Das Sys­tem Hen­ne­bi­que

Die Grundidee seiner Bauweise liess der französische Ingenieur François Hennebique (1842–1921) im Jahr 1892 patentieren. Sie bestand darin, standardisierte Bauteile wie Rippendecken, Stützen, Wände und Balkone zu einem monolithischen Bauwerk zusammenzugiessen.

Publikationsdatum
20-11-2013
Revision
01-09-2015
Eugen Brühwiler
Lehrstuhl für Erhaltung, Konstruktion und Sicherheit von Bauwerken, ETH Lausanne (EPFL)

Joseph Monier gilt zwar als Erfinder des Eisenbetons. Er hat ein formbildendes Drahtgeflecht als Bewehrung mit Beton umschlossen und unterscheidet sich somit vom System von François Hennebique, der gezielte einzelne «Einlagen in Form von Eisenstäben» in die Zugzonen eines monolithischen feingliedrigen Betontragwerks einlegte. Doch Hennebique war mit seiner Vision dem heutigen Stahlbeton viel näher als Monier. Trotz dieser unterschiedlichen Bauweisen erklärte man 1903 das Hennebique’sche Patent von 1892 für ungültig, um dem älteren Patent von Joseph Monier von 1878 den Vorzug zu geben.

Die Hennebique’sche Bauweise mit Eisenbeton wird wie folgt treffend wiedergegeben: «Aucune innovation dans l’art de construire n’a soulevé de problèmes plus complexes que l’emploi simultané du fer et du béton de ciment, et il fallait être libre de tout préjugé académique pour oser lancer un composé si hétérogène.»Dieser Eisenbeton von Hennebique wurde für maximal zulässige Spannungen im Gebrauchszustand von 100N/mm2 im Eisenstab und 3N/mm2 im Beton bemessen. Jedoch war die von ihm verwendete Bemessungsmethode nicht korrekt, was den damaligen ETH-Professor Wilhelm Ritter veranlasste, einen auch aus heutiger Sicht bemerkenswerten, grundlegenden Aufsatz über den Eisenbeton zu verfassen2, in dem auch die Methode zur Ermittlung des Schubwiderstands von Balken mit Hilfe der Fachwerkanalogie beschrieben wird.

Hennebique erfand die gerippte Plattendecke und eroberte den Hochbau, indem er mit einer Organisation von Lizenznehmern in einem eigentlichen «Feldzug» seine Technologie vor allem im französischsprachigen Raum Europas, aber auch in Italien oder England rapide verbreitete.3  In der Westschweiz weisen viele Hochbauten aus der Zeit von 1900 bis 1920 Hennebique-Decken auf. Das monolithische Tragwerkskonzept war innovativ und vermag weiterhin die Betonbauweise unter dem Begriff «integrale Tragwerke» zu beleben. Der Eisenbeton von Hennebique (und anderer grosser Eisenbetonbauer vor allem in Deutschland) unterscheidet sich von der Stahlbetonbauweise ab den 1950er-Jahren vor allem durch die Bewehrungsanordnung und die Bauteilabmessungen.

Geschichtlicher Überblick

Der Hennebique’sche Eisenbeton begann mit dem Bau eines Wohnhauses in Belgien im Jahre 1879, wo Hennebique zur Verbesserung des Brandschutzes die Deckentragbalken aus Eisen mit Beton ummantelte. Dabei entdeckte er, dass dieses Deckensystem wirtschaftlicher wäre, wenn der Stahl einzig in den Zugzonen eingesetzt und in den Druckzonen ausschliesslich auf die Festigkeit des Betons gesetzt würde.

Im Jahr 1892 baute Hennebique das erste Wohnhaus aus Eisenbeton in Paris, in das er zusammen mit seinem Planungsbüro unter dem Slogan: «Nie mehr Brandkatastrophen» einzog. Er hatte die Vision, seine innovative Technologie mithilfe von gezielter Information, Fotografien und Ausstellungen systematisch zu verbreiten und die Anwendung durch eine Organisation von regionalen Baufirmen als Lizenznehmer seines Patents von 1892 zu multiplizieren. Auf diese Weise realisierte er zwischen 1892 und 1902 mehr als 7000 Bauwerke in Eisenbeton nach seinem System, darunter Hochbauten, Wassertürme und Brücken. Die meisten dieser Bauwerke wurden von den lizenznehmenden Baufirmen gebaut. Hennebique selbst hatte nur wenige Bauwerke selbst entworfen und gebaut. Mit dem System Hennebique wurde erstmals ein ingenieurmässiges Vorgehen eingeführt, das eine breite industrielle Produktion von Bauwerken ermöglichte.

Während in Deutschland und Österreich das Bausystem Monier angewendet wurde, fand in der Schweiz – herkommend von Frankreich und Belgien – das System Hennebique seine Anwendung. Die ersten sieben Bauwerke in Hennebique’scher Bauweise in der Schweiz datieren von 1894. Danach nahm die Anzahl schnell zu und erreichte 85 im Jahr 1898 (26 Wohnhäuser, 15 öffentliche Bauwerke, 36 Industriebauten und acht Brücken und Reservoirs). Sie wurden von Samuel de Mollins, einem Lausanner Ingenieur, Unternehmer und dem Generalvertreter des Hennebique’schen Patents für die Schweiz, gebaut.

Die in den Jahren 1894–95 gebauten Lagerhallen im Stadtteil Flon in Lausanne waren damals die grössten Hochbauten in der Schweiz. Die beiden ersten Eisenbetonbrücken in der Schweiz waren Bahnbrücken: ein 1894 gebauter Bachdurchlass in Wiggen im luzernischen Entlebuch als 2m gespannte Platte und der 4.1m gespannte Plattenbalken der 1896 gebauten Strassenunterführung Creux-du-Mas in Rolle VD. 

Anmerkungen

  1. G. Delhumeau, J. Gubler, R. Legault, C. Simonnet, Le béton en représentation – la mémoire photo­graphique de l’entreprise Hennebique 1890–1930, Institut Français d’Architecture, Editions Hazan, Paris 1993.
  2. W. Ritter, «Die Bauweise Hennebique», Schweizerische Bauzeitung, 33/34 (1899), S. 41–43. Nr. 5–7.
  3. A. Hellebois, Theoretical and experimental studies on early reinforced concrete structures. Contribution to the analysis of the bearing capacity of the Hennebique system, Doctoral Thesis, Ecole polytechnique de Bruxelles, Belgien, 2013.
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