Die Bücherscheune
Wie selbstverständlich fügt sich die neue Bücherei in das Ortsbild der nordbayerischen Gemeinde Gundelsheim. Ein bestehendes Bauernhaus ergänzten Schlicht Lamprecht Architekten mit zwei einfachen Volumina in Holzbauweise. Das stimmige Ensemble knüpft an die traditionelle Typologie an, wahrt die Massstäblichkeit und variiert die Haus-im-Haus-Idee.
Gundelsheim, eine Gemeinde im deutschen Oberfranken mit rund 3'600 Einwohnern unweit von Bamberg, ist noch von seiner Struktur als Angerdorf geprägt – dies, obwohl viele der giebelständigen, kleinen Bauernhäuser durch Umbauten verunklärt wurden. Städtebauliche Fördermassnahmen und das Engagement des Bürgermeisters Jonas Merzbacher für qualitätvolle Architektur haben in den vergangenen Jahren jedoch die Innenentwicklung gestärkt.
Im Zug der Neugestaltung des historischen Ortskerns wurden das Alte Rathaus saniert und ein Dorfplatz angelegt, der sich zwischen der Kirche und dem idyllischen Leitenbach erstreckt. Seit Oktober 2020 ist auch die gegenüberliegende neue Gemeindebücherei ein weiterer gelungener Baustein der Dorfmitte.
Für den Umbau eines ortsbildprägenden Bauernhauses aus dem 19. Jahrhundert zur neuen Bücherei initiierte die Gemeinde 2016 einen eingeladenen Ideen- und Realisierungswettbewerb mit sechs gewählten Teilnehmern, darunter explizit auch kleinere und jüngere Architekturbüros, die bei üblichen Vergabeverfahren in Ermangelung ähnlicher Referenzprojekte chancenlos gewesen und bereits vorab nicht ausgewählt worden wären.
Den ersten Preis gewann der Entwurf von Schlicht Lamprecht Architekten aus Schweinfurt, die in der Region bereits mit beispielhaften Projekten auf sich aufmerksam gemacht haben. Die Qualität und das Potenzial des Bestands, das Weiterschreiben vorhandener Strukturen und die Verknüpfung mit dem Umfeld sind für Stefan Schlicht und Christoph Lamprecht wesentliche Grundlagen ihrer Konzeptionen, die sie in ihrer Beratertätigkeit für Ortskerne kleinerer Kommunen den dortigen umbauwilligen Eigentümern empfehlen und die sie ebenso auch in ihren Bauten umsetzen – wie hier in Gundelsheim.
Zeitgenössische Scheune
Die Bestandsbauten riefen bei den Architekten den «vertrauten Dreiklang eines typisch fränkischen Bauernhauses, Haus – Stall – Scheune» hervor, wie Stefan Schlicht erläutert: «Da die Scheune nicht mehr existierte und die Zweiseitstruktur aufgelöst war, kam uns unmittelbar die Idee, diese historische Struktur durch einen Neubau wiederherzustellen und so die Lücke in traditioneller Weise zu vervollständigen, die typische Ortstruktur zu reparieren.»
Allerdings interpretieren die Architekten die vormals hintereinander angeordneten Gebäude des Gehöfts neu: Anstelle eines grossen Volumens teilten sie den Anbau in zwei gleich grosse, nebeneinanderliegende scheunenförmige Baukörper, die als Doppelgiebel an der Rückseite des Bestandswohnhauses anschliessen. So ist die Massstäblichkeit gewahrt, und zudem verbleibt auf der Rückseite ausreichend Fläche für eine künftige Wohnbebauung, strassenseitig entsteht ein grosszügiger und einladend gestalteter Vorplatz.
Der Bezug zur Scheunen-Typologie zieht sich durch den gesamten Entwurf. So sind die beiden neuen Anbauten in Holzbauweise errichtet, und die schmalen Leisten aus thermisch behandeltem, vorvergrautem Eschenholz an Fassaden- und Dachflächen interpretieren einfache Bretterschalungen neu. Durch die mit Abstand gesetzten Lamellen strömt Tageslicht über die Giebelseiten ins Innere und ermöglicht Ein- und Ausblicke, während die geschlossene Bekleidung die Form eines kleineren Hauses nachzeichnet: Hier ist der Ausleih- und Nebenraumbereich ablesbar, der als separater Baukörper eingefügt ist.
In grossen Scheunen befanden sich schon von jeher an den Längsseiten abgeteilte Lagerräume oder kleine Schuppen – die Architekten entwickelten dies weiter zur Haus-im-Haus-Idee. Das Konzept zieht sich in unterschiedlichen Variationen als roter Faden durch den Entwurf und schafft interessante Raumkonstellationen unter den hohen Satteldächern.
