Ar­chi­tek­to­ni­sche Dop­pel­mo­ral – Über die Po­li­tik der Re­kon­struk­ti­on

Wie extreme Rechte in Deutschland über das Planen und Bauen denken, brachte ein anonymer Twitterer Anfang September 2023 so auf den Punkt: «Abriss von Plattenbauten, durch Remigration; Architektur: Rekonstruktionen fördern». Wenn man wissen will, wie sich politische Radikalisierung auf die Bautätigkeit auswirkt, ist Philipp Oswalts Aufsatzband Bauen am nationalen Haus eine aufschlussreiche Lektüre.

Publikationsdatum
20-03-2024

Philipp Oswalt ist Professor für Architekturtheorie an der Universität Kassel, leitete einige Jahre die Stiftung Bauhaus Dessau und ist unter anderem im hessischen Landesdenkmalrat tätig. Das Buch versammelt aktualisierte und erweiterte Fassungen von Beiträgen aus den Jahren seit 2017 sowie einen neuen Text. Die Aufsätze entstanden aus Oswalts fachlicher und teils auch institutioneller Auseinandersetzung mit Rekonstruktionsprojekten wie etwa dem Berliner Stadtschloss (bzw. Humboldt Forum).

Dessen Rekonstruktion ist von Fragwürdigkeiten gekennzeichnet: ein Dickicht unterschiedlicher staatlicher und privater Akteure, knappe Abstimmungen, einflussreiche Mäzenfiguren aus rechten Netzwerken, und am Ende ein Bau, der in seiner äusseren Erscheinung weitgehend den Wunschzettel der konservativen Rekonstruktionslobbyisten abarbeitet. 

Dies, obwohl es eine langanhaltende, intensiv geführte Diskussion um das Humboldt-Forum gab und verschiedene intellektuell durchaus anspruchsvolle Überlegungen zu alternativen Vorgehensweisen beim Schlossneubau auf dem Tisch lagen. Hier ist vor allem der mit einem Sonderpreis gekrönte Entwurf des Büros Kuehn Malvezzi zu nennen, der unter anderem vorsah, den Bau in Ziegelmauerwerk zu errichten und erst nachträglich, entsprechend dem Spendenaufkommen, die rekonstruierten Fassadenelemente anzubringen.

Nachbau, Kopie oder Klon?

Rekonstruktionen verloren gegangener Bauten sind keine neue Erfindung und kommen in den unterschiedlichsten historischen und politischen Situationen vor. Die Rekonstruktionsprojekte, die Oswalt behandelt, haben jedoch einen deutlich anderen Anstrich als solche der Vergangenheit wie etwa die wiederaufgebauten Kölner Kirchen, die Dresdner Semperoper oder das Magdeburger Landtagsgebäude am Domplatz. 

Während früher, insbesondere zu Zeiten, als die fotogrammetrische Aufnahme von Gebäuden noch nicht möglich oder üblich war, Rekonstruktionen stets den Charakter eines Nachempfindens und Weiterentwickelns des verlorenen Vorgängerbaus trugen, geht es bei den modernen Projekten um eine fotorealistische Wiederherstellung der Aussenhaut. Zumindest suggerieren dies die Befürworter. Die Rekonstruktion wird damit als bloss zwangsläufige, rein technische Umsetzung des Gewesenen inszeniert.

Diese Zwangsläufigkeit ist jedoch eine Illusion. Gebäude verändern sich über die Zeit, und allein die Auswahl des Referenzzustands eines verlorenen Baus, den man rekonstruieren möchte, stellt bereits eine – bisweilen politisch zu lesende – Entscheidung dar.

Selbst bei einem hochgelobten, kaum rekonstruktiv zu nennenden Projekt wie der Sanierung des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel durch das Büro David Chipperfield taucht dieses Problem auf. Dort wurde minutiös ein halb-ruinöser Zustand gesichert und wiederhergestellt, an dem sich die unterschiedlichsten «Zeitschichten», wie man es gerne nennt, ablesen lassen – allerdings eben nicht alle. Von den Einbauten aus der DDR-Zeit sind lediglich die Bohrlöcher in den Decken verblieben.

Welches Original ist das richtige?

