Ei­ne zwei­te Ein­gangs­tür re­vo­lu­tio­niert die Woh­nungs­ty­po­lo­gie

Bereits seit einigen Jahren punkten vor allem Genossenschaften mit Alternativen zu klassischen Wohnungsgrundrissen. Die aktuelle Pandemie befeuert die Forderung nach innovativen Typologien noch. Einen diskussionswürdigen Vorschlag liefern dabei die Logements à mixité intégré (LMI) in Genf.

Publikationsdatum
25-03-2021
Yony Santos
Head of education espazium.ch | Architekt | Redaktor

Es war nicht die Pandemie, die den Ausschlag gab. Tatsächlich beschäftigt sich die Genfer Wohnbaugenossenschaft SCHG (Société Coopérative d’Habitation Genève) schon seit ihrer Gründung 1919 mit alternativen Wohnformen. So beauftragte sie bereits 2010 das Genfer Architekturbüro Ris + partenaires architectes mit einem Konzept für eine architektonische Form, die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten oder Anliegen – wie eben Homeoffice, aber auch Mehrgenerationenwohnen oder Patchworkfamilien – Rechnung tragen kann.

Dem Konzept zugrunde liegt eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Raumprogramm über das gesamte Gebäude hinweg. Sie mündete in einer Fragestellung: Wenn der städtebauliche Kontext eines Projekts einen möglichst geringen Bodenverbrauch nahelegt, wo werden dann die gewöhnlich im Erd­geschoss angesiedelten gemeinschaftlichen Räume untergebracht?

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Um eine grösstmögliche Durchlässigkeit des Erdgeschosses zu erreichen, verlegten die Architekten die gemeinschaftlich genutzten Räume in die oberen Stockwerke und hinterfragten ihr Zusammenspiel mit den Wohnungen. Aus dieser Reflexion über Programm und Typologie ging ein System hervor, das erfindungsreicher und effizienter nicht hätte sein können: Eine autonome Zelle wird als «Scharnier» zwischen Privaträume und Aussenraum geschaltet. Dazu genügte es, einen der Wohnräume über eine zweite Wohnungseingangstür mit dem Treppenhaus zu verbinden. Dank eigenem ­Eingang, Stauraum, eigener Nasszelle und optionaler Küchenzeile funktioniert dieser «Raumjoker» eigenständig, ist aber mit dem Rest der Wohnung verbunden. Der für das stille Gewerbe vorgesehene multifunktionale, 18 bis 25 m2 grosse Raum wird als Erweiterung des Wohnraums genutzt, um auf veränderte Haushaltszusammensetzungen reagieren zu können. Möglich macht dies eine zweite Wohnungseingangstür – ein kostengünstiger typologischer Kunstgriff.

Der Vorschlag der Architekten überzeugte die Genossenschaft. Für die Umsetzung betraute sie mit brodbeck roulet architectes associés ein weiteres Büro: Der 2015 fertiggestellte Wohnriegel «LMI du Parc» im Genfer Quartier Les Charmilles war ein erstes Vorzeigeprojekt. Der 145 m lange Bau beherbergt 140 Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen (96 Mietwohnungen / 44 Eigentumswohnungen), verteilt auf neun Stockwerke – 52 davon wurden als Logements à mixité intégré (LMI), also als gemischt genutztes Wohnen realisiert.

Die zweite Tür stellt das Haus auf den Kopf

Wie zweckmässig dieser zusätzlich Raum ist, zeigt sich aktuell: Gerade in Zeiten von verstärkter Arbeit im Homeoffice bieten die LMI-Wohnungen eine praktische Lösung. Das denken auch Louisa Gueddimi und Carol Jornod von der Wohnbaugenossenschaft SCHG, laut denen diese Projekte ganz im Sinn der Vision der SCHG «eine handfeste Antwort auf veränderte Lebensmodelle liefern, die ein Kontinuum zwischen zeitlich befristetem und dauerhaftem Zusammenleben umfassen». Die Haushalte erhalten einen zusätzlichen Raum, den sie flexibel für die Ausübung verschiedener Tätigkeiten oder die Beherbergung einer unabhängigen Person nutzen können und der ein Nebeneinander von verschiedenen Lebensrhythmen ermöglicht – gerade im Zusammenhang mit dem Homeoffice ein oft zitiertes Problem.

Die LMI bieten eine praktikable Lösung für die gesellschaftlichen Veränderungen im städtischen Kontext wie steigende berufliche Anforderungen (Selbstständigkeit, Teilzeitarbeit, Jobsharing usw.) und inter­generationelle Bedürfnisse (unabhängige Teenager, unselbstständige betagte Elternteile, Besuche). Die Statuten der Genossenschaft setzen dem Modell jedoch Grenzen, denn sie verbieten die Untermiete und jede Art der Weitervermietung. Nichtsdestotrotz erbringt diese Typologie den praktischen Beweis dafür, dass Innovation nicht unbedingt grosse Veränderungen erfordert.

Weiterentwicklung geplant

Im Fall der LMI trägt die Kombination aus Wohn- und Geschäftsmietverträgen zum Erfolg des Immobilien­geschäfts bei. Die vorteilhafte Wohntypologie sorgt im Bau nur für sehr geringfügige Mehrkosten. Die multifunktionale Zelle untersteht einer eigenen kommerziellen Verwaltung, wodurch die Kosten der restlichen Wohnung ausgeglichen werden können. Im Gegensatz zu den Wohnungen, für die beim Kanton finanzielle Unterstützung beantragt werden kann, wird der zusätzliche Raum nicht subventioniert.

Nach Abschluss dieses ersten Projekts ist ein zweiter Bau mit LMI-Wohnungen in Planung, der über hundert Wohnungen umfassen wird. Die Erkenntnisse aus dem Prototyp im Park Hentsch sollen dazu beitragen, die Funktionsweise dieser Typologie zu optimieren. Die vielseitig einsetzbaren Zimmer werden auf bis zu 30 m2 vergrössert und hälftig auf das Erdgeschoss und die übrigen Stockwerke aufgeteilt. Dadurch soll das gesamte Gebäude noch zweckmässiger ausgestaltet und ein auf allen Ebenen funktionierendes Quartierleben gewährleistet werden.

Es lohnt sich, die weitere Entwicklung zu verfolgen. Wünschenswert wäre, dass sich auch andere private Akteure der Immobilienwirtschaft des Themas annehmen – und sich damit für den Bau einer zeitgenössischen Stadt stark machen.

Übersetzung aus dem Französischen: Judith Gerber

Bauherrschaft Eigentumswohnungen: Privat
Bauherrschaft: Mietwohnungen Société Coopérative d’Habitation Genève SCHG
Architektur, Entwurf: Ris + partenaires architectes, Genf
Architektur, Ausführung: brodbeck roulet architectes associés, Carouge
Tragkonstruktion: Ingeni, Genf
Landschaftsarchitektur: Hüsler & Associes, Lausanne
HLKS-Planung: Riedweg et Gendre, Carouge; Schumacher Ing., Savigny; Scherler, Fribourg
Akustik: Architecture & Acoustique, Genf
Nachhaltigkeit: CSD Ingenieurs, Lausanne
Verkehrsplanung: Citec, Genf

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