Neue Rol­le für ei­nen al­ten Dar­stel­ler

Erneuerung Stammsiedlung BBZ, Zürich

Ein Wettbewerbsprogramm ist auch Ausdruck der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Notwendigkeiten seiner Zeit. Noch vor wenigen Jahren wäre das von der Zürcher Baugenossenschaft Brunnenhof für seine Stammsiedlung ausgeschriebene Programm undenkbar gewesen, denn die Frage nach dem Umgang mit dem Bestand nimmt erst Fahrt auf.

Publikationsdatum
06-02-2025

Je dichter ein Grundstück bebaut ist, desto mehr vermiet­bare Fläche gibt es und desto höher ist der Mietertrag. Doch die Ausnützung ist nicht das einzige Kriterium für den Wert einer Liegenschaft. Nach über 15 Jahren berechnet der Kanton Zürich den Steuerwert sämtlicher Immobilien neu. Dabei stellt sich heraus, dass der Wert jener Bauten, die von viel Freiraum umgeben sind, seit der letzten Schätzung aufgrund der nun höheren Bodenpreise beachtlich gestiegen ist. Dies steht auch im Zusammenhang damit, dass der Grün­raum mit steigender baulicher Dichte überall ein rares Gut wird.  

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, bedeutet Verdichtung mehr Wohnraum für mehr Menschen. Doch dem könnte man entgegenhalten, dass zunehmende Dichte der mentalen Befindlichkeit sowie der Biodiversität und klimatischen Aspekten nicht gerade zuträglich ist. Aus all diesen teils antagonistischen Notwendigkeiten wird der umsichtige Umgang mit bestehenden Grünräumen in Städten immer bedeutender. Das Wettbewerbsprogramm, das die Baugenossenschaft Brunnenhof Zürich (BBZ) für ihre Stammsiedlung erarbeitet hat, ist exemplarisch für diese Verschiebungen. 

Planung bringt ­Veränderung

Das neuste Leitbild, das aus dem Studienauftrag der BBZ hervorgeht, ist das Resultat eines Umdenkens im Umgang mit Bestand und den Fragen nach bezahlbaren Mietzinsen und Gemeinschaftsflächen. Die Siedlung mit ihren ursprünglich 539 Wohnungen im Norden der Stadt Zürich wurde 1945–1950 erbaut. Die meisten Wohnungen waren rund 60 m² gross und verfügten über drei Zimmer für drei bis vier Personen. 

Es gab zudem eine Verwaltung, einen Kindergarten, einen Laden und einen Gemeinschaftsraum. Entgegen den damaligen Zonenbestimmungen enthalten die gleich­artigen Häuser ein drittes Obergeschoss, das mit einem erhöhten Gebäudeabstand kompensiert wurde. Dadurch entstand die parkartige Siedlung.

Jurybericht und Pläne zum Wettbewerb finden Sie auf competitions.espazium.ch

Nach der letzten Gesamtrevision der BZO von 1999 wurden in Zürich grosse Reserven für bauliche Entwicklungen geschaffen. In diesem veränderten Rahmen entschied die BBZ 2003 – mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Erbauung der Siedlung –, einen Studienauftrag für ein neues Leitbild im Rahmen einer Arealüberbauung durchzuführen. Als Sieger gingen Fischer + Visini Architekten hervor. Zwischen Wehntalerstrasse und Kiefernweg entstanden ab 2008 zwei parallele, durch einen schmalen Grünstreifen getrennte Zeilen und später zwei weitere Etappen im Innern der Siedlung mit insgesamt 315 neuen, grosszügigen Wohnungen. 

Soziale Verdichtung war noch nicht angesagt. Jedoch zielte die Konzentration der Bauvolumen, die keine maximale Ausnützung verlangte, auf «Freiraumgewinnung» ab. Dies war auch eine Wertschätzung der bestehenden Qualitäten des Aussenraums. Dass die neue Anlage an der Wehntalerstrasse nicht als eine «Neuinterpretation der Gartenstadt» erscheint, wie dies im Programm definiert wurde, hängt damit zusammen, dass die Etappe mit dem zentralen neuen Parkteil nicht umgesetzt wurde.  

