Das Bergell, Bondo und der Cengalo
Der Bergsturz am Piz Cengalo und die nachfolgenden Murgänge im August 2017 haben das Bergell hart getroffen. Gut fünf Jahre später sind die Bauarbeiten am gewaltigen Schutzprojekt in vollem Gang. Im Bergell will man jetzt vor allem vorwärtsschauen und neue Projekte realisieren. Die erkennbaren Ansätze sind vielversprechend, wie ein Augenschein vor Ort zeigt.
«La montagna ha la febbre.» – Der Berg hat Fieber. So stand es nach dem Bergsturz am Cengalo und den verheerenden Murgängen im August 2017 an einem Haus im Weiler Spino bei Bondo. Es ist der lakonische Kommentar eines Einheimischen zu den Ereignissen vor fast sechs Jahren. Sein Haus wurde wenige Monate später abgerissen.
Blenden wir zurück: Im Bergell kündigte sich am 23. August 2017 ein sonniger Tag an. Kaum jemand dachte an das, was an diesem Tag und den folgenden Tagen geschehen würde. Um halb zehn am Vormittag lösten sich 3 Mio. Kubikmeter Fels aus der Nordostwand des Pizzo Cengalo. Das Material prallte am Fuss der Wand auf einen kleinen Gletscher sowie auf alte Ablagerungen eines früheren Bergsturzereignisses. Wenige Sekunden später bildete sich ein Schuttstrom aus zähflüssigem Material durch das Val Bondasca.
Reportage Wiederaufbau Bondo
Wenn Architektur- und Baumedien über Gebautes berichten, ist die Arbeit meist schon getan. Wir machen es anders und nehmen Sie mit auf die Baustelle. Dieser Artikel bildet den Auftakt unserer Reihe zum Wiederaufbau von Bondo.
Acht Murgänge an einem Tag
Der erste Murgang erreichte knapp 20 Minuten später Bondo. Bis am Abend folgten sieben weitere Murgänge. Das 2015 erstellte Auffangbecken vermochte das Material der ersten Murgänge mehr oder weniger aufzunehmen. An 25. und am 31. August stiessen jedoch weitere Schuttströme bis in den Talboden vor. Insgesamt waren es rund eine halbe Million Kubikmeter Material.
In Bondo kam es zu grossen Schäden an Gebäuden, Strassen und Brücken. Menschen kamen im Talboden zum Glück keine zu Schaden. Acht Berggängerinnen und Berggänger, die sich im hinteren Teil des Val Bondasca befanden, wurden von den Geröllmassen hingegen überrascht und kamen ums Leben. Juristisch ist der Fall noch nicht abgeschlossen (vgl. Kasten unten). Die Bewohnerinnen und Bewohner von Bondo waren nach dem Bergsturz während mehrerer Wochen evakuiert und konnten erst Mitte Oktober in ihre Häuser zurück. Sofern diese nicht zerstört waren oder abgerissen werden mussten (vgl. auch Artikel in TEC21 25-26/2019).
Fünfeinhalb Jahre später: Wer bei Promontogno aus dem Tunnel Richtung Chiavenna fährt, erblickt eine grosse Baustelle. Das Volumen des gewaltigen Auffangbeckens wurde vergrössert, die neue Brücke der Kantonsstrasse über die Bondasca höher gelegt. Ebenso ist der Rohbau der neuen Brücke als direkter Verbindung zwischen Bondo und Promontogno fertiggestellt. Sie dient als Ersatz für die jahrhundertalte Brücke direkt am Eingang zum Bondascatal, die bei den Murgängen 2017 zu verstopfen drohte und deshalb notfallmässig abgerissen werden musste. Seither sind die Dörfer Bondo und Promontogno direkt nur über eine provisorische Hängebrücke für Fussgänger miteinander verbunden.
Die Dimension des Schutzprojekts ist eindrücklich. Das Hauptziel: Bondo und den Weiler Spino sowie die Verkehrswege vor weiteren Fieberschüben der Berge wirksam schützen. Am Cengalo drohen weitere Felsmassen abzustürzen. Und auch im Bondascatal liegt immer noch sehr viel Material.
Ein Projektwettbewerb für eine bestmögliche Einbettung
Nach dem Bau des ersten Auffangbeckens 2015 wird das aktuelle Projekt auch «Bondo II» genannt. «Bondo II» ist das Ergebnis einer sorgfältigen Planung von Fachleuten verschiedenster Disziplinen wie Geologie, Naturgefahren, Wasserbau, Bauingenieurwesen, Denkmalschutz und Landschaftsarchitektur. Das Schutzbauwerk liegt an einem äusserst sensiblen Ort. Bondo wie auch Promontogno sind im Inventar der schützenswerten Ortsbilder von nationaler Bedeutung (ISOS) verzeichnet. Die Gemeinde Bregaglia schlug deshalb vor, einen Projektwettbewerb durchzuführen, um bezüglich Gestaltung und Einbettung in die Landschaft das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Ein aussergewöhnliches Vorgehen für ein Wasserbauprojekt.
