Ur­ba­ne Stim­mung im Hin­ter­hof

Neubau Bahnhofstrasse Süd, Sursee; Studienauftrag auf Einladung

An bester Lage beim Bahnhof Sursee suchen vier Eigentümerschaften nach städtebaulichen Lösungen. Die Teams sollten am Bahnhofplatz einen ­Akzent setzen, Kulturobjekte erhalten und die «Ausstrahlung der charakteristischen, historisch gewachsenen, bewegten Silhouette» wahren.

Publikationsdatum
04-12-2024
Gerold Kunz
Architekt, Fachsekretär der Stadtbildkommission Basel und Mitherausgeber der Zentralschweizer Architekturzeitschrift «Karton»

Der Bahnhofplatz Sursee ist ein Umsteigeplatz. Hier wird von Zügen in Busse gewechselt, die ein Liniennetz in alle Himmelsrichtungen spannen. Seit der Inbetriebnahme der Bahn 2000 sind Sursee und das benachbarte Oberkirch stark gewachsen; die Pendelzeit nach Bern beträgt 45 Minuten. Die Region Sursee hat sich zu einem Kleinzentrum entwickelt, wie es bereits das raumplanerische Leitbild «CK73» in den frühen 1970er-Jahren vorsah, und der Bahnhof befindet sich in dessen Mitte.

Die erhaltens- und schutzwürdigen Kulturobjekte stammen hingegen aus einer anderen Zeit, als sich der Bahnhof Sursee noch weitab des historischen Zentrums befand. Nicht nur der Bahnhofplatz, auch die Bahnhofstrasse, anfänglich gesäumt von Wohn- und vereinzelten Geschäftsbauten, zeugt von der wechselvollen Städtebaugeschichte, die sich aus der Konstellation der beiden entfernt gelegenen Pole ergeben hat. Sie hat zu jener «charakteristischen, historisch gewachsenen, bewegten Silhouette» geführt, von der heute eine identitätsstiftende Wirkung ausgehe, wie im Programm behauptet wird.

Vorstadtstädtebau

In den 150 Jahren zwischen der Eröffnung des Bahnhofs 1856 und der Inbetriebnahme der Bahn 2000 hat sich das Gebiet der sogenannten «Isebahnvorstadt» nur bruchstückhaft entwickelt: Der Luzerner Architekt und Publizist Otti Gmür hatte hier um 1970 ein Wohn- und Geschäftshaus gebaut, einen neuen Massstab hat Ulrich Bögli zwei Jahre später mit dem zehngeschossigen Verwaltungsgebäude eingeführt. Von Luigi Snozzi stammen die Pläne für ein neues Stadthaus am Übergang der Eisenbahnvorstadt zur Altstadt, das im Bundesinventar ISOS kritisch als «übergrosses Bauvolumen im kleinstädtischen Kontext» gewürdigt wird. Dies obwohl Snozzi als einziger eine städtebauliche Gesamtsicht ­unterlegte, indem er die Bahnhof- und Centralstrasse als Ring­stras­se definierte.

In Nachbarschaft zum Wettbewerbsperimeter befinden sich das Gelände der ehemaligen Ofenfabrik, das Therma-Areal und das 2023 vom Holzbauingenieur Pirmin Jung errichtete «Haus des Holzes», ein ökologischer Vorzeigebau. Viele Planungen gingen schleppend und nur mit Widerstand voran. Mehrere Hürden waren zu überwinden, bis Scheitlin Syfrig für die ansässige Holzbau­firma ein wegweisendes Wohn- und Geschäftshaus erstellen konnten. Und um den Erhalt der Ofenfabrik wurde noch gerungen, als der Stadt Sursee im Jahr 2003 vom Schweizer Heimatschutz der Wakker­preis verliehen wurde.

