Ohne Balkone? Ohne uns!
Renovation Fontenette-Quartier, Carouge, frundgallina
Im Fontenette-Quartier in Carouge GE hat man der Siedlung Auréa – deren Architektur auf umstrittenen politischen Absichten gründet – mit 335 Balkonen wieder zu Luft und Leben verholfen. Die Mikrotransformation der Bauten des Architekturbüros frundgallina verdeutlicht, wie wichtig Investitionen in die Wohnlichkeit von Sozialwohnungen sind, damit diese attraktiv und nachhaltig bleiben.
Die «Cité Auréa» in Carouge wurde vom Neuenburger Architekturbüro frundgallina konzipiert und 2019 fertiggestellt, allerdings auf der Grundlage eines umstrittenen politischen Entscheids. Nach langen Jahren kollektiver Mobilisierung hat die auf ungeschickte Art herbeigeführte Stigmatisierung der sieben Sozialwohnungsbauten nun endlich ein Ende.
Das Anbringen je eines Balkons pro Wohneinheit beziehungsweise die damit erreichte bemerkenswerte Transformation dieser gemeinnützigen Wohnanlage für kostengünstiges Wohnen (HBM-LUP) zeigt, dass Einsparungen nie auf Kosten der Lebensqualität gehen dürfen, insbesondere nicht bei zeitgenössischer Architektur.
Ein idyllischer Rahmen – von der Politik an den Rand gedrängt
Das Fontenette-Quartier ist nur einen Katzensprung von der mäandrierenden Arve entfernt, gleich nebenan liegen auch das Waldgebiet Moraines, das Altstadtviertel Vieux-Carouge sowie das Sportzentrum Bout-du-Monde. Das Quartier profitiert von einer einzigartigen Synergie zwischen Urbanität und Natur, ein Umstand, dem das Architekturbüro frundgallina mit einer grosszügigen Projektidee – 30 000 m² Wohnraum aufgeteilt auf sieben Wohnblöcke mit je sieben Stockwerken – gerecht wurde, sodass es 2008 die entsprechende Ausschreibung gewann.
Das Projekt sah vor, die sieben in einer grossen Parkanlage locker verstreuten Einheiten zwischen zahlreichen Bäumen entstehen zu lassen. Zu jeder Wohnung sollte eine grosszügige Loggia gehören, dank der alle zukünftigen 1200 Wohnparteien die bewaldete Weite der Umgebung geniessen können.
Die Visualisierungen zeigen eine Idylle. Schon bald aber schlug der ursprüngliche Plan auf dem Boden der ökonomischen Realität auf. Aufgrund der damaligen hohen Zinssätze drängten die politischen Entscheidungsträger darauf, die Baukosten rund um das Projekt drastisch zu senken und die Rentabilität zu steigern.1 Alle Wohngebäude wurden um eine zusätzliche Etage aufgestockt und alle Loggien aus dem Projekt gestrichen, ohne Rücksicht auf das Wohngefühl und die Durchlässigkeit im Wohnviertel.
Ein Balkon zur Neudefinition der Lebensverhältnisse
In der Folge versuchten die Architektinnen und Architekten– wenn auch nicht sehr erfolgreich – den Verlust der Aussenräume durch grosszügige Panoramafenster zu kompensieren, die vom Boden bis zur Decke reichen und den Eindruck einer Loggia innerhalb des Wohnraums vermitteln sollten. Zudem ersetzten sie den Verputz auf der Wärmedämmung durch eine Fassadenverkleidung aus weissen Blechelementen und das PVC der Fensterrahmen durch Holz und Metall.
Diese «ästhetischen Kompensationen» konnten aber den allgemeinen Unmut nicht abwenden. Schon bei ihrem Einzug bemängelten die Bewohnerinnen und Bewohner das Erscheinungsbild ihres Wohnviertels. Allgemein teilte man die Ansicht, dass man in einer «Container-Siedlung» festsitze, ein Gefühl, das durch die fehlende soziale Durchmischung und die Abgeschlossenheit des Quartiers noch verstärkt wurde.
