Fünf Thesen zur Ingenieurbaukunst
Die Kolloquiumsreihe der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst zum 25. Jahrestag ihrer Gründung ging in die zweite Runde. Dr. Jacqueline Pauli, Bauingenieurin und Mitglied der Geschäftsleitung von ZPF Ingenieure, verriet in fünf Thesen, wie ihr Büro Ingenieurkunst pflegt und woraus für sie deren Essenz besteht.
«Spektrale Planung» hiess der Titel des Vortrags. Mit diesem Begriff möchten ZPF Ingenieure zum Ausdruck bringen, dass es für jeden Entwurf eine neue Kombination aus technischen Spektren der Gebäudeplanung braucht. Die spektrale Planung ist der Werkzeugkasten für wechselnde Anforderungen und projektspezifische Kompetenzen und Charaktere. Und sie ist die Grundlage für gute Ingenieurbaukunst – vorausgesetzt der Werkzeugkasten kommt frühzeitig im Entwurf zum Einsatz.
Doch im Hochbau gibt die Architektur den Ton an. Tragwerksplaner sind zu oft «nur» Statiker, die den architektonischen Entwurf übernehmen, die Tragelemente bemessen und die Bewehrungseisen festlegen. Die Annahme liegt nahe, dass es nicht darauf ankommt, welcher Ingenieur die Bemessung macht, denn bei gegebenem Entwurf und getaner Berechnung nach Norm resultiere automatisch der identische Output. Weit gefehlt! Auf diese Weise kann kaum gute Ingenieurbaukunst entstehen. Denn «Ingenieurkunst beginnt mit dem Entwurf», plädiert Jacqueline Pauli schon rasch in ihrer Rede und verweist damit auf die erste von insgesamt fünf Thesen, die bei ihr Grundlage sind für gute Ingenieurbaukunst.
Wenn alle Randbedingungen vorgegeben sind, die Materialisierung bereits feststeht, die Bauherrschaft das Projekt und die Kosten abgesegnet hat und die Baubewilligung vorliegt, ist es schwierig, sich als Tragwerksplaner noch in den Entwurf einzubringen. «Erfahrungsgemäss sind aber Randbedingungen und Materialisierung gar nicht so zwingend, wie es auf den ersten Blick scheint», so Pauli. Die Kunst bestehe darin, herauszufinden, welche Wünsche und Vorgaben tatsächlich unabdingbar seien und wo es noch Spielraum gäbe, den architektonischen Entwurf so zu lenken, dass letztlich ein gelungenes und auf den Entwurf abgestimmtes Tragwerk entstehen könne, das die Architektur nicht einschränkt, sondern stützt.
Ein gelungenes Beispiel diesbezüglich ist der Show-Room von Vitra. Der architektonische Entwurf basiert auf der Idee, die Möbel- und Designstücke nicht in einer grossen Halle zu präsentieren, sondern in kleinen Räumen von auf- und nebeneinander gestapelten Häuschen mit Giebeldach (vgl. TEC21 19/2010). Die Stapelung fusst auf statischen Spielregeln, die ZPF Ingenieure den Architekten von Herzog & de Meuron vorab mitgegeben hatten, um das Bauwerk realisierbar zu gestalten. «Mit den wenigen, offen formulierten Randbedingungen» verdeutlicht Pauli, «konnten wir auf den Entwurf Einfluss nehmen, ohne die gestalterischen Freiheiten einzuschränken».
Das Spektrum abdecken
Diese für ZPF eigene Arbeitsweise zeigt sich auch im Tragwerksentwurf des Museums der Kulturen in Basel (steeldoc Prix Acier 02/2011, Anerkennung). Es ist in einem historischen Gebäudeensemble beim Münsterplatz in der Basler Altstadt untergebracht. Das Dach der Aufstockung sollte von keinem Punkt des Münsterplatzes aus gesehen werden, woraus sich die charakteristische Dachform ergab. Seine unterschiedlichen Höhen sind so ausgeführt, dass sie hinter den bestehenden Giebeln verschwinden. Das räumliche Stahlfachwerk übernimmt die Geometrie und überspannt als leichte Konstruktion die gesamte Gebäudebreite stützenlos, sodass die anfallenden Mehrlasten nur auf die Aussenmauern abgegeben werden müssen.
