Auf Au­gen­hö­he

Der beim diesjährigen Velux Architekten-Wettbewerb mit dem zweiten Preis ausgezeichnete Kindergarten Binzmühle in Risch-Rotkreuz überzeugt mit räumlicher Raffinesse und einer Palette an Möglichkeiten. Melk Nigg Architects gelang ein Gebäude, das den Kindern viel bietet und wenig vorgibt.

Publikationsdatum
14-10-2022

Skandinavische Reformarchitektur in der Schweiz? Wer den im Frühling 2020 fertiggestellten Kindergarten am westlichen Ortsrand von Risch-Rotkreuz im Kanton Zug zum ersten Mal erblickt, wird unweigerlich an skandinavische Vorbilder erinnert – ein pavillonartiger Holzbau zwischen gross gewachsenen Laubbäumen, sorgfältig, aber nonchalant gestaltete Aussenräume, präzise in die Landschaft eingebettet. Das ist die eine Seite. Die andere Seite präsentiert sich, wenn man sich vom Kindergarten Richtung Dorf wendet: Eisenbahnlinien, die vielbefahrene Chamerstrasse und ein Einfamilienhausquartier mit ersten, der Verdichtung geschuldeten Mehrfamilienhausblöcken zeigen, wie heterogen das Umfeld durchmischt ist. Umso schöner ist der ruhige Kontrapunkt, den der Kindergarten bildet.

Entstanden aus einem zweistufigen Generalplanersubmission, setzt der zweistöckige Holzbau von Melk Nigg Architects aus Zug erst einmal auf Bewährtes: Der Neubau steht auf den Fundamenten des Vorgängerbaus von 1982. Aufgrund von baulichen Mängeln und neuen Anforderungen an das Raumprogramm gemäss dem Lehrplan 21 wie etwa Gruppenräume wurde dieser ersetzt.

Filigranes Flügeltier

Im Gegensatz zum Vorgänger versammelt der Neubau alle Funktionen unter einem Dach. Wie eine schützende Decke legt sich das aus 16 Dreiecksflächen origamiartig gefaltete Dach über die zwei Geschosse des Baus. Der Grundriss erinnert an einen Schmetterling: Die zentrale Erschliessung ist in der Mitte platziert, je eine Kindergartenklasse im Flügel. Zusammen mit der raumhohen, rundum laufenden Verglasung ermöglicht diese Anordnung viel Lichteinfall von jeweils drei Seiten.

Holzrahmen fassen die 1.25 m breiten Fensterfelder, in unregelmässigen Abständen sind sie mit einer Verkleidung aus Fichtenholz geschlossen. Die je nach Himmelsrichtung unterschiedlich stark ausgeprägte Mischung aus Geschlossenheit und Transparenz ermöglicht einen gelenkten Ausblick in die Umgebung und ein angemessenes Mass an Geborgenheit und Privatsphäre für Kinder und Lehrpersonen. Die Fassade kann beliebig zu einem Fenster oder Wandelement umgebaut werden, auch die Innenwände sind flexibel.

Der schwebende Ausdruck des Gebäudes ist indes nicht nur Show, sondern Tatsache: Die Holz­ständerkonstruktion steht bis zu 40 cm erhöht über dem nach Südosten abfallenden Terrain. Eine den Schulräumen vorgelagerte umlaufende Veranda, teils als Nische ausgebildet, erweitert die Fläche nach aus­sen und ermöglicht einen geschützten Aufenthalt im Freien. Da sich die Fensterfronten an einigen Stellen komplett öffnen lassen, entfaltet sich im Sommer nochmals ein Mehrfaches an Platz.

Blick in die Wolken

Im Innern präsentiert sich der Bau auf den ersten Blick einfach, auf den zweiten raffiniert: Der zentrale Erschliessungsbereich beherbergt Nasszellen und Garderobe, eine ausladende Wendeltreppe führt ins Dachgeschoss zum Malraum mit einem grossen Tisch, an dem auch Therapien und Elterngespräche stattfinden. Links und rechts schliessen jeweils die beiden Klassen an, ihr Grundriss ist an der zentralen Achse gespiegelt.

Auch die Klassenräume sind zweigeschossig, eine etwas kleinere Wendeltreppe führt jeweils auf die obere Ebene. Hier, bei einer Raumhöhe von 1.20 bis 3.50 m, wird das Dach spürbar. Fast wie ein Zelt bedecken die Dreiecksflächen den Raum, aufgespannt an einer kreuzförmigen Stütze. Für Tageslicht sorgen jeweils drei runde Oberlichter. Ihre Laibung ist konisch geformt, was den Lichteinfall erhöht. Je nach Wetter und Tagesverlauf entstehen helle und dunkle Zonen, die Natur – Sonnenlicht, frisch gefallener Schnee, trommelnder Regen – wird auch im Innenraum spürbar.

