Durch die digitalen Herausforderungen befinden sich unsere Berufe im Umbruch. Werden die Projektphasen, wie wir sie heute kennen, auch künftig noch unserer Arbeitsweise gerecht? Es geht nicht nur darum, neue Werkzeuge zu beherrschen, sondern auch darum, neue Prozesse zu definieren. Auch die Nachhaltigkeit, für die jeder Akteur in der Bauindustrie Verantwortung trägt, ist für mich ein sehr wichtiges Thema. Ebenso grundlegend erscheint mir die Zusammenarbeit zwischen den Dachverbänden, sei es von Architektinnen, Ingenieuren oder von Unternehmen.
Schliesslich müssen wir unsere Mitglieder dazu ermutigen, sich noch mehr auf politischer Ebene einzubringen. Denn die Vertretung unserer Berufe in der Politik ermöglicht es, die Herausforderungen für die Bauindustrie zu antizipieren und zu beeinflussen. Daher ist der Kontakt zu den Parlamentarierinnen und Parlamentariern so wichtig, auch zu denen, die etwas weiter von unseren Anliegen entfernt sind.
Nach dem Abschluss seines Ingenieurstudiums 1995 an der EPFL arbeitete Alain Oulevey dort als Assistent am Wasserbaulabor, bevor er in die Privatwirtschaft und zum Tunnelbau wechselte. Danach arbeitete er bis 1999 im auf Dammbauten und Wasserkraftwerke spezialisierten Ingenieurbüro Stucky. 2001 trat Alain Oulevey eine Stelle bei De Cérenville Géotechnique an, wurde 2006 Mitglied der Geschäftsleitung und übernahm mit zwei Partnern das Büro. Heute zählt die De Cérenville Géotechnique rund fünfzig Mitarbeitende, die sich mit Geotechnik, Bodenbelastung, Untersuchung von Bodenproben, Bodenkunde und mit Studien zur Berechnung des geothermischen Potenzials eines Geländes beschäftigen.