Der Entscheid der Jury fiel Ende 2019 auf das Projekt «Strata». Anlässlich des Spatenstichs von «Bondo II» im September 2021 erwähnte Katrin Schneeberger, die Direktorin des Bundesamts für Umwelt, denn auch, dass das Projekt nicht nur einen verbesserten Schutz vor Naturgefahren biete, sondern diesen so gut wie möglich mit den Anliegen des Landschafts- und Denkmalschutzes verbinde. Dass das Bergell mit seinen kulturellen Werten sorgfältig umgehe, zeige auch die Verleihung des Wakkerpreises an die Gemeinde Bregaglia 2015, so Schneeberger.
Mehr als ein Jahr nach dem Spatenstich stehen wir im November 2022 vor dem Gemeindehaus. Vom Vorplatz aus überblickt man nahezu die gesamte Baustelle. Ueli Weber, seit 2020 im Gemeinderat als Vizepräsident für die Infrastruktur und die Wirtschaftsförderung im Tal zuständig, präsentiert dem Besucher den aktuellen Stand der Baustelle. Nach seinem aktiven Berufsleben, das ihn als Bauingenieur auch ins Ausland führte, zog Weber mit seiner Frau ins Bergell, und stellt nun sein Wissen und seine Erfahrung dem Tal zur Verfügung.
Verwendung von Cengalo-Steinen
Ueli Weber weist auf die unterschiedlichen Sorten Steine hin, die für den Bau der Wälle des Auffangbeckens verwendet wurden. Im unteren Teil sind es gebrochene Steine vom nahen Steinbruch in Promontogno. Man verwendete sie für den Bau des ersten Hochwasserschutzdamms. Die Steine sind nun wieder im unteren Teil des erhöhten Damms eingebaut. Der obere Teil des Walls besteht aus rundlichen Steinen, die vom Cengalo oder aus dem Bondascatal stammen und die der Murgang 2017 in den Talboden transportierte. Untersuchungen ergaben, dass diese Steine verwendet und auch gebrochen werden können. Das Material hätte sonst deponiert werden müssen. Insgesamt fast 200'000 Tonnen Steinblöcke würden im Projekt verbaut, sagt Weber. Die gesamte Länge der neuen oder erhöhten Hochwasserschutzdämme sei fast zwei Kilometer lang. Auf der Böschung auf der Seite von Bondo werde ein Fussweg angelegt.
Die Vorstudie und der Projektwettbewerb dauerten zwei Jahre. Dann erschwerte ab 2020 die Coronakrise die Projektierung. Dennoch führte Corona zu keinen Verzögerungen. «Auch die durch den Krieg in der Ukraine verursachten Materialengpässe hatten dank einer vorausschauenden Planung keine Auswirkungen auf den Zeitplan», sagt Ueli Weber. Für die Gemeinde habe die Realisierung des Projekts höchste Priorität. Bondo und Spino sind bereits weitgehend geschützt. Das ist wichtig, denn diese beiden Siedlungen sind am stärksten gefährdet. Mit dem Kanton und dem Team «Strata» funktioniert die Zusammenarbeit laut Weber sehr gut. Der Kanton stelle die Oberbauleitung, während die Gemeinde Teilprojektleitungen innehat und als Bauherrschaft für das gesamte Projekt verantwortlich zeichnet.
Finanzielle Last für die Gemeinde
Der 2020 bewilligte Baukredit von 42 Millionen Franken wird nach aktuellen Schätzungen deutlich über 50 Millionen Franken liegen. Gründe für die Mehrkosten sind zusätzlich nötige Massnahmen baulicher Art, eine hohe Teuerung sowie die regional gut ausgelastete Bauwirtschaft. Bund und Kanton übernehmen 85 Prozent der subventionsberechtigten Kosten. Die neue Brücke für die direkte Verbindung zwischen Bondo und Promontogno zählt beispielsweise nicht dazu, weil es sich um eine Gemeindebrücke handelt. Somit hat die Gemeinde Kosten in der Höhe von über 15 Millionen Franken für das Jahrhundertprojekt zu stemmen. Das ist viel für eine Gemeinde mit einer Bevölkerung von rund 1600 Personen. Ein Teil davon kann über Spenden, die nach dem Murgang eingegangen sind, finanziert werden kann.
