Eine Brücke für mehr Platz
Neue Bahnstation Chur West, Querung Raschärenstrasse; offener Projektwettbewerb
Die RhB-Station Chur West soll nicht nur barrierefrei, sondern auch Teil des Entwicklungsschwerpunkts Chur West werden. Das Siegerprojekt des Wettbewerbs, ausgeschrieben durch die RhB und die Stadt Chur, hat das Potenzial, dem neuen Zentrum einen repräsentativen Charakter zu verleihen.
Der 20 Jahre alte Bahnhof Chur West der Rhätischen Bahn (RhB) soll gemäss Auflagen des Bundes bis 2023 behindertengerecht sein. Der dafür notwendige Umbau ist schwierig, denn der Bahnhof liegt in einer Kurve. Die Station gehört zudem zum Entwicklungsschwerpunkt Chur West – ein Arbeits- und Geschäftszentrum mit überregionalem Einzug. Man dachte das Projekt deshalb grossräumig und verlegte die Station näher zum Anschluss Chur Süd der A13. Die RhB und die Stadt Chur schrieben dafür einen Projektwettbewerb aus.
Teil des zweiten Stadtzentrums in Chur
Der neue Bahnhof befindet sich durch die Verschiebung um rund 250 m nach Westen neu über der Raschärenstrasse bzw. über der bestehenden Unterführung. Für eine optimale Anbindung des öffentlichen Verkehrs war eine neue Bushaltestelle zu planen, wobei die gesamte Umgebung als multimodale ÖV-Drehscheibe gedacht werden sollte. Für die Neugestaltung und Umnutzung muss die Unterführung um einen Meter abgesenkt, 15.5 m breiter ausgebaut und in Richtung Westen um etwa 45 m erweitert werden. Es soll ein neuer öffentlicher Raum entstehen – und ein etwa 65 m langes Gesamtbauwerk, das es passend in die Umgebung einzubetten gilt.
Die Aufgabe der Wettbewerbsteilnehmer bestand darin, die Tragkonstruktion dieser neuen Brücke aufzuzeigen, die Wahl des statischen Systems zu begründen und die baulichen Ausführungen zu erläutern. Ausserdem sollte das Projekt städtebaulich engebunden und so flexibel ausgestaltet sein, dass es auf künftige Veränderungen im umliegenden Stadtraum reagieren kann. Um ein Ergebnis zu erhalten, bei dem Tragwerk, Architektur und Kontext aufeinander abgestimmt sind, luden die Auslober interdisziplinäre Teams aus den Fachgebieten Bauingenieurwesen (Brückenbau), Architektur und Landschaftsarchitektur ein.
Fünf Eingaben – grosse Bandbreite
Die Projekteingaben unterscheiden sich im Tragkonzept, durch die ergänzenden Bauten, in den Wegführungen und vor allem in der Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Platzes unter der Brücke. Einerseits weist dieser Dimensionen von etwa 2 000 m² («ViLicht») bis zu grosszügigen 11 000 m² («WWW») auf. Andererseits übernahmen nicht alle Teams die Bauwerkslänge von 65 m, sondern variierten diese zwischen 30 m («Doppelspur») und 80 m («WWW»). Diese Abweichung von den Wettbewerbsvorgaben mit den entsprechenden Auswirkungen auf raumplanerische, kontextuelle und statische Aspekte wurde im Preisgericht intensiv diskutiert. Die gedankliche Auseinandersetzung und der direkte Vergleich der Eingaben – auch sichtbar im Modell – trugen massgeblich zur Lösungs- bzw. Entscheidungsfindung bei. Das Preisgericht war schliesslich der Meinung, dass eine über 80 m breite Querung für diesen Standort überdimensioniert sei und dass eine solche von nur 30 m die bisherige Situation der Unterführung wenig positiv zu ändern vermag.