Umso schwerer wiegt diese Art von Entscheidung bei Rekonstruktionsvorhaben. Es war keineswegs ein rein technisches Erfordernis, die Aussenhaut des Berliner Stadtschlosses auf dem Stand zum Ende der preussischen Monarchie zu reproduzieren, inklusive der Kuppel von 1845–53. Der wenig monumentale Renaissanceflügel wurde weggelassen, und aus der Zeit zwischen 1918 und der Sprengung 1950 findet sich keine Spur. 

Innerhalb dieses planvoll gewählten Rahmens wurde dennoch die Wiederherstellung von durchaus Fragwürdigem mit dem Argument begründet, die Originaltreue habe das erzwungen. Diese spezielle Doppelmoral arbeitet Oswalt beeindruckend heraus. Er liefert eine differenzierte Argumentation, die weit überzeugender ist als die vernichtenden Phrasen, in denen die gängige Ablehnung des Humboldtforums oft formuliert wird.

Die von Oswalt angedeuteten Probleme, die durch die Illusion, eine perfekt authentische Rekonstruktion sei machbar, hervorgerufen werden, zeichnen sich in den sozialen Medien deutlich ab. Liest man dort Kommentare von leidenschaftlichen Rekonstruktionsanhängern, wird erkennbar: Jede moderne Brechung, jeder Kontext, der etwas als Rekonstruktion kenntlich machen soll, gilt als verwerflich. Beim Humboldt Forum hoffen die Fans, dass nicht nur irgendwann auch die Innenräume wiederhergestellt werden, sondern dass darüber hinaus der moderner gestaltete vierte Flügel zur Spree (siehe Bildgalerie) wieder abgerissen und durch ein Rekonstrukt ersetzt werden möge. Diese Rekonstruktionsideologie kennt prinzipiell keine Grenzen, da ihr Ziel die Verwirklichung von Irrealem ist.

Rekonstruktionen folgen einem Muster

Nach Lektüre von Oswalts Band ergibt sich der Eindruck eines ganzen Genres von Rekonstruktionsprojekten unterschiedlicher Art, die sich in mehreren Punkten ähneln:

  • Erstens: Der Wiederaufbau wird als zivilgesellschaftliches, durch breite Spendenbereitschaft ohne Weiteres privat finanzierbares Vorhaben inszeniert – um damit an den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche anzuschliessen, der als einziges solches Projekt tatsächlich eine derart breite bürgerliche Unterstützung hatte. 
  • Zweitens: Die Initiative wird von Akteuren getragen, die sich politisch konservativ positionieren und oft auf mehr oder minder unübersichtliche Weise mit der radikalen Rechten verflochten sind. 
  • Drittens: Bei der konkreten Gestaltung wird auf eine fotorealistische Wiederherstellung eines angeblich unumstrittenen Originalzustands aus der Zeit vor 1919 gepocht. 
  • Viertens: Hochrangige politische, teils auch kirchliche, Amtsträger lassen sich für das Projekt einspannen, das sie als Beitrag zur Stärkung positiver Identität ansehen. 
  • Und fünftens: Durch das Primat der möglichst perfekten Herstellung der historischen Kulisse geraten Fragen nach der inneren Ausgestaltung und konkreten Nutzung des Gebäudes ins Hintertreffen. Es ergibt sich eine sonderbare Spielart dessen, was in der Theorie postmoderner Architektur »dekorierte Kiste« genannt wird.

Identitär oder identisch?

Die grosse Frage, die man sich nun stellen kann und die Oswalts Buch mehr implizit als explizit beantwortet, lautet: Wozu das alles? Welche politische Funktion haben diese Rekonstruktionen überhaupt? Es soll irgendwie um Identität gehen, aber so leichtfertig in unseren politisch-medialen Diskursen allenthalben von Identität geredet wird, so schwierig ist es auf den Punkt zu bringen, wer sich womit identifizieren, was womit identisch sein und welche Rolle Architektur dabei spielen soll. Oswalt lässt in seinem Aufsatz zum Berliner Schlossneubau beiläufig den Satz fallen: «Nun mangelt es Berlin wahrlich nicht an Identität.» 

Mit diesen scheinbar banalen Worten ist das Grundproblem umrissen: Die Identität von Berlin oder Deutschland mit sich selbst ist – diachron wie synchron –, ebenso klar wie jene von, sagen wir, Frankfurt am Main oder Wuppertal. Es gibt nichts anderes, womit man sie verwechseln könnte, und dass sie durch die Zeiten mit sich selbst identisch geblieben sind, ist ebenfalls unumstritten. 