Noch vor wenigen Jahren lehnte die Bevölkerung den Bebauungsplan für das südlich der Ofenfabrik gelegene Therma-­Areal ab. Die wechselvolle Entwicklungsgeschichte ist ein Zeichen dafür, dass verbindliche Leitbilder für den Ausbau der Eisenbahnvorstadt fehlen. Es wird von Fall zu Fall entschieden. Die «bewegte Silhouette», die gewahrt werden soll, ist hier als Ausdruck eines fehlenden gemeinsamen Nenners zu verstehen. 

Die nicht alltägliche Aufgabe, in einem von unterschiedlichen Akzenten geprägten Gebiet einen identitätsstiftenden Bebauungsvorschlag zu entwickeln, haben Rahbaran Hürzeler Architekten und Meta Landschaftsarchitektur im Studienauftrag am besten gelöst. Das Siegerprojekt nimmt innerhalb des Perimeters eine klare Zweiteilung vor: Im Osten fassen die aufgelockerten Wohnbauten einen begrünten Innenhof, im Westen werden die dicht stehenden Wohn- und Geschäftsbauten über städtische Gassen- und Platzräume erschlossen. Beide Arealteile integrieren vorhandene Bauten.

Mit dem Erhalt der Inventarobjekte bleiben auch die Zwischenräume entlang der Bahnhofstrasse bestehen. Sie führen zu einem verkehrsfreien Gassenraum im Grundstücksinnern, der den Bahnhofplatz mit der Bahnhofstras­se verbindet. In den Erdgeschossen befinden sich Gewerberäume, in den Obergeschossen wird gewohnt. Die Kita ist an den begrünten Innenhof angebunden, und auf Seite Bahnhofplatz sind in Ergänzung zum bestehenden Restaurant ein Café und Ladengeschäfte möglich. Das Projekt setzt beim Bahnhof den gesuchten Akzent mit einem neungeschossigen Punktbau am Standort des heute bestehenden Silos.

Genius Loci erkannt

Die Qualitäten des Entwurfs liegen in der Behandlung der Zwischenräume und in den vielen Details, die in den Plänen angedeutet werden. So verbinden beispielsweise im ersten Obergeschoss Stege die beiden Neubauten, die den Gassenraum fassen. Sie akzentuieren zwei an die Stras­senräume angebundene Plätze. Die beiden einander zugewandten Laubenganghäuser prägen den zentralen Hofraum und verleihen ihm die gesuchte urbane Stimmung. Feine Unterschiede in der Ausgestaltung der Laubengangtiefen lassen in den Obergeschossen unterschiedliche Aneignungen zu und verwandeln den engen Zwischenraum, einem Theater ähnlich, zu einem Ort der Kommunikation.

Mit der verästelten, teilweise überbauten Gassenstruktur übernehmen die Architektinnen und Landschaftsarchitekten im Projekt die den konkreten Ort prägenden Strukturen. Der Genius Loci besteht hier aus engen und vernachlässigten Rückseiten. Doch gerade diese Hinterhofatmosphäre ist attraktiv und wird als Gegenwelt zum belebten und offenen Bahnhofplatz weiterentwickelt. Zur Aktivierung wird im Erdgeschoss auf eine Gewerbenutzung gesetzt. Der Charakter des Orts bleibt unverändert, was eine grosse Qualität des Entwurfs darstellt.

Weitere Beiträge zum Thema Wettbewerbe finden Sie in unserem E-Dossier.

Im Unterschied zu den anderen in der engeren Auswahl geprüften Projekten verzichten Rahbaran Hürzeler Architekten und Meta Landschaftsarchitektur auf Analogien zur Altstadt, die aus Platz­folgen und Freiräumen mit ­hoher Aufenthaltsqualität besteht. In der städtebaulichen Konzeption ähnlich, suchen das Team Buch­ner Bründler Architekten / Maurus Schifferli Land­schafts­architekten und das Team Knorr & Pürckhauer Architekten /Gersbach Landschafts­architektur hingegen genau nach diesem spezifischen Ausdruck. Zwar teilen auch sie das Baugebiet in einen urbanen Teil am Bahnhof und einen begrünten Teil auf der Ostseite. Doch sind es in ihren Projekten Platzfolgen, die den Weg quer durch das Areal begleiten und den Grünraum strukturieren.

