«In der Bau­bran­che wer­den Feh­ler zu schnell per­so­ni­fi­ziert»

Die Planungs- und Baubranche tut sich schwer, offen über Qualitätsmängel, Risiken oder Fehler zu sprechen. Eine Ausnahme ist Jörg-Martin Hohberg, der sich mit über 40 Jahren Berufserfahrung, und mittlerweile einem Bein im Ruhestand, für eine offene Fehlerkultur einsetzt.

Publikationsdatum
27-09-2023


Aus Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit – sei es als planender oder beratender Ingenieur, als Qualitätsmanager oder als ISO-9001-Auditor – kennen Sie das Bauingenieurwesen aus verschiedenen Perspektiven und beschäftigen sich intensiv mit den Themen Qualität, Risiko und Fehler. Wie steht es darum in unserer Branche?

In der Schweiz ist die Zusammenarbeitskultur grundsätzlich intakt, doch international klagt die Branche über eine unfaire Risikoüberwälzung und steigende Prämien bei den Berufshaftpflichtversicherungen. Man merkt aber auch bei uns, dass Kosten und Termine im Vordergrund stehen und die Qualität stillschweigend vorausgesetzt wird. Mit den sinkenden Honoraren steht das Bauingenieurwesen vermehrt unter Druck, was sich mittlerweile auch im Nachtragswesen äussert. Generell scheint mir das Bauwesen zu sehr auf das eigene Image bedacht, um offen über Risiken oder Fehler zu sprechen – oder die Beteiligten haben Angst, Argumente für Unternehmernachträge oder Haftungsansprüche zu liefern. Dabei wäre der offene Austausch enorm wichtig, um unsere Baukultur im partnerschaftlichen Sinne zu erhalten. Sonst haben wir bald Zustände wie in Deutschland, wo in Grossprojekten Bauherrschaft und Bauunternehmer ihre Juristen an die Bausitzung mitbringen. In der Schweiz habe ich dies erst einmal erlebt, als sich Bestellungsänderungen mit Unternehmer­fehlern überlagerten, die mit dem Bauherrn verschwisterte Bau­leitung keine Verantwortung übernahm und der Jurist des Bauherrn noch Öl ins Feuer goss.


Welche Rahmenbedingungen braucht es denn für eine qualitätsvolle Zusammenarbeit?

In erster Linie braucht es die Möglichkeiten, sich des Qualitätsthemas überhaupt anzunehmen, und zwar im Sinne der Produkt- und der Ablaufqualität. Damit meine ich einerseits Honorare, die einen nicht zu unrealistisch hoher Produktivität und Einsparungen bei Erfahrungsaustausch und Weiterbildung zwingen. In den 1990er-Jahren lag der Stundenmitteltarif eines Planungsteams bei rund 110 Fr. Aktuell liegt er bis zu 40 Fr. tiefer. Das hat nicht nur mit der Konkurrenz auf Auftragnehmerseite zu tun, sondern auch mit der Haltung der Auftraggeber: Sie wollen sich durch Wegbedingung von Bedenken und Einrechnung sämtlicher Zusatzaufwendungen (Qualitätssicherung, interne Sitzungen, Fahrzeiten usw.) absichern, anstatt Risikominderung offen zu diskutieren und zu honorieren.
Andererseits werden Sen­sitivitätsuntersuchungen, interne Koreferate und die Ausarbeitung eines projektbezogenen Qualitätsmanagements (PQM) so weit herunter­gefahren wie noch verantwortbar. Daneben wird beispielsweise behauptet, BIM amortisiere sich von selbst; dabei haben die Planenden in der Regel den Anlauf­aufwand, während die Bauherrschaft – zumindest bei Weiter­verwendung des digitalen Modells in der Betriebsphase – den Hauptnutzen davonträgt.


Was unterscheidet die Baubranche von anderen Branchen im Umgang mit Unsicherheiten, menschlichem Versagen und Fehlern?