Besonders schön: Im Kniestock beträgt die Raumhöhe nur noch 1.20 m – diese Zone bleibt den Kindern vorbehalten. Für einmal bespielen sie einen Raum mit für sie angemessenen Proportionen. Sie können sich auf Matratzen legen und durch die Dachfenster den Wolken zuschauen oder durch die Verglasungen im Kniestock ganz versteckt das Geschehen draussen beobachten. Die räumliche Vielfalt von Galerie, Treppe und überhohem Klassenraum erlaubt mannigfaltige Aneignungen: Die Galerie kann zur Bühne werden, die Treppe zur Arena.

Raffinesse in der Einfachheit

Auffallend ist die nahezu monochrome Gestaltung: Holz an Fassade und Boden, in verschiedenen Weisstönen gestrichene Akustikdecken, Treppenwangen und Handläufe. Ein bewusster Entscheid, so Architekt Melk Nigg: «Die Kinder geben den Innenräumen die Farbe.» Eine subtile Ausnahme aber gibt es: Dem Gussestrich im Eingangsbereich sind goldene Glitzerpartikel beigefügt – eine Gestaltung mit Augenzwinkern, die sich aus einer Verschiebung der Perspektive ergibt. «Die Optik von Kindern und Erwachsenen unterscheidet sich erheblich. Für Kinder ist der Boden viel wichtiger – ebenso wie der Himmel», so Nigg.

Was sinnvoll klingt und einfach aussieht, ist es nicht zwangsläufig in der Umsetzung. Ein Beispiel sind die neun runden Oberlichter. Von aussen werden sie durch je ein 1.20 m × 1.20 m grosses Flachdachfenster ­geschlossen. Dies, weil ein runder Fensterabschluss gemäss Nigg schwieriger abzudichten sei und es sich bei den gewählten Elementen um etablierte Standardprodukte handle, die zusätzlich zur Belichtung auch lüften und so dank Kamineffekt die Nachtauskühlung gewährleisten sowie einen integrierten automatischen Sonnenschutz besitzen.

Schwierig war es, die Elemente jeweils auf die unterschiedliche Neigungen abzustimmen – eine der Dachflächen übertraf die vom Hersteller angegebene maximale Neigung. Das Problem lösten die Planerinnen und Planer mit einer individuell angefertigten Unterkonstruktion.

Wichtiger Bestandteil des Kindergartens ist die Landschaftsarchitektur von Rainer Zulauf und Max Kindt. Möglichst naturnah, mit ähnlich vielen offenen Möglichkeiten zur Aneignung wie im Innern sollte sie sein.

Die Topografie wurde dem ursprünglichen Landschaftsraum soweit möglich wieder angepasst. Der einst vorhandene, aber unterdessen geschlossene Bachlauf darf jetzt wieder – leicht gezähmt – fliessen, die mächtige Trau­erweide schützt den Vorplatz vor dem Eingangsbereich, unversiegelte Kiesböden laden zum Baggern ein. Wer ganz genau hinschaut, erkennt in der kniehohen Stützmauer aus Bruchsteinen sogar Fossilien – aus Gips und wie gemacht, um von zukünftigen Paläontologinnen und Paläontologen entdeckt und ausgegraben zu werden.

Lernen durch Entdecken

Im Frühling 2020 wurde de Bau fertiggestellt – mitten im Shutdown. Die Pandemie sorgte dafür, dass der Kindergarten auch nach zwei Jahren in Betrieb noch fast neu wirkt. Es wird spannend sein, über die Jahre zu beobachten, welche Ecken sich etablieren, welche Räume sich wandeln. Die Lehrkräfte jedenfalls schätzen den Neubau, vor allem die Vielfalt der Räume und das Morgenlicht. Und die Kinder, die in einer solch grosszügigen Umgebung ins Bildungssystem starten, kann man fast ein wenig beneiden. 

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 33/2022 «Tageslicht in Bildungsbauten».

Kindergarten Binzmühle, Rotkreuz

 

Bauherrschaft
Gemeinde Risch-Rotkreuz

 

Architektur
Melk Nigg Architects, Zug

 

Landschaftsarchitektur
Rainer Zulauf und Max Kindt, Turgi

 

Tragkonstruktion
Wismer + Partner, Lauber Ingenieure, Luzern

 

Energie- und Umwelt­ingenieurwesen
Olos, Baar

 

Holzbau
Bisang Holzbau, Küssnacht am Rigi

 

Baukosten
BKP 1–9: 2.6 Mio. Fr.
BKP 2: 2.3 Mio. Fr.

 

Auszeichnungen
2. Platz, Velux Architekten-Wettbewerb 2022

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