«Der beste Weg wäre, gar nicht erst abzureissen»
Der von der EPFL-WISH Foundation verliehene Erna-Hamburger-Preis zeichnet Wissenschaftlerinnen aus, die auf ihrem Fachgebiet Aussergewöhnliches leisten. 2022 ging die Auszeichnung an Anne Lacaton – ein Jahr nachdem sie zusammen mit Jean-Philippe Vassal den Pritzker-Preis gewann. Wir trafen uns mit der Architektin, die sich für Pädagogik, Klimaschutz und Transformation des Bestands einsetzt, zum Gespräch.
Das Büro Lacaton & Vassal ist weithin dafür bekannt, wann immer möglich zu erhalten, statt abzureissen, und zu renovieren, was renoviert werden kann, um so den Bestand zukunftsfähig zu machen. Heute sind Energieeffizienz und Erhalt des Bestands in aller Munde. Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal gehörten zu den ersten, die sich mit ihren Projekten für ein nachhaltigeres Verständnis von Architektur einsetzten, wobei Nachhaltigkeit im Sinn der drei Säulen Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt verstanden wird.
Beim Umbau des Hochhauses Bois-le-Prêtre in Paris im Jahr 2011 beschritt das Büro zusammen mit Frédéric Druot neue Wege. Nicht nur setzten die Architekt:innen auf eine energetische Sanierung, sondern auch auf Grosszügigkeit hinsichtlich des Raumkonzepts: Ein nutzungsoffener Raum lässt die Wohnung als Haus erscheinen. «Wir wollen nicht nur Wohnungen bauen, die funktionieren, sondern die auch Flexibilität und Komfort bieten. Denn was eigentlich eine Grundvoraussetzung sein sollte, ist heute viel zu oft ein Ausgrenzungsfaktor.»
Anne Lacatons Art zu sprechen ist klar, prägnant und pointiert. Nach ihrer Botschaft gefragt, die sie in diesem Gespräch vermitteln will, bleibt sie sehr bescheiden: «Ich habe keine bestimmte. Ich erkläre einfach, was wir tun, und die Leute verstehen dann, was sie wollen.»
Der nach der ersten ordentlichen Professorin der EPFL benannte Erna-Hamburger-Preis ist per Definition eine feministische Auszeichnung. Sind Sie der Meinung, dass den Architektinnen mehr Sichtbarkeit verliehen werden sollte oder dass die Architektur femininer werden sollte? Oder anders gesagt: Soll man in die Förderung investieren oder das System verändern?
Das sind sehr heikle Themen, die mit Vorsicht angegangen werden müssen. Die explizite Würdigung der Arbeit von Frauen kommt natürlich dem Eingeständnis gleich, dass es ein Problem gibt. Unter normalen Umständen, das heisst, wenn eine gleichwertige Koexistenz normal wäre, müsste man nicht mehr über Feminismus sprechen. Leider ist dies noch nicht der Fall. Und auch wenn ich denke, dass Auszeichnungen wie diese ihre Berechtigung haben, widerstreben mir doch berufsbezogene Auszeichnungen, die ausschliesslich an Architektinnen verliehen werden. Denn damit wird suggeriert, dass es in der Architektur eine frauenspezifische Denkweise gibt. Ich bin der Meinung, dass die Art und Weise, wie man Architektur versteht, vor allem eine persönliche Sache ist. Ich absolvierte mein Studium während einer der Hochphasen des Feminismus, und ich bin äusserst enttäuscht darüber, wo wir heute stehen.
Von 51 Pritzker-Preisträgerinnen und -träger sind Sie erst die sechste Frau. Was löst das bei Ihnen aus?
Das ist umso schwerer nachzuvollziehen in Anbetracht der Tatsache, dass, soviel ich weiss, heute mehr Studentinnen als Studenten Architektur studieren. Dieses Verhältnis sollte sich eigentlich in den Architekturpreisen widerspiegeln. Ich kann mir das nicht erklären. Ich finde es einfach schade, dass dem nicht so ist.
Im Rahmen eines partizipativen Projekts1 wurde 2022 der gesamte Kreis der EPFL-Architektinnen und -Architekten dazu aufgerufen, die Rolle des Architekten zu hinterfragen. Unter anderem lautete eine Frage «Architekt:innen – wo liegt das Problem?». Finden Sie, dass es heute in unserem Beruf ein Problem gibt?
Ja, ich denke effektiv, dass es in unserem Beruf ein Problem gibt, denn er basiert auf einer eher althergebrachten Auffassung. Dadurch hinken die Architekturschaffenden mit ihrem Verständnis von Formen und Bildern den rasanten Veränderungen der heutigen Zeit hinterher. Architektur wird immer komplexer. Womöglich gibt es aber weniger ein Problem, es stellt sich vielmehr die Frage, wozu der Architekt eigentlich gut ist. Aber ich sehe dies eigentlich als Chance, eine neue Rolle zu definieren, die intelligenter und interdisziplinärer ist, und die Überlegungen vorwegnimmt. Architektur heisst nicht nur, etwas zu bauen, Architektur ist viel mehr. Das Architekturstudium mit seiner grossen Bandbreite an Inhalten ermöglicht uns, über komplexe und sehr weitreichende Themen nachzudenken.