Zunächst einmal der monokausale Umgang: In der Baubranche werden Fehler zu schnell personifiziert. Das wäre, wie wenn der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, stets an allem Schuld ist. In der Planung – als Form einer intellektuellen Dienstleistung – will man primär die betroffenen Mitarbeitenden aus der Schuss­linie nehmen, womit das Interesse an einer multifaktoriellen Ursachenforschung bereits erlischt. Zugleich ist man auch mit Lob und dem Feiern von Erfolgen zurückhaltend. Andere Branchen wie die IT sind sich der Bedeutung der Teambildung be­wusster und reagie­ren auf Fehler objektiver und systematischer, wie zum Beispiel mit dem 8D-­Report in industriellen Lieferketten.
Das SIA-Merkblatt 2007 versuchte eine ­gemeinsame Risikoanalyse mit Qualitätssicherungsvereinbarung auf Augenhöhe zu etablieren, doch dieser partnerschaftliche Ansatz hat sich bisher nicht durchgesetzt. Vielleicht ist der Untertagebau wegen seiner geologischen Risiken noch derjenige Bauzweig, wo eine faire Risiko­zuteilung – nämlich an diejenige Partei, die zum Handeln am besten in der Lage ist – zu finden ist. Sei es vorsorglich im Sinne einer Investition (zum Beispiel in einen Erkundungsstollen) oder in der Ereignisbewältigung.


Welche Rolle spielt der digitale Wandel?

Er führt dazu, dass ältere und erfahrene Planerinnen und Planer die jüngeren Mitarbeitenden, die mit PC und Internet auf­gewachsen sind, unbesehen mit digitalen Hilfs­mitteln arbeiten lassen, die sie selbst kaum beherrschen, während die jungen Anwender die Gesamtproblematik nicht überblicken oder die Berechnungsergebnisse nicht zu hinterfragen verstehen. Ich nenne das die «doppelte Blackbox»: Der Chef kennt das Tool nicht und der Anwender vielleicht das Tool, aber die Problemstellung nicht. Dies ist eine Facette des Produktivitätsdrucks, bei dem die Chefs als Schlüsselpersonen in Projekten notorisch überlastet sind und zu wenig Kapazität zur Einarbeitung und Beaufsichtigung des Nachwuchses haben.
Diese Situation ist vielerorts in Planungs­büros anzutreffen und selbstverständlich eine Fehlerquelle. Mit Verweis auf ausgereifte Computerprogramme wird an manchen Fachhochschulen zudem die Kürzung klassischer Grundlagenfächer wie Mechanik und Statik zugunsten von Projekt­management und Nachhaltigkeit erwogen. In Deutschland mit hohen Abiturienten- und Studien­abbrecherzahlen ist dies bereits der Fall. Heilsam wäre mehr Unterricht in Bau- und Technik­geschichte mit herausragenden Irrtümern und Schadensfällen.
Damit die Anwendung von Berechnungstools, die scheinbar leicht zu bedienen sind, aber komplexe Theorien enthalten, nicht zur Falle wird, braucht es in einer Firma einen ausgewogenen Mix zwischen Mitarbeitenden, die ein Projekt leiten, und solchen, die es fachlich betreuen können. Also eine HR-­Politik, die neben der Hierarchie- und Projektleiterkarriere auch Fach­spezialisten fördert. Wissens­management ist ein elementarer Pfeiler von Bauqualität.


Können einschlägige Normen, Managementansätze, Organisa­tionsformen oder institutiona­lisierte Prüfprozesse einen Beitrag leisten, um diesen Themen Beachtung zu schenken?