Was war und wiederkehrt

Wo um die Jahrtausendwende grös­sere Wohnungen für weniger Bewohnende entstanden, ist nach 20 Jahren das Gegenteil gefragt. Die Prämisse hat sich mit der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung geändert. Das Programm für den Studien­auftrag wurde durch den Vorstand mit Planar erarbeitet und geht aus den Ergebnissen einer Bewohnerumfrage hervor. Die neuste Vision für die Entwicklung der Stammsiedlung kommt nicht von ungefähr: Die BBZ wünscht sich wieder mehr Möglichkeiten zur Zentrumsbildung mit Grün- und Gemeinschaftsflächen. 

Dazu bieten sich die verbleibenden Bauabschnitte der Siedlung an, die zukünftig wieder das Zentrum bilden sollen. Die Qualitäten der alten Gemeinschaftsflächen und die kleineren Wohnflächen pro Person sind  im neuen Programm wieder gefragt. Zudem sollen die Wohnungen flexiblere Grundrisse aufweisen als die weitgehend baugleichen Zeilen, die ab 2008 entstanden.

Doch vor allem scheint der vollständige Ersatz der Bauten aus den 1940er-Jahren im Hinblick auf die Ressourcenknappheit und die Thematik um die graue Energie nicht mehr vertretbar. Bemerkenswert ist, dass der Bestand zu zwei Dritteln erhalten werden soll – verbunden mit der Schaffung von 50 % zusätzlichen Wohnungen mit unterschiedlichen, flexiblen Grundrissen. Statisch sind Aufstockungen von zwei Etagen machbar. Höchste Priorität haben bezahlbare Wohnungen, was nur durch den Verzicht auf Ausbauluxus möglich ist. 

Die Ersatzneubauten und die nach dem Umbau qualitativ hochwertigen alten Bauten mit kompakten Volumen sollen nachhaltig sein. Gefragt ist ausserdem eine räumliche Einbindung und plausible Fortführung der zuvor realisierten Neubauetappen. Sicherlich massgebend für die gelungene Umsetzung ist einmal mehr, dass eine maximierte Ausnutzung nicht das Ziel des Wettbewerbs war.

Bemerkenswert ist auch, dass der alte Baumbestand für die Identifikation und das Wohlbefinden der Bewohnerinnen im urbanen Kontext miteinbezogen wird. Es ist zu hoffen, dass sich diese Vorgaben auch bei anderen Wettbewerbsprogrammen dieser Art etablieren. 

Neues schaffen, ohne das Alte zu verdrängen 

In allen Projekten, so auch in den von der Jury zur Weiterbearbeitung empfohlenen «Quartiergeschichten»  von pool Architekten, entspricht die Veränderung nicht einer Oberflächenrenovation mit neuen Nasszellen und Wärmeisolation, wie sie oft in den 1990er-Jahren vollzogen wurde. Die Vorschläge distanzieren sich aber auch vom Tabula-Rasa-­Vorgehen im Zusammenhang mit Ersatzneubausiedlungen. 

Die meisten Projekte führen vielmehr über ein mehr oder weniger gleichwertiges Nebeneinander von Alt und Neu zu einem neuen Quartierbild. Der Bestand als bisherige Grundlage des Zusammenlebens trägt persönliche und gesellschaftliche Geschichte weiter. Bei Ersatzneubausiedlungen entfällt dieser wesentliche Anker der Erinnerung und reduziert die Orientierung bestenfalls auf eine rein räumliche Ebene.

Das Siegerprojekt von pool Architekten erhält zwei Drittel der Bauten und 80 % der Bäume. Die neuen Kopfbauten bringen aber auch Veränderung, betonen die Achsen entlang der Quartierstrassen und schaffen neue Hierarchien und Dimensionen im Strassenbild. Die Teilvolumen mit ihren sechs bis sieben Geschossen überragen den Bestand. Die Etappen von Fischer + Visini werden in die Anlage miteinbezogen. Zwei zentrale Gemeinschaftsorte mit Erdgeschossnutzung ergänzen das Wegnetz. Die Wiese und der Laden bleiben erhalten. Formensprache und Materialisierung lehnen sich an die alten Bauten an.   

Bestand überformen

Stereo Architektur ergänzt in seinem eleganten und gestalterisch markanten Projekt «Moulinet» die alten Zeilen mit Y-förmigen Kopfbauten. Die interessanten Innen- und Aussenräume verleihen der Siedlung ein prägnantes Gesamtbild, bei dem die Neubauteile auffällige Akzente setzen. Wie im Projekt von pool Architekten wird das Alte erkennbar erhalten. Es bildet einen ausbalancierten Teil des Neuen. Dieses erinnert in der Formensprache an die 1950er-­Jahre, was die Kopfbauten wiederum zeichenhaft zum Bestand in Beziehung setzt. 