Wie der Lastabtrag für das Vitrahaus verdeutlicht auch diese Tragkonstruktion, wie wichtig es als planender Ingenieur ist, sich unvoreingenommen und offen einem architektonischen Entwurf zu stellen. Denn – These Nummer zwei – «Ingenieurkunst lässt sich nicht in eine Schublade stecken», so Pauli.
Um dieser Vielfalt entsprechen zu können, haben ZPF Ingenieure für sich den Begriff der Spektralen Planung eingeführt: «Die Statik ist unser Handwerk, die Spektrale Planung unsere Arbeitsweise, die Ingenieurkunst unser Ziel.» So ist der Startpunkt eines jeden Projektentwurfs das Tragwerk – die Kerndisziplin der Ingenieure, auf der sie aufbauen, ohne genau zu wissen, wohin die Reise hinführt.
Offen hinsichtlich des Materials und der Konstruktionsart funktionieren die Ingenieure während der Entwurfsphase als Generalisten, mittlerweile oft auch die bauphysikalischen und brandschutztechnischen Konzepte mit abdeckend, und übernehmen erst in einer späteren Planungs- oder Bauphase und während der Ausarbeitung der einzelnen Details die Rolle der Spezialisten. So fügt sich die Erweiterung des Kunstmuseums in Basel vor allem deshalb so gekonnt in den Kontext, weil die Fassade ohne Dilatationsfugen erstellt wurde (TEC21 33-34/2016). Das spezialisierte Wissen und der Erfahrungsschatz um monolithisches Sichtmauerwerk floss als allgemeine Idee und Input in die architektonische Konzeption ein und liess sich danach ausgefeilt und detailliert berechnet umsetzen.
Der nackte Rohbau
Eine Tragstruktur sollte eins sein mit der Architektur. Dabei darf man die geplante Nutzung aber nicht mit der Architektur verwechseln. «Es geht nicht darum, die notwendigen Raumeinteilungen mit tragenden Elementen auszubilden und damit eine Einheit zwischen Tragwerk und Nutzung herzustellen – das ist zu kurzsichtig gedacht und kann zu aufwendigen Umbaumassnahmen oder zum vorzeitigen Gebäudeabbruch führen», erklärt Pauli. Die Kunst bestehe vielmehr darin, ein Tragwerk zu entwerfen, das mit der architektonischen Sprache des Gebäudes harmoniert, gleichzeitig vielfältige Nutzungen zulässt und so bestenfalls über Generationen funktional bleibt.
GRID, das momentan in Allschwil gebaut wird, zeigt dieses zielführende Konzept exemplarisch. Die Nutzung für das Gebäude stand über weite Phasen der Planung nicht fest, da der Ankermieter noch nicht bekannt war. Labors, Büros oder auch eine Hotelnutzung waren denkbar. Entsprechend offen musste der Entwurf von architektonischer und technischer Seite gestaltet sein. Das Planerteam entwickelte ein Gebäude, dessen horizontale Aussteifung vorwiegend in der Fassade liegt, das Erscheinungsbild des Baus prägt und die Balkone stützt. Tragwerk, Fassade und bauphysikalisches Konzept sind in enger Zusammenarbeit entstanden, sodass der Beton sichtbar bleiben konnte – These Nummer drei: «Niemand soll sich verkleiden müssen, auch der Rohbau nicht». So reduziert sich – neben dem produzierten CO2 und den verbrauchten Ressourcen – zumindest der Materialeinsatz beim Ausbau.
Spektrale Planung bedeutet auch nachhaltiges, ressourcenschonendes und energiesparendes Bauen. So sind beispielsweise die Erkenntnisse aus den Nachhaltigkeitsberechnungen, die ZPF aus dem Studium von Energiebilanzen und dem Vergleich der grauen Energie verschiedener Konstruktionen für das Smart Living Lab in Fribourg gewinnen konnte, mittlerweile fester Bestandteil ihrer Planung.
Zeitlos (weiter)bauen
«Ingenieurkunst ist im Resultat zeitlos», meint Pauli. Aber bei deren Erarbeitung ist die Anwendung aktueller Technologien ein essenzielles Werkzeug. Ingenieurskunst ist daher immer auch vom Zeitgeist und dem soziologischen Umfeld geprägt. Scheut man weder Aufwand noch Geld, so ist gegenwärtig statisch fast alles möglich. Ausserdem ist der Investitionsdruck aus der Wirtschaft hoch, im Umfeld von Negativzinsen verspricht oft nur noch die Immobilienbranche Rendite. In der Schweiz mit begrenzten Bodenressourcen muss für einen Neubau oft ein Altbau verschwinden. Meist ist der Gebäudebestand aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betroffen, auch, weil weniger denkmalgeschützt.