Aus diesem allgemeinen Unbehagen heraus lancierten die Bewohnerinnen und Bewohner eine Petition. 600 Unterschriften kamen zusammen, die die Idee von Balkonen an den Gebäuden unterstützten. Dies war der Anfang eines entscheidenden Prozesses für eine Wiederannäherung an das ursprüngliche Projekt. Mit Unterstützung einer neuen Kantonsregierung nahm die Eigentümerin der Siedlung, die Fondation Emma Kammacher, wieder Kontakt mit den Architekten auf. Die Gebäude sollten mit Balkonen ausgestattet werden, allerdings ohne die Mieten erhöhen zu müssen. Und das, obwohl der Gesamtaufwand auf 9.5 Mio. Franken, also 28 000 Franken pro Balkon, geschätzt wurde.
Am Morgen raus aus der Wohnung und am Abend … hat sie einen Balkon
Aus technischer Sicht bringt diese «Akupunktur am Bau» zwei grosse Herausforderungen mit sich: Die Bauarbeiten sollen das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner möglichst wenig beeinträchtigen und die neuen Elemente keine wesentlichen Auswirkungen auf die bestehende Fassade mit sich bringen.
Jeder Balkon ist eine 3.4 m × 2.3 m grosse Konstruktion aus Stahlträgern, Querstreben und profilierten Stahlblechplatten, aufgehängt an zwei 16 mm dicken Zugstangen aus rostfreiem Stahl. Die Balkonplatten werden mit wärmedämmenden Kragplattenanschlüssen in der Fassade verankert, der Fussboden, ein Deck aus massivem Lärchenholz, das auf der ganzen Breite des Panoramafensters mit dem Fussboden im Wohnraum nivelliert wird, ist mit Sperrholzplatten aus Birke unterlegt. Balkone von Wohneinheiten auf derselben Etage sind zudem mit einem Sichtschutz versehen. Eigentlich wollten die Architekten die bestehenden Geländer wiederverwenden, jedoch erwiesen sich diese als zu wenig blickdicht, zudem hätten zahlreiche Anpassungen vorgenommen werden müssen.
Die Balkone werden im Jura vorgefertigt und in minutiös geplanten Schritten an den Gebäuden in Carouge angebracht. Wo ein Balkon platziert wird, wird die Fassadenverkleidung abmontiert, nummeriert und provisorisch deponiert, damit die Kragträgerverbindungen angebracht werden können. Sind die Balkone, von denen jeder 1300 kg wiegt, dann maschinell an der Betonmauer fixiert, hängt man die Elemente wieder an ihren Platz.
Bei ihrem Projekt setzen die Architekten auf geniale Technik und auf insgesamt vier Teams, die, organisiert nach Etage und nach spezifischen Aufgaben, Balkon für Balkon im Einsatz sind. So gelingt es, die Zeit zum Anbringen eines Balkons auf einen einzigen Arbeitstag zu beschränken. Die Bewohnerinnen und Bewohner verlassen am Morgen ihr Zuhause und wenn sie am Abend heimkehren, finden sie dort einen Balkon vor. Die Arbeiten haben Anfang des Jahres begonnen und werden insgesamt ungefähr zwölf Monate in Anspruch nehmen.
Wohnlichkeit ist keine Frage der Wirtschaftlichkeit
Aus sozialer Sicht handelt es sich bei dieser architektonischen Metamorphose um weit mehr als um eine simple ästhetische Aufwertung. Diese signifikante Transformation, die einer Bewohnerpetition entsprang, verdeutlicht die Macht des kollektiven Protests gegen aus politischen und wirtschaftlichen Überlegungen resultierende Willkür. Mit den Freiflächen für jede der 335 Wohnungen ist die Eigentümerin nicht nur einer dringenden sozialen Forderung nachgekommen, vielmehr ist es der Stiftung gelungen, die Dynamik eines ganzen Wohnviertels neu zu gestalten.
Aus politischer Sicht zeigt dieses Beispiel von Resilienz und Innovation aber noch etwas viel Bedeutenderes auf: Es ist wichtig, in die Wohnlichkeit von Sozialwohnungen zu investieren, denn es sind genau diese Investitionen, die ausschlaggebend sind für deren Attraktivität und Beständigkeit. Einsparungen bei den Baukosten rechtfertigen in keinem Fall Einbussen bei der Lebensqualität. Vielleicht kommt man bei anderen zeitgenössischen Architekturprojekten ja zum selben Schluss.
Anmerkung
1 Das Projekt ist dem Genfer Gesetz über den Abbruch, Umbau und die Renovation von Wohnhäusern (Loi sur les démolitions, transformations et rénovations de maisons d’habitation, LDTR) unterstellt.