«Es geht um Gras­wur­zel­ar­beit»

Europäisches Kulturerbejahr 2018

Der Berliner Kunsthistoriker Jürgen Tietz gehört zu den geistigen Paten des Europäischen Kulturerbejahrs 2018. Mit ihm und SIA-Vorstandsmitglied Anna Suter sowie Oliver Martin, dem Baukultur-Verantwort­lichen des BAK, sprachen wir über Chancen und Ziele des Themenjahrs.

Publikationsdatum
06-04-2018
Revision
06-04-2018

SIA: Was ist das Einzigartige am europäischen Kulturerbejahr – und was bezwecken seine Initiatoren?
Jürgen Tietz: Das Besondere am Kulturerbejahr ist der über­greifende, europäische Ansatz; und es ist tatsächlich keineswegs der Versuch, nur ein neues Label, ein neues Gefäss zu platzieren. Vielmehr geht es uns darum, einen verstärkten Zusammenhalt zwischen den schon tätigen Akteuren zu schaffen, Netzwerke zu stärken und so der Idee des baukulturellen Erbes in Europa eine grössere Wirkung zu verleihen.
Anna Suter: Wichtig er­scheint mir bei diesem Grossereignis, das Baukulturverständnis aus der Fokussierung auf die Historie zu befreien. Baukultur ist nicht an eine Epoche gebunden. Das qualitätvolle aktuelle Bauschaffen ist immer eine Entwicklung aus dem Verständnis des baukulturellen Erbes. Dies einer nicht spezialisierten, breiten Öf­fentlichkeit zu vermitteln ist für mich ein wesent­liches Ziel des Kulturerbejahrs.

SIA: Wie entstand die Idee zum ­Kulturerbejahr?
Jürgen Tietz: Es ist ein paar Jahre her, da sassen wir in der Arbeits­gruppe Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz (DNK) zusammen – und stellten fest, dass das europäische Denkmalschutzjahr 1975 nun schon eine ganze Weile her ist. Wir waren uns schnell einig: So etwas bräuchte es noch einmal! Ein Denkmaljahr, um zu zeigen, dass in den Monumenten Europas die Kraft steckt, diesen Kontinent geistig miteinander zu verbinden. Denn die grossen Stile und Strömun­gen Europas sind alle grenz­übergreifend.

SIA: Am Anfang dieses Jahres stand die Davos-Deklaration vom Januar. Sie ist jedoch nicht mehr als eine unverbindliche Absichts­erklärung – reicht das?
Jürgen Tietz: Ich hoffe schon auf einen Effekt gegenseitiger Verstärkung, in dem unsere Gedanken über die Grenzen weiter getragen werden. Diesen Gedanken eine festere Basis zu verleihen ist ein mühsames Geschäft, aber die Denkmalpflege weiss, dass dicke Bretter hartnäckig gebohrt werden müssen. Insofern ist 2018 erst ein Anfang.
Anna Suter: Es stimmt mich zudem optimistisch, dass wir mit Alain Berset einen Bundespräsidenten haben, dem die Baukultur ein Anliegen ist. Dass dieses Thema überhaupt in einem wirtschaftlich und politisch geprägten Umfeld wie dem WEF diskutiert wird, ist ein sehr positives Signal für die Wahrnehmung der Baukultur.
 
SIA: Baukultur und Kulturerbe sind jedoch nicht ganz identisch …
Oliver Martin: Ja, das ist richtig. Das Kulturerbejahr 2018 ist breiter gefasst als beim Europäischen Denkmaljahr 1975 – es geht neben dem baulichen Erbe auch um das immaterielle Erbe, beispielsweise um Traditionen, Bräuche, kulturelle Praxis.
Jürgen Tietz: Und Denkmale wiederum sind nicht nur ein be­stimmtes Haus oder Ensemble. Sie sind zugleich Bausteine der Stadt und damit auch der Gesellschaft; sie erzählen nicht nur von ihrer Vergangenheit, sondern haben auch eine Rückwirkung auf die Weiterentwicklung der Städ­te. Über Stadt zu sprechen heisst immer auch, über Denkmale zu sprechen, aus ganz unterschiedlichen Zeitschichten.

SIA: Es geht also um ideellen Mehrwert, der über Geschmacksfragen hinausgeht?
Oliver Martin: Genau. Hohe Baukultur ist kein Selbstzweck. Wir sind überzeugt, dass ein hochwertig gestalteter Lebensraum einen zentralen Beitrag leistet zum Wohlbefinden aller. Wichtig ist mir mit Blick auf die Qualität des öffentlichen Raums die Idee des Gemeinguts: Die gebaute Umwelt soll nicht nur an exponierten Punkten in den Stadtzentren wohlgestaltet sein, sondern überall. Auch an den Stadt­rändern und auf dem Land. Lebenswerte Räume und baukulturelle Qualität also nicht als Luxus für einzelne Innenstadtquartiere, sondern als strategischer Imperativ für die gesamte gebaute Umwelt.

