Generationenwohnen - Von der Idee bis zur Umsetzung
ETH Forum Wohnungsbau
Wir werden immer älter, verbrauchen immer mehr Quadratmeter pro Kopf und die Zahl an Einpersonenhaushalten wächst. Zugleich schrumpft die Fläche für neuen Wohnraum. Generationenwohnen zeigt auf, was die Raumplanung schon lange fordert: zu verdichten und Gemeinschaftsräume zu teilen.
Die soziodemografische Entwicklung in der Schweiz zeigt die Folgen der zunehmenden Überalterung auf. In gut einem Drittel der rund 3.9 Millionen Privathaushalte lebt heute nur eine Person, was 17 Prozent der ständigen Bevölkerung entspricht. Der Anteil an Einpersonenhaushalten ist besonders bei älteren Menschen hoch, Tendenz steigend. So leben heute 33 Prozent der Menschen, die über 65 Jahre sind, allein. Bei den über 75-jährigen Frauen sind es sogar 57 Prozent.1
Es wird somit notwendig, das Wohnen vor allem im Alter umzudenken. Seniorinnen und Senioren, die mit 65 in Rente gehen, haben heute noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von zwanzig Jahren. Nachdem die Kinder ausgezogen sind, ist die Wohnfläche oft zu gross, doch viele Menschen sind für die Seniorenwohnheime noch zu rüstig. Neue Wohnformen – gemeinschaftlich und genossenschaftlich – sind ein Beitrag zur Lösung.
Wie können Architektur und Städtebau dazu beitragen, den Austausch unter den verschiedenen Altersgruppen zu fördern? Was können Wohnbauträger tun, um Generationenwohnprojekte umzusetzen? Diese Fragen diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Bau an der 17. Internationalen Tagung des ETH Forums Wohnungsbau, mit dem Thema: «Generationenwohnen – von der Idee bis zur Umsetzung».
Nach Abschluss der Tagung war klar: Es gibt nicht das eine Modell für Generationenwohnen. Unterschiedliche Generationengruppen aus unterschiedlichen Lebensphasen teilen ihr Wohnumfeld miteinander und treten miteinander in Beziehung. Das Ziel von allen ist die Gestaltung von lebendigen Nachbarschaften mit einem Generationenbezug.
Grosse Unterschiede zeigen sich aber in den Wohnformen. Ob als Baugemeinschaft oder als Wohngemeinschaft organisiert, in Mehrgenerationenhäusern, Wohngruppen oder bis hin zu ganzen Wohnquartieren oder -siedlungen; ob als Genossenschaft oder private Hausgemeinschaft, ob unter dem Motto Inklusives Wohnen oder für die Generationen 50+: Die Formen der gemeinschaftsorientierten Nachbarschaften sind unterschiedlich stark formalisiert und institutionalisiert.
Care and Caring räumlich denken
Während die Lebenserwartung steigt und immer mehr ältere Menschen zuhause gepflegt werden, kommt die familiäre Solidarität an ihre Grenzen. Rund zwei Drittel aller Pflegebedürftigen in der Schweiz werden von Partnern oder Partnerinnen gepflegt und von erwachsenen Kindern – mehrheitlich den Töchtern. Doch die Angehörigen nehmen ab und der Wertewandel führt zu weniger Bereitschaft für die Care-Arbeit. Da die Wahlverwandtschaften an Bedeutung gewinnen, sollte die Familie neu definiert werden, fordert Prof. em. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello,Vizepräsidentin der Seniorenuniversität Bern.
Dafür müsse das Verständnis der Älterwerdenden für die jüngere Generation und umgekehrt gefördert werden. Heute bestehe eher ein Neben- statt eines Miteinander. Eine zusätzliche Hürde: negative Altersbilder! Gestern wie heute seien Spannungen und Ambivalenzen ein immanenter Bestandteil von Generationenbeziehungen. Um letztere zu stärken, müsse der soziale Austausch zwischen den Generationen gefördert werden. In diesem Sinne sei das Zusammenleben von verschiedenen Generationen auch eine Chance.
Zugleich sei das Bedürfnis, zusammenzuleben und Beziehungen und Bindungen zu pflegen essenziell für Gesundheit und Wohlergehen, wie die Corona-Pandemie zeigte. Projekte wie Generationenwohnen sind hier zukunftsweisend und für alle Beteiligten ein Gewinn.2
Das «soziale Wohnen», wie es in kleinen Gemeinden noch praktiziert wird, beruht auf gegenseitige Hilfe und Unterstützung unter den Generationen, was zum einen die Arbeitsteilung ermöglicht, und zum anderen Vereinsamung verhindert. Die Raumplanerin und emeritierte Professorin Dr. Barbara Zibell fordert, die Raumentwicklung vom Wohnen her zu denken, indem die «Care-Arbeit» im Fokus liegt und auch die Bedürfnisse der Sorge- und Versorgungswirtschaft in den Mittelpunkt gestellt werden – vorausgesetzt, das ganze Leben ist im Quartier möglich. Dazu gehören die Existenzsicherung, täglicher Bedarf und Erhalt der Umwelt mit Blick auf künftige Generationen. Dies erfordere ein Umdenken in der Raumplanung: Individuelle Flächen in den Wohnquartieren müssen so klein wie möglich gehalten werden, zugunsten von Gemeinschaftsflächen und Bewegungsräumen.