Lichterfüllte Innenräume
In Analogie zu Scheunentoren führen die mittig platzierten Eingangstüren direkt und ohne Windfang in den grosszügigen, bis unter das Dach offenen Hauptraum der Bibliothek. Der lichtdurchflutete Saal wird von Holzstützen und dem liegenden Dachstuhl geprägt. Den teils grossflächig verglasten, teils opaken Giebelseiten ist die luftige, fast spalierähnliche Hülle aus Holzlamellen vorgeblendet. Sie filtert das Licht und belebt mit ständig verändernden Schatteneffekte den Raum; firstnahe Oberlichter erhellen den Raum zudem in seiner gesamten Länge.
Auf der Westseite erstreckt sich das homogen mit Holz bekleidete «kleine Haus» mit Bücherausgabe und Nebenräumen. Auf der gegenüberliegenden Seite schliesst der ehemalige Stall an, der als Haus-im-Haus im zweiten «Scheunen»-Volumen integriert ist. Seine nun weissgeschlämmten Ziegelfassaden blieben ebenso erhalten wie die preussische Kappendecke, die partiell geöffnet wurde, um Durchblicke zur neuen Galerie zu schaffen. Sie dient als Rückzugsort und für konzentriertes Arbeiten, wofür die Architekten entlang der Galeriebrüstung einen passenden Tisch entwarfen.
Bis unter die Dachflächen öffnet sich auch der dritte Bereich der Bücherei, das Bestandsgebäude. Da im ehemaligen Wohnhaus die Zimmerstruktur zu kleinteilig, die Decken zu niedrig und die Tragstruktur wegen fehlender Fundamentierung beschädigt waren, wurde es komplett entkernt. Ein weiteres Haus-im-Haus, dessen Stahlrahmen zugleich der Aussteifung des Bestands dienen, nimmt die Kinderbibliothek auf und strahlt mit warmen Oberflächen aus gebürsteter Fichte eine Atmosphäre der Geborgenheit aus.
Kulturbau – Baukultur
Um ein stimmiges Gesamtkonzept mit durchgängiger Qualität bis ins Detail zu realisieren, entwarfen Stefan Schlicht und Christoph Lamprecht auch den gesamten Innenausbau bin hin zu Mobiliar, Leitsystem und Beschriftung. Die Bücherregale sind dabei dank ausfahrbarer Rollen mobil und ermöglichen die flexible Nutzung der Bereiche – der Hauptraum steht so auch für Lesungen, Vorträge oder Versammlungen zur Verfügung.
Mit ihrer Vielfalt an Medien und räumlichen Angeboten ist die Bücherei ein Ort für alle Generationen, der zum Lesen einlädt, an dem man sich trifft und austauscht, arbeiten kann oder eine Veranstaltung besucht. Darüber hinaus zeigt das Projekt beispielhaft, wie revitalisierte Bestandsbauten das (oftmals seiner Funktionen beraubte) Zentrum einer Gemeinde aufwerten und stärken können und auf welche Weise man junge Büros in Planungsaufgaben einbeziehen kann. So entsteht lokale Identität durch qualitätvolle Architektur, die gerade auch im ländlichen Raum eine Vorbildfunktion hat.
Ende Juli 2021 erhielt die Bücherei im Rahmen des «Bauen im Bestand»-Preises der Bayerischen Architektenkammer den Hauptpreis in der Kategorie «Gebäude vor 1900 errichtet». Hier gehts zum Film über das Projekt.
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Gemeinde Gundelsheim
Förderung/Unterstützung
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Bayerisches Staatsministerium
für Wohnen, Bau und Verkehr, Regierung von Oberfranken (Städtebauförderungsprogramm und Investitionspakt «Soziale Integration im Quartier»); Oberfrankenstiftung; Sankt Michaelsbund (finanzielle Förderung und fachliche Beratung bei der Zusammenstellung und Präsentation der Medien)
Architektur
Schlicht Lamprecht Architekten, Schweinfurt
Tragwerksplanung
Tragraum Ingenieure, Bamberg
HLS-Planung
Ecoplan Projekt, Bamberg
Elektroplanung
Planungsbüro Pabst, Bamberg
Zimmermannsarbeiten
Zimmerei Bauer, Burgkunstadt
Dach (Neubau)
Lummel, Karlstadt
Schreinerarbeiten
Möbelwerkstätte B. Aumüller, Burgebrach
Estricharbeiten
Fa. Terrazzobeton, Hammelburg
Aussen-/Innenputz
Christoph Neukam Malerbetrieb, Gundelsheim
Facts & Figures
Wettbewerb: 2016
(Einladungswettbewerb im Rahmen des Bund-Länderprogramms der Städtebauförderung «Stadt- und Ortsteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt», in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Architektenkammer)
Bauzeit: 2018 bis 2020
Fläche: 300 m2 Nutzfläche, 20 m2 Technik