Zu erwarten war, dass der neu zu erstellende Platz mit Brücken aus Stahl- bzw. in Spannbeton überspannt wurde. Mit Ausnahme von «WWW», bei dem die Planenden eine ästhetisch interessante Zwillings-Tragkonstruktion mit asymmetrischen Vollquerschnitten (Torsionsträger) vorschlugen, besteht die Brücke in allen anderen Projekten aus einem Trogquerschnitt. Diesbezüglich überzeugte «ViLicht» das Preisgericht am meisten. Die Formgebung des Brückenquerschnitts widerspiegelt Sorgfalt und eine konsequent durchdachte Haltung. Der Ort wird mit diesem Vorschlag zu einem repräsentativ-öffentlichen Freiraum mit einem einladend offenen Tor zum neuen Stadtteil.
Gekonnt eingepasst und massvoll dimensioniert
Bei «ViLicht» bestimmen eine lange Rampe auf der Westseite, ein kaskadenartiger Treppenaufgang auf der gegenüberliegenden Seite, fünf V-Stützen in der Mitte der Brückenspannweite und die gerippte Brückenuntersicht den neuen Platz. Eine umlaufende Sitzbank aus Beton rahmt den Platz ein und schafft einen Raum, der sich mit der noch undefinierten Umgebung weiterentwickeln kann. Der neue, öffentliche und einheitlich in Gussasphalt mit hellen, gebrochenen Zuschlagstoffen materialisierte Platz wertet den Strassenraum und den Fussgängerbereich auf. Der Platz ist mit einzelnen Pflanzen begrünt, und auf der Ostseite wird eine durchlaufende Baumreihe vorgeschlagen.
Der Bereich unter der Brücke mit den beiden zurückhaltend in den Randbereich gesetzten Erschliessungen zum Bahnperron verbindet die beiden Gebiete nördlich und südlich des Bahndamms. Es lässt sich eine grosszügige ÖV-Drehscheibe erkennen, die einladend und ästhetisch wirkt. Die drei nachts beleuchteten Laternen auf dem Perrondach (Stahlkonstruktion) sind für das Projekt typisierend.
Diese Oblichter bzw. Lichtkuppeln lassen die Station von weit her als öffentlichen Ort erkennen. Dieser repräsentative Charakter war einzig in «WWW» noch deutlich zu sehen; in den restlichen Projekten war er zu wenig stark ausgeprägt.
Der Brückenunterbau in «ViLicht» ist Trag- und Raumstruktur zugleich. Die fünf parallelen, V-förmig ausgebildeten Doppelstützen sind identitätsstiftend und parallel zur Brückenlängsrichtung angeordnet. Auf ihnen lagert der Brückenüberbau, der in zwei etwa identische Spannweiten aufgeteilt ist.
Der Überbau besteht aus zwei parallelen Zweifeldrahmen in Spannbeton. Jeder ist aus einem Rippentrogquerschnitt mit vorgespannten Überzügen ausgeführt. Zwischen den beiden Haupttragelementen sind drei Lufträume und dazwischenliegende Lichtbänder aus Glasbausteinen angeordnet. Sie schaffen Sichtbezüge zwischen Perron und Platz und lassen Tages- bzw. Kunstlicht aus den Oberlichtern auf die Platzebene fallen – die «Deckelwirkung» wird aufgebrochen. Im Gegensatz zu allen anderen eingereichten Projekten wurde die Unterkante der Trogplatten höher angesetzt als die Unterkante der seitlichen Überzüge. Einerseits strukturiert dies die Untersicht der Brücke und gibt dem Raum eine positive Dynamik. Andererseits wird dadurch auch der Lastabtrag bzw. das Tragkonzept klar ersichtlich – der Kräftefluss wird lesbar und damit das Tragwerk optisch fassbar. Darüber hinaus ist der gewählte Querschnitt dauerhaft und gebrauchstauglich, da Wasser nicht zur Untersicht der Trogplatten gelangen kann. Das Tragwerk wirkt zwar filigran, vermittelt aber trotzdem Robustheit und Sicherheit. Die Verkleidung der Untersicht der Trogplatten zwischen den quer verlaufenden Längsträgern sollte allerdings gemäss Preisgericht überarbeitet werden.
