Baukultur verpflichtet – auch die Privatwirtschaft?
Baukultur ist ein öffentliches Anliegen. Dem privaten Sektor aber kommt als Investor eine besondere Verantwortung zu.
Seit der «Davos Declaration» nimmt die Schweiz im europäischen Diskurs über Baukultur eine Führungsrolle ein. Die von den europäischen Kulturministern 2018 verabschiedete Erklärung unterstreicht den wirtschaftlichen Mehrwert einer hohen Baukultur und erinnert daran, dass dem privaten Sektor eine grosse Verantwortung für das öffentliche Gut Baukultur zukommt. Aufbauend auf dem internationalen Erfolg der «Davos Declaration» veröffentlichte das Bundesamt für Kultur 2021 das «Davos Qualitätssystem für Baukultur». Das Davos System schafft erstmals eine Bewertungsmethode für eine hohe Baukultur, die soziale, kulturelle und emotionale Kriterien den üblicheren technischen, ökologischen und wirtschaftlichen Kriterien gegenüberstellt. Anders formuliert: Das Davos System ist ein Instrument, um die Qualität einzelner Orte intersubjektiv zu erfassen, und strebt zugleich eine bessere Balance der verschiedenen miteinander verwobenen Aspekte einer hohen Baukultur an.
Grundlage des Davos Systems sind die acht Kriterien Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius Loci und Schönheit. Jedes der acht Kriterien wird aus der Erklärung von Davos abgeleitet, zu einem Prinzip verdichtet und mit jeweils fünf bis sieben Schlüsselfragen präzisiert. Ausserdem erläutert ein Fliesstext jedes der acht Kriterien. Ein Fragebogen lädt dazu ein, die Schlüsselfragen zu den einzelnen Kriterien schriftlich zu beantworten und diese Einschätzung dann auf eine Skala mit 1 bis 18 Punkten zu übertragen. Abschliessend ist eine Gesamteinschätzung des zu bewertenden Orts in Textform vorgesehen, ausserdem eine Beschreibung seiner Stärken und seines Verbesserungspotenzials. Die abschliessende Stellungnahme mündet ebenfalls in eine Skala mit 1 bis 18 Punkten zu der Frage: «In welchem Ausmass erfüllt der Ort die Qualitätsanforderungen insgesamt?»
Das Davos System ist also Grundlage einer textlichen Auseinandersetzung und enthält ergänzend eine Benotung. In verwandten Politikbereichen wie der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung ist die Quantifizierung komplexer Zusammenhänge etablierte Praxis, um Fortschritte nachvollziehen zu können. So kritisch Schritte in Richtung der Messbarkeit auch sind: Qualitätsziele zu objektivieren ist eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Realität, die über die Relevanz einer hohen Baukultur und insbesondere weicherer Kriterien mitentscheidet.
Unter dem Arbeitstitel «Common good – shared responsibility» plant die Schweiz für 2023 erneut eine Ministerkonferenz in Davos. Diese soll den ökonomischen Mehrwert einer hohen Baukultur und die Verantwortung der Privatwirtschaft als potenzielle Win-Win-Konstellation adressieren. Im Vorfeld können der vom SIA angestossene «Runde Tisch Baukultur Schweiz» und die interdepartementale Arbeitsgruppe «Baukultur» des Bundes Inputs geben. Die Beispiele in diesem Heft bieten eine willkommene Inspirationsquelle.
Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Erfolgsfaktor Baukultur | La culture du bâti – un facteur de réussite | Cultura della costruzione: un fattore di successo».