Im Unterschied zum Projekt von Rahbaran Hürzeler gelingt es Buchner Bründler, einen engeren visuellen Zusammenhalt zwischen den beiden Projektteilen herzustellen. Mit Bezug auf die Altstadt lassen sie am Bahnhof hingegen ein Kleinstzentrum mit differenzierten, miteinander kommunizierenden Freiräumen entstehen, denen vermutlich das Publikum fehlt, weil sich dieses am Bahnhofplatz aufhält. Auf die ordnende Wirkung eines zentralen Platzes setzen auch Knorr  & Pürckhauer. Sie gewinnen Freifläche, weil ihr Ergänzungsneubau das Weinlager zur Hälfte überbaut. Die beiden weiteren Projekte empfehlen eine lineare Bebauung entlang der Strassen und die Schaffung eines zusammenhängenden Grünraums in der Arealmitte, scheiden aber in der Überarbeitungsrunde wegen der fehlenden stadträumlichen Spannung aus. 

Kecke Details

Der Studienauftrag hat gezeigt, dass ein Nebeneinander von kleinen und grossen Bauten auf engem Raum möglich ist. Die Stärke des zur Weiterbearbeitung ausgewählten Projekts liegt im Charakter des Gassenraums, der sich an den heutigen Gegebenheiten orientiert. Das Gelingen wird schlussendlich von der vorhandenen architektonischen Qualität der im Entwurf angedachten und im Jurybericht als «keck» bezeichneten Details abhängen. Da das Verfahren nur in einen Gestaltungsplan führt, stellt sich die Frage, wie die erforderliche Qualität gesichert werden kann. 

Details werden somit über die geglückte Transformation der heute vernachlässigten Hinterhof­atmosphäre entscheiden. Aus denkmalpflegerischer Perspektive positiv zu bewerten ist, dass nicht nur die im kantonalen Bauinventar aufgeführten Kulturobjekte, sondern – trotz hohem Verdichtungsgrad – auch ihre angestammten Umgebungen erhalten bleiben.

Pläne und Jurybericht zum Wettbewerb finden Sie auf competitions.espazium.ch

Teams der Zweiten Phase

Siegerteam (Team 05)
Rahbaran Hürzeler Architekten, Basel; Meta Landschaftsarchitektur, Basel

Team 01 (Engere Auswahl)
Buchner Bründler Architekten, Basel; Maurus Schifferli Landschaftsarchitekten, Basel

Team 02 (ex aequo)
Knorr & Pürckhauer Architekten, Zürich; Gersbach Landschaftsarchitektur, Zürich

Team 03 (ex aequo)
kunzarchitekten, Sursee; NYX Architectes, Zürich; Skala Landschaft Stadt Raum, Zürich

Team 04 (ex aequo)
Marques Architekten, Luzern; Appert Zwahlen Partner, Cham

Fachjury

Luca Deon, Architekt, Luzern (Vorsitz); Zita Cotti, Architektin, Zürich; ­Christoph Geiser, Architekt, Sursee; Sigrid Hausherr, Landschaftsarchitektin, Zürich; Cristina Trofin, Architektin, Luzern; Oliver Tschudin, Architekt / Raumplaner, Präsident Stadtbaukommission Sursee

Sachjury

Martin Fuhrimann, Landi Sursee; Thomas Bolliger, Landi Sursee; Thomas Fischer, Weinhof, Sursee; Urs Fischer, Fasshütten, Sursee; Jost Estermann, Estermann Immobi­lien, Geuensee

Verfahrensbegleitung 

Büro für Bauökonomie, Kriens

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