Die V-Stützen verkleinern die Spannweiten. Sie sind also nicht nur ästhetisch begründet, sondern auch statisch sinnvoll. Ihre Position müsste aber den sehbehinderten Passanten mindestens mit einer Erhebungen um die Stützenfüsse herum signalisiert werden. Die Widerlagerwände sind leicht nach aussen geneigt und teilweise begrünt, daher integrieren sie sich gut ins Gelände. Die ostseitige Wand ist schief zur Brückenlängsrichtung angeordnet, die westseitige rechtwinklig dazu. Stützen und Widerlagerwände sind flach fundiert.
Konzeptkonform integriert sich auch der nördliche Radweg ins Tragwerk. Er wird nicht nur als Anhängsel verstanden. Trotz dem zusätzlichen Element behält das Tragwerk seine Einheitlichkeit. Demgegenüber beurteilt das Preisgericht ein Tragwerk, dem eine separate Tragkonstruktion angehängt wurde – wie in «Doppelspur» –, als nicht optimal.
Der im Wettbewerbsprogramm vorgeschlagene Bauablauf wird in «ViLicht» im Grundsatz übernommen. Die Baustellenlogistik und die Bautechnik flossen verlässlich in das Projektkonzept ein. Dies insbesondere so, dass der Bahnbetrieb während sämtlicher Bauarbeiten ohne wesentliche Einschränkungen gewährleistet werden kann. Vier von fünf Teilnehmern übernehmen den im Wettbewerbsprogramm vorgeschlagenen Bauablauf. Einzig «WWW» basiert auf einer Alternative, zeitweise beide Gleise über einen einzelnen Brückenstrang zu führen. Dieses Bauprogramm vermochte das Preisgericht allerdings nicht gänzlich zu überzeugen – es berge statische und betriebliche Risiken.
Eine diffizile Aufgabe gelöst
«ViLicht» besticht auf architektonischer, räumlicher und tragwerkspezifischer Ebene. Die Eingabe weist eine angemessene und ansprechende architektonische und gestalterische Qualität auf. Das Bauwerk hat das Potenzial, künftig ein zentraler Bestandteil des Entwicklungsgebiets Chur West zu sein. Die projektierten Baukörper sind mit aufeinander abgestimmten Formen ausgebildet, wirken einheitlich und konkurrenzieren sich nicht. Das effiziente Tragwerk, die gekonnte topografische Einpassung und die massvolle Dimensionierung des Platzes, seine robuste Materialisierung sowie die Flexibilität bezüglich einer baulichen Weiterentwicklung und Verdichtung im Gebiet Chur West überzeugen. Den Projektverfassern gelingt es, mit dem Bauwerk und seinem adäquaten Tragsystem einen gut proportionierten und zusammenhängenden sowie einen gut inszenierten und belichteten öffentlichen Platz zu schaffen.
Die Autorin war Mitglied der Fachjury.
Pläne und Jurybericht zum Wettbewerb finden Sie auf competitions.espazium.ch
Auszeichnungen
1. Preis: «ViLicht»
INGE Chur West: Casutt Wyrsch Zwicky, Chur / Chitvanni + Wille, Chur; Gredig Walser Architekten, Chur; Kohler Landschaftsarchitektur, Bad Ragaz
2. Preis: «WWW»
Bänziger Partner, Chur; maurusfrei Architekten, Chur
3. Preis: «Doppelspur»
Ferrari Gartmann, Chur / FHP Bauingenieure, Chur; Architekturbüro Rainer Weitschies, Chur; Müller Illien Landschaftsarchitekten, Zürich
4. Preis: «Freifeld»
Pini Swiss Engineers, Zürich; Itten + Brechbühl, Basel; Hager Partner, Zürich
FachJury
Vincenzo Cangemi, Architekt, Chur; Priska Ammann, Architektin, Zürich; Clementine Hegner-van Rooden, Bauingenieurin, Oberägeri; Stefan Rotzler, Landschaftsarchitekt, Gockhausen; Dario Geisseler, Bauingenieur, Chur
SachJury
Christian Florin, Leiter Infrastruktur RhB (Präsident); Karl Baumann, Leiter Kunstbauten RhB; Roland Arpagaus, Leiter Tiefbaudienste Stadt Chur; Andreas Pöhl, Leiter Stadtentwicklung Stadt Chur