Die Bauten von Fischer + Visini an der Wehntaler- und Künzlistrasse werden durch Ausrichtung auf den Siedlungsplatz und die Quartierwiese gut angebunden. 24 von 39 Einheiten und die meisten Bäume bleiben im Projekt «Moulinet» stehen. Der Flächenverbrauch pro Person ist der zweittiefste. «Das Projekt veranschaulicht nahezu beispielhaft, wie eine Siedlung in einer hochwertigen Parklandschaft strategisch verdichtet werden kann – falls die Auftraggeberschaft bereit ist, zugunsten einer gesellschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit auf die maximale Ausnutzung zu verzichten», so die Jury.  

Beim schönen Projekt von GWJ Architektur werden 25 der 39 Einheiten erhalten oder aufgestockt. Im Gegensatz zu den anderen Entwürfen wird der Bestand stark überformt und durch leicht wirkende, formal eigenständige An- und Aufbauten ergänzt. Natürlich wirft das die Frage auf, inwieweit die bestehenden Gebäude erkennbar bleiben sollen oder ob die Verwandlung total sein kann. Was im Grunde ein gestalterischer Entscheid ist, wird wohl auch vom aktuell brisanten Thema des Erhaltens gesteuert, bei dem «Vorher» und «Nachher» einander erkennbar ergänzen. Die Jury erwähnt auch, dass der Baumbestand stark unter Druck gerät, während aber die Grünräume für die Nachbarschaft ein Gewinn sind. 

Die Suche nach neuen gestalterischen Formen im Umgang mit dem Bestand ist ein wichtiges Thema, das gerade erst Fahrt aufnimmt. Auch wenn es weiterhin Investorenprojekte mit Ersatzneubauten geben wird, so wird der Bestand mit seinen Gebäuden, Wegnetzen und auch mit der um ihn gewachsenen Vegetation in Zukunft keine Nebenrolle mehr spielen. Absehbar ist, dass die Antworten darauf vielfältig und situativ sind – komplett überformend, in Teilen ergänzend, mit integrativen Interventionen, symbiotisch, kon­trastreich oder gegensätzlich – der Spielraum für Kreativität ist da und von langweiligen Umbauten ist keine Rede. 

Erneuerung Stammsiedlung BBZ, Zürich 
Studienauftrag auf Einladung


Planungsteams 


Team pool Architekten, Zürich
(Empfehlung zur Weiterbearbeitung)
S2L Landschaftsarchitekten, Zürich; 
Dr. Deuring + Oehninger, Winterthur; Lemon Consult Bauphysik Zürich; Begleitung Soziale Themen: 
Philippe Koch


Team Stereo Architektur, Zürich / Basel 
(3. Rundgang)
DUO Architectes paysagistes / Landschaftsarchitekten, Bern; Indermühle Bauingenieure, Thun; preisig:pfäffli Architekturbüro K. Pfäffli, Zürich


Team Duplex Architekten, Zürich
(2. Rundgang)
Gersbach Landschaftsarchitektur, Zürich; Basler & Hofmann, Zürich; 
Erne Holzbau, Laufenburg; brauneroth, Rorschacherberg; Neukom Engineering, Adliswil; R+B Engineering, Brugg; Kasburg Siemon Ingenieure, Zürich; IBV Hüsler, Zürich


Team GWJ Architektur, Bern
(2. Rundgang)
ORT, Zürich; Soziale Plastik Bern
 

Fachjury

Andreas Galli, Architekt, Zürich; 
Mirjam Niemeyer, Architektin, Zürich; Christoph Schubert, Landschaftsarchitekt, Zürich; Alex Jaeggi, Vertretung Amt für Städtebau (AfS), Stadt Zürich; Manuel Peer, Landschaftsarchitekt, Zürich (Ersatz)
 

Sachjury

Matthias Drabe, Präsident BBZ; 
Christian Brunckhorst, Mitglied Vorstand BBZ; Jenny Gujer, Mitglied Vorstand BBZ


Verfahrensbegleitung
Planar, Zürich


Bauherrschaft
Baugenossenschaft Brunnenhof Zürich
 

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