Marokko kann auch hier sein
Das Erdbeben in Marokko, das im Jahr 2023 über 2900 Tote nach sich zog, hatte eine Magnitude von 6.8. Die Schweizer Gesellschaft für Erdbebeningenieurwesen und Baudynamik ging auf Erkundung, um Bauschäden zu untersuchen und daraus Lehren und Wissen für die Schweiz zu generieren.
Die Provinz Al Haouz in Marokko gilt als Gebiet geringer bis mittlerer seismischer Aktivität. Und doch bebte die Erde in der Nacht des 8. Septembers 2023. Auch in der Schweiz können Erdbeben dieser Grössenordnung auftreten. Ein Grund mehr, ein Augenmerk auf solche Naturgefahren zu legen und sich als Wissenschaftlerin und Ingenieur ein Bild vor Ort zu machen.
Marokko weist ein komplexes tektonisches Gefüge auf, das durch die Wechselwirkungen zwischen Rif, Atlasgebirge und Anti-Atlas geprägt ist. Das Land erlitt in der Vergangenheit mehrere starke Erdbeben, wie zum Beispiel in Fez (1624) oder Agadir (1731 und 1960). Die Such- und Rettungsaktionen waren während der Erkundungsmission im November 2023 bereits abgeschlossen, die Strassen von Trümmern befreit und in Marrakesch wurde nach der Sicherung der betroffenen Gebäude durch Sofortmassnahmen bereits mit dem Wiederaufbau begonnen.
Die meisten besichtigten Gebäude in Marrakesch und in den ländlichen Gegenden des Atlas waren traditionelle Bauten. Sie bestehen aus Lehm- oder Natursteinmauerwerk oder einer Kombination aus beiden. Diese Gebäude haben in der Regel ein bis drei Stockwerke und verfügen meist über traditionelle Holzböden. Die Tragwerke vieler Gebäude wurden durch Umbauten, etwa mit Stahlbeton, im Laufe der Zeit mehr oder weniger stark verändert und weisen daher eine erhöhte seismische Verletzbarkeit auf.
Natursteinmauerwerk
Die besichtigten Wohngebäude aus Natursteinmauerwerk verfügen über kleine Räume, Fenster- und Türstürze bestehen aus Holz. Das Mauerwerk aus mehreren Lagen unregelmässiger Steine in unterschiedlicher Grösse und Form ist oft mit Lehmmörtel verfugt.
Die Erdbebennorm RPCTerre für Marokko trat erst 2011 in Kraft. Viele Gebäude sind daher ohne Grundlagen aus dieser Norm erstellt, traditionelle Gebäude teils gänzlich ohne ingenieurmässige Planung oder Qualitätsprüfung der eingesetzten Materialien. Solche Natursteinbauweisen weisen keine erdbebengerechten Konstruktionsmerkmale auf, sodass die charakteristischen Schadensmuster und Versagensarten beobachtet werden konnten.
Dazu gehören vertikale Risse zwischen orthogonalen Wänden, die auf eine unzureichende Verzahnung zurückzuführen sind, die Ablösung von Wandschichten und das Kippen aus der Ebene. Die Decken sind in ihrer Ebene weich und mit den Wänden mangelhaft verbunden. Daher stabilisieren die Decken die Wände nicht und tragen zusätzlich zu deren Einsturz bei.
Lehmbauten
Stampflehm und Lehmziegelmauerwerk sind zwei Baumaterialien, die in den untersuchten Gebieten häufig verwendet werden, oft auch in Kombination mit Naturstein, wodurch eine gewisse Heterogenität entsteht. Der untere Teil des Erdgeschosses besteht in der Regel aus Natursteinmauerwerk, zum Schutz vor aufsteigender Feuchtigkeit. Vertikale Risse zwischen rechtwinklig aneinandergrenzenden Wänden waren auch hier eines der am häufigsten beobachteten Schadensmuster.
Die Zugfestigkeit der Lehmbauteile reichte nicht aus, um die horizontale Last von der aus ihrer Ebene heraus belasteten Wand auf die orthogonale Wand zu übertragen. Der Übergang zwischen verschiedenen Materialien oder die Fugen zwischen Stampflehmblöcken erwiesen sich bei den meisten der untersuchten traditionellen Lehmbauten als Schwachstelle. Wenn die Verzahnung an den Ecken selbst und die Zugfestigkeit der Lehmbauteile ausreichten, um vertikale Risse zu vermeiden, traten die Risse in den etwas von der Ecke entfernten Fugen auf. Das Umkippen von Wänden war ebenfalls eine häufige Versagensart bei Lehmbauten. Schubrisse in der Ebene wiesen dagegen nur wenige Gebäude auf.
Marrakeschs Kulturerbe
Die Medina (Altstadt) von Marrakesch ist UNESCO-Weltkulturerbe und ein einzigartiges Konglomerat aus Baustilen und Gebäuden. Nicht nur die eigene Struktur und das Material einer Baute bestimmt hier ihre seismische Verletzbarkeit. Auch die Position eines Hauses innerhalb des Gebäudeblocks, die geometrischen und strukturellen Merkmale der angrenzenden Bauten und die Verbindungen zwischen ihnen spielen eine wichtige Rolle. Eine häufige Schadenstypologie in der Medina war das Einstürzen von Fassaden.
Sakralbauten wie die besichtigten Moscheen weisen architektonische Merkmale wie Bögen, Kuppeln, Gewölbe, Türme, Minarette, Arkaden und Strebepfeiler auf. Diese strukturelle Komplexität macht sie bei einem Erdbeben sehr verletzlich. Die grösste Moschee der Stadt ist die Koutoubia-Moschee aus dem 12. Jahrhundert. Sie wurde hauptsächlich aus Ziegeln gebaut, Teile der Aussenwände bestehen aus Sandstein. Das 77 m hohe Minarett aus Bruchsandsteinmauerwerk hat eine quadratische Form und ein Verhältnis von Höhe zu Breite von etwa 5 zu 1.
Nach dem Beben stellte man Risse im oberen Teil des Minaretts fest, worauf der Turm mit Stahlverstrebungen stabilisiert wurde. Damit versucht man, das Umkippen der Wände bei einem erneuten Beben zu verhindern. Auch Brüstungen wurden gegen ein Kippen aus der Ebene stabilisiert und Abstützungen sichern einige Aussenwände der Moschee.
Relevanz für die Schweiz
Trotz grossen Unterschieden zwischen der marokkanischen und der schweizerischen Bausubstanz lassen sich aus den Beobachtungen auch Erkenntnisse zur Verwundbarkeit der Gebäude hierzulande gewinnen. Die Schäden an den umgebauten Gebäuden zeigen die Anfälligkeit und Komplexität von Aufstockungen. Die Beobachtungen zum Versagen natürlicher Materialien wie Mauerwerk und Lehm sind hinsichtlich des nachhaltigen und ökologischen Bauens relevant. Und auch historische Gebäude mit ihren schlanken Fassaden oder Türmen sind seismisch anfällig. Ob Minarett in Afrika oder Kirchturm in Europa – ein Erdbeben macht keinen Unterschied. Höchstens die Bauweise.
➔ Der vollständige Bericht über die Erkundungsmission ist in französischer Sprache erschienen:
M. Beqiraj, G. Cortés, M. Devaux, A. Imtiaz, E. Lattion, S. Saloustros, H. Sehaqui et Y. Zhu, Rapport de la mission de reconnaissance SGEB, Séisme du 8 septembre 2023, Al Haouz, Maroc, SGEB 2024.