Angesicht der riesigen Baustelle stellt sich die Frage, ob die im Rahmen von Bondo II realisierten Schutzmassnahmen verhältnismässig sind. Bund und Kanton bewilligten das Projekt nach den üblichen Kriterien. Weil ein Dorf, dessen Ortsbild und Kirche aus dem 13. Jahrhundert im Bundesinventar der schützenswerter Ortsbilder der Schweiz ISOS aufgelistet ist, zu schützen ist, sind die Sicherheitsanforderungen noch etwas höher angesetzt worden. Zu beachten ist auch, dass es nicht nur um den Schutz eines kleinen Dorfs geht, sondern auch um die Sicherheit und Verfügbarkeit der Kantonsstrasse, der Hauptschlagader im Bergell von Chiavenna nach St. Moritz. Viele Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien helfen mit, das wirtschaftliche Leben im Bergell und insbesondere im Oberengadin aufrecht zu erhalten. Ein wichtiges Element, um die Sicherheit der Verkehrswege und Siedlungen zu gewährleisten, ist das Überwachungssystem, das nach dem Murgang 2017 ausgebaut wurde. Dieses bleibt bis zum Abschluss der Bauarbeiten 2025 in Betrieb. Danach wird entschieden, ob und in welcher Form es weitergeführt wird.
Seit Mitte Februar herrscht nach der Winterpause wieder emsiges Treiben auf der Baustelle. «2023 und 2024 werden intensive Jahre», sagt Ueli Weber. Als wichtige Etappenschritte werden die neue Brücke der Kantonsstrasse sowie diejenige zwischen Bondo und Promontogno in Betrieb genommen. Wegen des Abbruchs und Neubaus der Brücke über die Maira und die Höherlegung der Strasse zwischen Spino und Sottoponte wird es bei der Verkehrsführung zu Beeinträchtigungen und Umleitungen kommen.
Aufwertung der berühmten Crotti
Vor zehn Jahren war ein grosser Teil der Bevölkerung im Bergell noch skeptisch, als im Talboden bei Bondo viel Land für den Bau des ersten Auffangbeckens geopfert werden musste. Damals musste auch der Campingplatz am Ufer der Bondasca weichen. In unmittelbarer Nähe befand sich auch eine einfache Jugendherberge, die es heute nicht mehr gibt. Bekannt sind auch die Crotti an der historischen Verbindungstrasse von Bondo nach Promontogno. Govianni Giacometti malte 1919 ein Bild von den Crotti di Bondo.
Es gibt Pläne, diesen Ort wieder zu beleben. Den Reiz des Orts erlebte der Autor im Oktober 2022, als im Rahmen des Bergeller Kastanienfestivals im Crot da Bond lokale Spezialitäten serviert wurden. Gekommen waren an diesem Samstag vor allem Einheimische. Dieses Crotto wird gegenwärtig durch den nach dem Bergsturz gegründeten Verein Pro Bondo renoviert. Auch die 2017 zerstörte Bocciabahn wird wieder erstellt und soll mithelfen, den Ort wieder wie früher zu einem beliebten Treffpunkt zu machen.
Vom Umgang mit der Naturkatastrophe
Der Alpinismus hat im Bergell eine lange Tradition. Die Namen der Berge bei Bondo sind bekannt: Sciora, Badile, Cengalo. Die Risiken der Berge sind den Menschen bewusst. Mit dem Bergsturz, der in seiner Dimension und seinen Folgen viele überrascht hatte, muss nun jede und jeder umgehen. Donato Salis betreibt seit 2012 die Bar und den Dorfladen in Bondo. Zuvor führte er 22 Jahre eines der Crotti. Er erzählt, dass 2017 das 150-Jahr-Jubiläum der Erstbesteigung des Piz Badile gefeiert wurde. Der markante Berg ist bei Bergsteigerinnen und Bergsteigern sehr beliebt. «Der Cengalo war vielleicht eifersüchtig», sinniert Salis. Er sagt dies im November, am Anfang des langen Winters, der Bondo für zweieinhalb Monate die Sonne nimmt. «Die ersten Sonnenstrahlen haben wir im Dorf erst wieder am 14. Februar», erklärt er dem Gast aus Zürich.
Mit dem gewaltigen Naturereignis beschäftigen sich auch Künstlerinnen und Künstler. Eine von ihnen ist Sabine Tholen. Die freie Künstlerin verbrachte in ihrer Kindheit viele Ferienwochen im Bergell, und arbeitet heute in Genf und im Bergell. Kurz vor der Naturkatastrophe war sie in Stampa. Nach dem Bergsturz war sie immer wieder im Bergell und dokumentierte die Veränderungen der Felswand des Cengalo sowie im Bondascatal und der Deponie mit dem aufgeschichteten Material des Auffangbeckens. Das Buch «La frana» bildet den Abschluss des mehrjährigen künstlerischen Projekts.