Das ist bei Bauwerken anders: Zur Frage, ob etwa die Frauenkirche in Dresden die historische Frauenkirche wirklich in einem emphatischen Sinne ist, gehen die Meinungen auseinander. In dem Moment, in dem man unterstellt, eine Millionenstadt oder ein mittelgrosses Industrieland brauche eine Identität, die ihm spezifisch durch bestimmte Bauwerke verliehen werden könnte, problematisiert man einen unkontroversen Alltagsbegriff. 

Früher war alles besser

Das Verdienst von Philipp Oswalts Buch ist es, kompakt und an konkreten Beispielen zu zeigen, dass Rekonstruktionsprojekte wie das Berliner Stadtschloss nicht einfach dazu dienen, etwas wiederherzustellen, über dessen Verlust ein Konsens besteht. Mit der Rekonstruktion etablieren sie erst die Erzählung, etwas jenseits des Gebäudes sei objektiv verloren, und setzen den politischen Hebel an, um es wiederzubringen.

Die Vorstellung der Rekonstruktion als technisch-zwangsläufige Wiedergewinnung des Vergangenen bedient, wie Oswalt zeigt, die Fantasie eines Bauens, das ohne die verteufelten zeitgenössischen Planerinnen und Planer auskommt. Damit stellt sie sich in eine lange Tradition an die äusserste Rechte anschlussfähiger architekturfeindlicher Polemik. In «Stadtbild»-Initiativen oder neuerdings unter dem aus Skandinavien kommenden Titel «Architektur-Rebellion» formiert sich dazu mehr und mehr eine sich als unpolitisch verstehende Basis, deren Vokabular und Argumente aber bis hin zu Neonazis geteilt werden.

Der Rekonstruktionstrend in seinen spezifischen Schattierungen kommt dieser Basis von oben entgegen. Er stellt das handfeste semiotische Pendant zur Anbiederung an die Neue Rechte durch Übernahme ihrer politischen Forderungen dar. Dazu gehört, dass er in letzter Konsequenz die Architektur als kreative, kritische Praxis des Schaffens neuer Räume und Orte durch eine Praxis des Ausstaffierens der Gegenwart mit möglichst perfekt imitierten Versatzstücken der Vergangenheit ersetzen möchte.

Es gibt Alternativen

Oswalt beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die Kritik, sondern präsentiert mit dem (seinerzeit von ihm selbst betreuten) Wiederaufbau der Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau durch das Büro Bruno Fioretti Marquez in einer «Architektur der Unschärfe» zumindest ein Gegenkonzept. Solche Wiederaufbauten sind für ihn Neubauten, deren Urheber ganz klar moderne Architekten sind, die sich im Entwurf «regelbasiert auf historische Sachverhalte beziehen». Sie greifen die jahrhundertealte Tradition der architektonischen Wiedererinnerung und des Wiederaufbaus auf. Damit sind sie ironischerweise in gewisser Hinsicht konservativer als Projekte der illusionär fotorealistischen Rekonstruktion. 

Bauen am nationalen Haus ist ein Buch, das Erkenntnisse dazu liefert, wie sich der hiesige Umgang mit verlorenen Bauten hohen Symbolwerts besser gestalten liesse als heute. Steine können nicht daran schuld sein, was in ihrem Inneren passiert ist. Dieser Ausspruch des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) aus dem Jahre 2000 ist sicher wahr. Aber der Wiederaufbau von Steinen, die als mit den Steinen von früher identisch konzipiert werden, ist nie unpolitisch und wertfrei. Unsere Gesellschaft und ihre Institutionen schulden solchen Projekten ein sorgfältiges und kritisches Auge.

Dr. Matthias Warkus ist freier Publizist und Philosophiedozent. Er hatte Lehraufträge für Philosophie der Architektur u.a. an der Bauhaus-Universität Weimar und der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle inne. Hier geht es zu seinem Newsletter.

 

Dieser Artikel erschien erstmals auf 54books.de.

Philipp Oswalt: Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik. Berenberg Verlag, Berlin 2023. 238 Seiten, Klappenbroschur, 120 x 183 mm, ISBN 978-3-949203-73-2 Fr. 32.–

 

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