Leider sehen wir einen Rückgang der Qualitätsmanage­mentzertifizierung im Bauwesen, nicht so sehr bei den Planungs­büros, aber bei den öffentlichen Bauherren und den Bauunternehmungen. Auch das PQM wird nur noch von wenigen gepflegt. Ich denke, die Eurocodes 2nd Gene­ration gehen mit ihrem risiko­basierten Ansatz absolut in die richtige Richtung – denn man kommt leichter auf mögliche Fehler zu sprechen, solange sie noch nicht passiert sind.
Managementansätze wie Lean Construction sind ein Mittel, um die gemeinsam zu erreichenden Ziele in den Vordergrund zu stellen und vonseiten der Bauausführung nach dem Pull-Prinzip Anforderungen an die Planer zu formulieren. Das kann der Qualität sehr zuträglich sein. Projektallianzen bieten eine Möglichkeit, Gefahren und Chancen offen zu diskutieren, ihre Beobachtung dem richtigen Akteur anzuvertrauen und den Schaden respektive Nutzen fair aufzuteilen. Der Auftraggeber muss sich ohnehin an den Gedanken gewöhnen, dass es sinnvoller sein kann, wenn er bestimmte Risiken selbst trägt, anstatt sie auf einen Auftragnehmer abzuwälzen, der sie entweder übervorsichtig einpreist oder zu wenig zu deren Bewältigung tut.
Externe Prüfungen sind meines Erachtens sehr wichtig, jedoch in der Schweiz nicht von allen Teildisziplinen gleich gut akzeptiert. Beispielsweise stossen fachliche Prüfungen im Hochbau nach wie vor auf grossen Widerstand, während sie im Infrastrukturbau als Ausprägung der technischen Bauherrenunterstützung gang und gäbe sind. Peer Reviews können zudem eine Form von Value Engineering sein, indem Gelegenheiten für ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis des Projekts (allenfalls dank zusätzlicher Investition oder alternativer Bauverfahren) aufgedeckt und genutzt werden.
Generell scheint mir wichtig, dass Raum für regelmässige Manöverkritik und Projektreviews geschaffen wird – in welcher Form auch immer. Dazu gehören nicht nur der Umgang mit Unsicherheiten und die Bewältigung von Risiken, sondern auch das Feiern gemeinsamer Zielerreichung und die Wertschätzung – also ein gemeinsames Lernen aus Erfolgen und Misserfolgen.


Wie wichtig ist der offene Erfahrungsaustausch über Plattformen wie beispielsweise Collaborative Reporting for Safer Structures (CROSS)?

Lessons learned werden leider zu selten publiziert. CROSS-US/UK funktioniert anonym; das heisst, man kann Missstände in Planung oder Ausführung melden, ohne sich dabei exponieren zu müssen. Die Meldestelle erarbeitet daraus Merkblätter und Warn­hinweise.
Leider bringt auch TEC21 primär Erfolgsmeldungen, statt solche Themen anzusprechen. Deswegen erhielten Sie auch meine Zuschrift zu Einbrüchen beim Ceneri-Basistunnel, wie sie im Untertagebau immer wieder vorkommen können, über die Projektleitungen aber gerne schweigen. Ein weiteres Beispiel ist das Themenheft über die Sunnibergbrücke aus dem Jahr 1998, in dem kein Wort zum übersehenen Deformationsproblem der Ablenkkräfte an den Pylonen zu finden war.
Es gab durchaus gute Ansätze zu einer integralen Risikodiskussion: etwa die Norm SIA 465 Sicherheit von Bauten und Anlagen, die aber stillschweigend wieder beerdigt wurde aus der Befürchtung heraus, die Planenden würden über Gebühr für (Arbeits-)Unfälle in Bau und Betrieb haftbar gemacht. Aus demselben Grund heisst heute der frühere «Sicherheitsplan» nach SIA 160 nur noch «Projektbasis», weil die Planerverbände befürchteten, dass damit das vorausschauende Erkennen zukünftiger Sicherheitsrisiken an die Stelle der anerkannten Regeln der Baukunde treten würde; notabene ohne zusätzliche Honorierung der Haftungsrisiken.
Ich denke, vieles was in den 1990er-Jahren bei Prof. Jörg Schneider und in den 2000er-­Jahren bei Prof. Michael Faber an der ETH gelehrt wurde, war sehr wertvoll. Auch bedaure ich das stille Verschwinden des branchenübergreifenden Nachdiplomstudiums zu Gefahren und Risiken, das früher von EPFL und ETH Zürich gemeinsam angeboten wurde. Dabei wäre gerade die Frage der Entscheidung unter Unsicherheit («decision theory») so wichtig für unseren Beruf und insbesondere für den Ingenieurnachwuchs. Nicht so sehr in ihrer hochgezüchteten probabilistischen Variante als vielmehr bezüglich Ursachen- und Wir­kungs­bäumen, flankierenden Massnahmen, Mut zur Entscheidung – und Lernen aus Fehlern.


Kommende Veranstaltung und Links zum Thema


J.-M. Hohberg: Forensic engineering and anonymous reporting of profes­sional mistakes – learning from other branches of risky industries. World Engineers Convention, Prag, 11.–13.10.2023, www.wec2023.com


CROSS-UK: cross-safety.org/uk
IVBH e-Learning-Plattform mit einigen forensischen Fallbeispielen: iabse.org/elearning

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