Vize-Sindaco Ueli Weber wünscht sich, dass die Menschen im Bergell nach dem einschneidenden Ereignis an die Zukunft des Tals glauben. Das Potenzial sei vorhanden. Das neue Schutzbauwerk werde zu einem Wahrzeichen der Erinnerung, ist Weber überzeugt. Es stehe aber eben auch für den Aufbruch. So war etwa der Tag der offenen Baustelle im Oktober 2022 ein grosser Erfolg. Immer mehr wird erkennbar, wie Bondo einmal aussehen wird. Die Bergellerinnen und Bergeller konnten damals zum ersten Mal zu Fuss über die neuen Brücken schreiten. «Mica male» (Gar nicht schlecht) kommentierten viele von ihnen, was durchaus positiv zu verstehen ist.
«Alla gioventù di Bondo»
Auch wenn das Jahrhundert-Schutzprojekt derzeit viele Ressourcen der Gemeinde bindet, gilt es, die Aufbruchstimmung zu nutzen. Gemäss der kürzlich erarbeiteten kommunalen Strategie sollen laut Weber in den kommenden Jahren Projekte in Tourismus, Forst- und Landwirtschaft sowie Energie gefördert werden. Auch die Erweiterung des Regionalspitals sowie der Bau eines neuen Schulhauses in Maloja stehen an. Das Gemeindehaus der 2010 aus den fünf Talgemeinden Bondo, Castasegna, Soglio, Stampa und Vicosoprano entstandenen Gemeinde Bregaglia war einst auch ein Schulhaus. Noch immer steht hoch oben an der Fassade: «Alla gioventù di Bondo». Und tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass im Bergell derzeit die Weichen für künftige Generationen gestellt werden.
Rechtliche Aufarbeitung mit grosser Verzögerung
Sind bei einem Naturereignis Todesfälle zu beklagen, stellt sich automatisch die Frage nach der Verantwortlichkeit. Im Fall von Bondo, bei dem acht Berggängerinnen und Berggänger ums Leben kamen, ist zu klären, ob die Naturgefahrenexperten des Kantons sowie die kommunalen Behörden angesichts des drohenden Bergsturzes am Cengalo korrekt gehandelt hatten. Von Interesse ist vor allem die Frage, ob die Wanderwege im Bondascatal gesperrt hätten werden müssen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Staatsanwaltschaft.
Nach dem Bergsturz im August 2017 nahm die Kantonspolizei Graubünden Ermittlungen auf. Im Juli 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Graubünden eine Strafuntersuchung ein, stellte diese im Juni 2019 jedoch ein. Dagegen wehrten sich Angehörige der ums Leben gekommenen Personen und erhoben Beschwerde beim Bündner Kantonsgericht. Dieses wies die Beschwerde im Januar 2020 ab.
Daraufhin zogen die Angehörigen den Fall vor Bundesgericht. Im Februar 2021 hiess dieses die Beschwerde gut und gab den Fall zur erneuten Beurteilung an die Bündner Justiz zurück. Die Richter aus Lausanne bemängelten, dass sich Staatsanwaltschaft und Kantonsgericht auf den Bericht des kantonalen Amtes für Wald und Naturgefahren abgestützt hätten, an dem Personen mitgearbeitet hatten, die im Strafverfahren als Beschuldigte in Frage kämen. Den Bericht hatte die Staatsanwaltschaft selbst angefordert. Erforderlich sei jedoch ein unabhängiges Gutachten, befand das Bundesgericht.
Seither wird nun nach einem unabhängigen Experten gesucht. Einen durch die Staatsanwaltschaft vorgeschlagenen Gutachter akzeptierte das Kantonsgericht gemäss Medienberichten im Februar 2023 nicht, womit es zu weiteren Verzögerungen kommt. Es ist den direkt Betroffenen geschuldet, dass dieses Verfahren fair und zügig vorangetrieben und so rasch wie möglich abgeschlossen wird.
Das Bergell – im Schnittpunkt der Sprachen
Die enge Talstelle bei Promontogno wird auch als «porta» bezeichnet. Sie teilt das schweizerische Bergell in zwei Teile – in «Sopraporta» und «Sottoporta». Die «porta» widerspiegelt sich auch im Bargaiot, dem im Tal gesprochenen Dialekt. So heisst etwa der Brunnen unterhalb der porta «funtäna» (fontana), während er oberhalb als «brona» bezeichnet wird. Im Südwesten wird italienisch gesprochen, im Nordosten deutsch und romanisch. In der Kontaktzone der drei Sprachen entstand das Bargaiot.