SIA: Dennoch: Auf nationaler politischer Ebene und in den Massenmedien spielen Baukulturthemen nur eine marginale Rolle, wenn überhaupt …
Jürgen Tietz: Ich denke, diesbezüglich muss man schon zwischen Schweiz und Deutschland unterscheiden. In der Schweiz sehe ich eine deutlich grössere Awareness für baukulturelle Themen. Das hat sicherlich auch etwas mit der direkten Demokratie zu tun. Die Menschen beschäftigen sich hier stärker mit den Entscheiden in ihrer unmittelbaren Umgebung.

SIA: Stichwort Zukunft des Bauens – wie steht das BAK zur Förderung von Innovation und Experiment im Bereich Baukultur?
Oliver Martin: In der interdepartementalen Strategie für Baukultur, an der wir seit 2016 arbeiten, spielt mit Blick auf Ausbildung und Forschung auch die Zukunft eine wesentliche Rolle. Es gibt explizit zum Gebiet der Baukultur hierzulande bisher auch kaum Forschung. Dieses Feld möchten wir stärken.

SIA: Frau Suter, als Architektin haben Sie sich mehr als einmal für denkmalwürdige Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre eingesetzt. Wie stimmt man Bauherren um, die ein solches Gebäude eigentlich abbrechen wollen?
Anna Suter: Bauherren lehnen einen Bestanderhalt nur dann ab, wenn ihre Nutzungsbedürfnisse wegen des Schutzstatus nicht erfüllt werden können. Es geht also darum, den Schutzstatus eines solchen Gebäudes mit einer zeitgemässen Nutzung in Einklang zu bringen. Wo die Anliegen der Beteiligten fair und realistisch abgewogen werden, findet sich immer ein Weg.

SIA: Sollten Architektinnen und Ingenieure in die Politik gehen?
Anna Suter: Wir Planer und Architekten sollten aktiv in der Politik mitwirken. Dass es gelungen ist, die Baukultur in der Kulturbotschaft 2016–2020 zu verankern, ist ein grosser Erfolg! Wenn uns selbst das politische Parkett nicht so liegt, dann müssen wir stärker in effektives Lobbying investieren. Vom jetzt eingeschlagen Weg dürfen wir uns auf keinen Fall abbringen lassen!
Jürgen Tietz: Neben dem Einfluss auf die Politik braucht es breitenwirksame Sensibilisierungsarbeit in der Mitte der Gesellschaft, u. a. durch Partizipationsprozesse. Drittens liegt mir die Frage der ästhetischen Bildung am Herzen, vor allem an Schulen. Sie ist aus meiner Sicht grundlegend für die Zukunft der baukulturellen Entwicklung Europas. Es geht um Gras­wurzelarbeit: Wir müssen über ästhetische Bildung Grundlagen schaffen, um bei Jugendlichen überhaupt Kriterien entstehen zu lassen für eine qualifizierte Wahrnehmung ihrer Umwelt.

SIA: Es geht also vor allem um ­Vermittlungsarbeit?
Anna Suter: Ja – das Kulturerbejahr betrachte ich als hervorragende Plattform, um auf unkomplizierte und lustvolle Weise die Bevölkerung zu informieren und zu sensibilisieren. Nicht-Fachleute gewinnen einen ganz neuen Blick auf die Dinge, sobald man ihnen die Gründe für den Schutzstatus eines Gebäudes und die denkmalpflegerische Arbeit erklärt. Beispiel Berner Altstadt: Diese steht eben nicht unter Schutz, weil sie «alt und schön» ist. Ihr Schutz­status liegt auch in ihrem Wert als frühes Zeug­nis einer hervorragenden Stadtplanung begründet, die eng mit den damaligen Gesellschaftsstrukturen verknüpft ist.

SIA: Ist die Baukultur ideal angesiedelt beim BAK? Die Bauen und Planung betreffenden Entscheide werden in anderen Departements des Bundes getroffen.
Oliver Martin: Die Ansiedlung der Disziplin im Bereich der Kultur ist richtig. Wo könnte Baukultur besser verstanden und behandelt werden? An diesem Signal ist uns gelegen: dass an die gebaute Umwelt auch kulturelle Ansprüche gestellten werden müssen. Manchmal ist es ein Vorteil, wenn nicht alles an einem Punkt gebündelt ist. Die Verteilung auf unterschied­liche Ressorts beflügelt die Diskussionen eher. Denn wir stehen ja mit den planungsverantwortlichen Departements im Dialog und ha­ben dort feste Ansprechpartner, eine Arbeitsgruppe wurde konstituiert. Am Ende steht dann eine inter­departementale Strategie.
 

Weitere Infos: www.kulturerbe2018.ch

 

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