Die Stim­me des Meis­ters

Louis Kahns Vorlesung an der ETH Zürich 1969

Louis Kahns Projekte sind breit publiziert. Der Entwurfsprozess mit zahlreichen Skizzen, Studienmodellen und das gesamte Planmaterial sind chronologisch dokumentiert.¹ Und die aktuelle Ausstellung im Vitra Design ­Museum in Weil am Rhein erinnert noch bis zum 11. August 2013 an die komplexen Zusammenhänge zwischen dem philosophischen Denken und dem konkreten Schaffen des Baukünstlers.

Publikationsdatum
16-07-2013
Revision
28-10-2015

Kaum möglich war es dagegen bisher, seine Stimme zu hören und die bedeutungsvolle Vorlesung «Silence and Light» nachzulesen, die er am 12. Februar 1969 im Auditorium Maximum an der ETH Zürich hielt. Dieser Mangel ist nun behoben: Dem Architekten Alessandro Vassella ist es gelungen, Text und Ton der Vorlesung in einem ansprechenden Rahmen als Buch mit beigelegter CD ­wiederaufleben zu lassen.

Die Vorlesung war damals zugleich die Eröffnung der grossen Kahn-Ausstellung in der Haupthalle der ETH. Ausstellung und Vortrag waren auf Initiative von ETH-Professor Heinz Ronner zustande gekommen. Unterstützt ­hatte ihn der kürzlich verstorbene Adolf Max Vogt als Vorsteher des Instituts Geschichte und Theorie der Architektur gta und der damalige Ronner-Assistent Ralph Baenziger sowie der damalige Student Alessandro Vassella. Ebenfalls dabei war der damals noch wenig bekannte Mario Botta, der viele Skizzen und Kahns Venedig-Projekt eigenhändig von Venedig nach Zürich transportierte.

Das nun vorliegende Büchlein von Alessan­dro Vassella ist mit einem eindrücklichen ­Geleitwort seines ehemaligen Arbeitgebers Balkrishna Vithaldas Doshi versehen. Auch er ­sammelte persönliche Erfahrungen mit Kahn, für den er in Indien arbeitete. Der Text liegt auf Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch vor. Dank der beigelegten CD kann man «The Master’s Voice in the Lecture» authentisch mitverfolgen. Die Originalaufnahme stammt von Ralph Baenziger. Das Büchlein enthält einige Skizzen und philosophische Diagramme, die die damalige Stimmung im Hörsaal wiedergeben.

Erstaunlich ist, wie es Kahn in seiner Vorlesung gelingt, seine feinsinnigen metaphysischen Gedanken in die physisch-haptische Mate­rialität zu übersetzen: «Architektur hat keine Favoriten, keine Vorlieben im Entwurf, keine für Materialien, keine für Technologie. Sie sitzt einfach da und wartet auf ein Werk, um erneut die Wiederbelebung des Geistes der Architektur durch ihre eigene Natur zu zei­gen, von dem Menschen dann für viele Jahre leben können.»2 So beschreibt Kahn die eigen­ständige Präsenz und eigene Natur der Architektur und setzt sie in Beziehung zum grundlegenden Wissen, das in oder «über» jedem Menschen «schlummert» und das abgerufen, aktiviert oder erweckt werden kann.

Klassizismus und Moderne

Diese Sicht, die nicht unumstritten ist, versteht man besser, wenn man Kahns Hintergrund mit einbezieht. Er lernte und arbeitete bei Paul Philippe Cret an der Architektur­fakultät der Universität Pennsylvania. 

Cret war Absolvent der Pariser Ecole des Beaux-Arts. Nachdem er 1896 den «Prix de Rome» für den besten Studienabschluss und 1901 zusätzlich den «Prix Rougevin» der Ecole des Beaux-Arts erhalten hatte, ­erreichte ihn ein attraktives Angebot aus ­Philadelphia für eine Professur an der dortigen Architekturschule. Also zog er 1903 in die USA – anstatt drei Jahre in der Villa ­Medici in Rom zu verbringen. Er wurde zu einem der damals erfolgreichsten Architekten, u. a. für öffent­liche Repräsentationsbauten. In seinen Kursen studierte auch eine junge chinesische Diaspora, die Crets Beaux-Arts-Prinzipien später in chinesischen Grossstädten umsetzte.Doch einer seiner Studenten, der junge Louis Kahn, haderte mit dem damaligen Beaux-Arts-Eklektizismus – umso mehr, als ihn gleichzeitig die sachlich-mathematische Klarheit der Moderne und insbesondere Le Corbusiers faszinierte. 

So entwickelte er schliesslich eine eigen­ständige Haltung und eine Architektur, die eine Art «abgeschminkten Klassizismus» mit moderner Klarheit zu verbinden suchte. Ebenso wie für Le Corbusier die elementaren Körper – Würfel, Kugel, Kegel, Zylinder und Quader – grundlegende konstituierende Elemente der Architektur darstellten, bedeuteten ebendiese Körper für Kahn stilbildende und Stoffliches generierende Elemente, die jedoch erst unter dem Licht zu Form und Material werden: «Ich kann nicht genug über Licht sprechen, weil Licht so wichtig ist, weil in Wahrheit die Struktur die Erzeugerin des Lichts ist. Wenn Sie über die Struktur entscheiden, entscheiden Sie über Licht […] Das Gewölbe stammt von ihm, die Kuppel stammt von ihm […]»4

Anmerkungen

  1. Heinz Ronner, Sh. Jhaveri, Alessandro Vassella (Hg.): Louis I. Kahn. Complete Works 1935–1974. Basel, Boston 1987.
  2. Aus dem besprochenen Buch, S. 65.
  3. Zu Paul Philippe Cret: E. G. Grossmann (Hrsg.), «Louis Kahn and the French Connection», in: ­Oppositions, No. 22, 1980, S. 21 ff; Th. B. White (Hg.), Paul Philippe Cret. Architect and Teacher. Cranbury, New Jersey, 1973.
  4. Aus dem besprochenen Buch, S. 74.
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