Erschliessungsräume gewinnen damit an Bedeutung. Als positive Modelle nennt Zibell etwa den Bramshof in Zürich (Evangelischer Frauenbund Zürich, 1985) oder ein jüngeres Beispiel: Der Wohn- und Gewerbebau Zollhaus in Zürich (Enzmann Fischer Partner, 2020/21). Hier entstand eine gute Mischung aus Rückzugsorten und Orten, die Gemeinschaft fördern, nutzungsneutrale und flexible Räume, die Integration und Vernetzung mit der Umgebung und der Nachbarschaft ermöglichen.
Mehr als Wohnen
Ein Grossteil der älteren Generation ab 50 möchte selbständig wohnen, ist aber zunehmend auf Hilfe angewiesen und verliert soziale Kontakte, stellt Dr. Annette Spellerberg, Professorin für Stadtsoziologie fest. In ihrer Forschungsprojekt an der TU Kaiserslautern3 untersucht sie, welche Hilfestellungen durch Nachbarn erwünscht sind. Mehr als die Hälfte der Befragten haben bereits die Post für die Nachbarn entgegengenommen. Ein Drittel wäre bereit, Einkäufe und Besorgungen zu übernehmen. Und ein Viertel könnten sich vorstellen, in einer Gemeinschaftswohnform zu leben.
In gemeinschaftlichen, selbst organisierten Wohnprojekten wird eine neue Balance von Privatheit und Gemeinschaft gesucht – und zumeist gefunden. Um den Austausch unter Bewohnern zu fördern, sollten sie nicht nur soziale und funktionale Aufgaben teilen. Denn Menschen aus ähnlichen sozialen Strukturen und mit ähnlichen Wertevorstellungen schliessen sich öfters zur Entwicklung von Wohnprojekten zusammen.
Kurt Lampart, Mitbewohner der Mehrgenerationensiedlung Giesserei Winterthur spricht aus Erfahrung: «Es braucht gemeinsame Ziele und Themen, wie bezahlbarer Wohnraum, selbst organisiertes oder partizipatives Wohnen oder ein ökologischer Lebensstil, damit die Idee eines Gemeinschaftsprojekts umgesetzt wird. Gibt es keine langfristige Motivation, geht die Luft raus».
Verena Bruderer von Solinsieme, Genossenschaft für neue Wohnform, St. Gallen kann dies bestätigen. Seitdem die vier alleinstehenden Frauen vor mehr als zwanzig Jahren die Genossenschaft gegründet haben, um sich gegenseitig zu unterstützen, hat sich die Familiensituationen geändert und der Altersdurchschnitt ist zu hoch. In der Genossenschaft gibt es kaum Wechsel und das Gemeinschaftsgefühl fehlt heute.
Noch ein Nischenprodukt
Die meisten Referenten waren sich einig: Das Generationenwohnen ist noch ein Nischenprodukt. Das läge daran, dass es in der Schweiz nur knapp 5 Prozent genossenschaftlichen Wohnungsbau gibt, meint Eva Herzog, Ständerätin von Basel-Stadt und Präsidentin der Wohnbaugenossenschaft Schweiz. Sie wünscht sich, dass der Anteil an Genossenschaften wächst, denn diese seien im Gegensatz zu vielen institutionellen Wohnbaugesellschaften nicht gewinnorientiert.
Grosse Unterschiede gibt es beim Grad der Selbstverwaltung und in den Organisationsformen, ob bottom-up oder top-down. Kleinere Projektgrössen sind von Vorteil, dann sei ist leichter Gemeinschaften zu bilden. Zu diesem Schluss kommen die Sozialanthropologinnen Dr. Eveline Althaus und Leonie Pock vom ETH Wohnforum. Sie haben das praxisorientierte Forschungsprojekt zu fünf Generationenwohnprojekten in der Schweiz erarbeitet, in Zusammenarbeit mit dem Sozialgerontotologen Prof. Dr. Ulrich Otto, Geschäftsführer des Netzwerks age-research.net und Prof. Dr. Heidi Kaspar, Co-Leiterin Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung.
Sie stelltenfest, dass die Generationen tendenziell unter sich bleiben, gleichzeitig aber niederschwellige Kontaktmöglichkeiten zu anderen schätzen. Bei allen Projekten gab es Bedarf an internen und externen Kommunikations- und Schlichtungsgefässen. Die meisten Konflikte entstehen, wenn eine Sanierung ansteht und die Finanzierung geregelt werden muss.
Die grossen Paradigmen im Wohnungsbau werden durch das Care-Prinzip bestimmt; dieses umfasst das ganze Spektrum, von der Mobilität bis zur Flächeneffizienz. Deshalb ist es gemäss Prof. Dr. Ulrich Otto richtig, ein «age-Friendly environment » zu fordern. Dies impliziert die Entwicklung zur 15-Minuten-Stadt, in der das Generationenwohnen möglich ist. Heidi Kaspar hebt hervor: Ziel ist es, in Zukunft nachhaltiger und ökologischer zu leben und dazu gehört, das Wohnen zu teilen. Das Potenzial im Generationenwohnen ist längst nicht ausgeschöpft.
Die Beiträge der Referentinnen und Referenten finden Sie unter diesem Link.
Anmerkungen
1 Dr. Jennifer Duyne Barenstein, Leiterin ETH Wohnforum und ETH MAS in Housing, ETH Zürich, Begrüssung und Einführung zum ETH Wohnforum
2 Deloitte insights: The future of aging, 2019
3 Forschungsprojekt, 4/2013-3/2015 gefördert vom Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz. Bearbeitung: Pia Gerhards