Das partizipative Projekt fragte auch nach der Zukunft der Architekten. Welche Inhalte sollten heute aus pädagogischer Sicht an Architekturschulen vermittelt werden?
Es gibt so viele Themen in der Architektur, da kann man nicht alles vermitteln. Das Wichtigste ist es, eine Denkweise zu entwickeln, eine Offenheit. Erst später, bei der Auseinandersetzung mit den Projekten, bei der Art und Weise, wie man sie angeht, kann man etwas bewirken: indem man das richtige Know-how, das richtige Wissen einbringt. Der Architekt fungiert als Katalysator für all das – eine Rolle, die ich sehr spannend finde. Früher gab man uns zu verstehen, dass die Rolle des Architekten darin bestünde, Fassaden zu zeichnen, Bilder zu entwerfen und nicht zu denken. Ich glaube, dass wir heute wieder die Möglichkeit haben, von Anfang an eine agierende Position einzunehmen.
Sie haben in Nantes eine sehr spezielle Architekturschule gebaut. Wie würde sich das ideale pädagogische Bildungsmodell auf formaler Ebene zeigen?
Der Raum, in dem man studiert, beeinflusst zwangsläufig den Unterricht. Sich auf diese Überlegung zu beschränken, wäre jedoch zu kurz gegriffen, vor allem im Fall einer Architekturschule. Das Gebäude käme dann einer Lektion in Architektur gleich und das wollten wir nicht. In Nantes schlugen wir vor, 50 Prozent mehr offenen Raum einzuplanen. Die Schule wird so zu einem Ort, der Studierende und Dozierende dazu zwingt, sich in die Raumnutzung einzubringen, damit etwas entsteht. Heute, zehn Jahre später, zeigt sich, dass das System funktioniert. In der Schule herrscht eine grosse Dynamik, da durch eine Art Durchlässigkeit viele Dinge, etwa Fashion Weeks, Kunstfestivals oder Radiosendungen, hineingetragen werden. Genau deshalb war es auch so wichtig, mehr Raum anzubieten. Der zusätzliche Raum fungiert als Bindeglied, er dient als öffentlicher Raum.
Im Übrigen ein Thema, das in den meisten Ihrer Projekte anzutreffen ist. Beispielsweise als Sie bei Umbauten von Sozialwohnungen1 die Fassadentiefe vergrösserten.
Ja, die Fassade setzt uns keine Grenzen. Sie ist ein Raum, der eine Reihe von Verbindungen schafft, der Übergänge schafft. Sie ist eine Schnittstelle, die nicht komplett unveränderlich ist, gesetzt den Fall, dass sie kein winterlicher Kälteschutz sein muss. Allerdings wurde die Fassade – wie das Wort schon sagt – über Jahrhunderte hinweg als Gesicht verstanden. Sie hatte über lange Zeit eine Repräsentationsfunktion. Die Repräsentation als solche interessiert uns jedoch nicht besonders, auch wenn die Fassade de facto eine schafft und diese auch sichtbar ist. Vielmehr interessieren uns die Art der Beziehungen, die man generieren kann – seien sie emotionaler, thermischer oder visueller Natur.
Sollten wir in Anbetracht der aktuellen Energiekrise den Bestand an die Normen anpassen oder die Normen an den Bestand?
Zunächst gilt es, den Bestand zu erhalten und einen Umgang damit zu finden. Wir reissen heute zu viel ab und dadurch geht zu viel Raum und Potenzial verloren. Ich habe gehört, dass es Leute gibt, die für einen Baustopp plädieren. Natürlich müssen wir aufhören zu bauen. Das setzt aber voraus, dass wir nichts mehr abreissen. Etwas nüchtern betrachtet, ist die Auseinandersetzung mit der Natur, der Umwelt, dem Einsatz von Energie und Materialien etwas, das in der Architektur schon immer funktioniert hat. In der letzten Jahrhunderthälfte ging das verloren. Wir sollten uns wieder darauf besinnen. Heute sind wir sehr auf die Wiederverwendung von Baumaterial aus Abrissen bedacht. Der beste Weg wäre jedoch, gar nicht erst abzureissen. Auch wenn es tugendhaft sein mag und wir gut im Wiederverwenden sein mögen: Wir können nicht alles wiederverwenden. In kürzester Zeit wird eine riesige Menge an Recyclingmaterial anfallen, das wir nicht wiederverwerten können. Deshalb ist es besser, wenn alles da bleibt, wo es ist, und wir lernen, damit umzugehen und umzubauen.
Anmerkung
1 Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, PLUS – Les grands ensembles de logement, territoires d’exception, GG, 2004