Diese rückgebauten Tragwerke hätten problemlos noch ein paar Jahrzehnte bestehen können. Ihre definierte Lebensdauer wäre noch lange nicht erreicht gewesen. Das zeigt sich exemplarisch bei der Erweiterung und Neugestaltung des Gebäudebestands im Norden des Dreispitzareals in Basel. Der Bestand wird aufgestockt. Ermöglich durch die Tragreserven in den bestehenden Baustrukturen zum einen und der leichten Holzkonstruktion des Aufbaus zum anderen.
Man fragt sich daher, weshalb nicht vermehrt weitergebaut wird – zumal Ingenieuren Hochleistungsmaterialien und -produkte zur Verfügung stehen. Können sie die Verantwortung für all die technisch intakten Tragwerke, die eingestampft und zu Deponiegut verarbeitet werden, auf die Wirtschaft oder die Politik schieben?
«Ich wünsche mir, dass wir es uns nicht ganz so einfach machen, sondern uns fragen, was wir als Tragwerksplaner, tun können, um zu verhindern, dass technisch einwandfreie Tragwerke abgerissen werden.» Pauli denkt noch weiter: «Vielleicht sollten wir unsere Kräfte und unser Wissen nicht in statisch und technisch noch ausgefeiltere Tragwerke investieren, sondern in die Entwicklung von Bauwerken, die von der breiten Bevölkerung so geschätzt werden, dass niemand auf die Idee kommt, sie wieder abzureissen. Dass vielleicht gerade die Vernarrtheit in die eigenen statischen Fähigkeiten und die technische Optimierung der Tragwerke dazu führen, Bauwerke von der Bevölkerung zu entfremden. Ein Tragwerk ist kein Selbstzweck, sondern steht zusammen mit der Architektur im Dienst der Menschen. Daher ist das Ziel der Ingenieukunst nicht das statisch, sondern das gesellschaftlich optimale Bauwerk, in dem sich mehrere Generationen wohlfühlen und das sie für sich anpassen können.» – These Nummer vier.
Über die Lebensdauer hinaus
Nicht jedes Bauwerk muss für die Ewigkeit errichtet werden. Historisch gesehen wurden vor allem die öffentlichen und zu Repräsentationszwecken errichteten Bauwerke aufwendig und dauerhaft gebaut. Für manche Wohn- und Bürobauten ist es nicht sinnvoll, sie als Zweckbauten für mehrere Generationen zu bauen. ZPF Ingenieure verfolgen daher den Ansatz, auch Tragwerke zu entwerfen, die bedenkenlos nach ein paar Jahrzehnten rückgebaut werden können. Solche Tragkonstruktionen sollen allerdings auseinandergebaut und wiederverwendet oder sortenrein getrennt und in geschlossene Kreisläufe zurückgegeben oder direkt kompostiert werden können.
Denn – These fünf – «Ingenieurkunst endet erst mit dem Rückbau». «Mit diesem Konzept können wir die Entscheidung, ob ein Bauwerk 20, 50 oder 100 Jahre bestehen soll, guten Gewissens den nachfolgenden Generationen überlassen.»
25 Jahre Ingenierbaukunst
Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, 1995 von Prof. Marti an der ETH Zürich gegründet, feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass veranstaltet sie eine Reihe von Kolloquien, die seit Herbst 2020 in allen Sprachregionen der Schweiz stattfinden. Ziel ist, das Bewusstsein der kulturellen Bedeutung der Ingenieurbaukunst und ihren Stellenwert für die Tätigkeit des Bauingenieurs und der Bauingenieurin aufzudecken.
Deren baukulturell wertvolle Tätigkeit beschränkt sich nicht auf den pragmatischen Ansatz, die technischen Aufgaben zu lösen. Vielmehr pflegen sie einen reflektierten Umgang mit dem vererbten Bestand an Bauwerken und mit den komplexen Randbedingungen im bereits gebauten Umfeld. Neben dem fundierten Fachwissen sind dafür auch die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung der Bauweisen und das Wissen um die Historie der zu bearbeitenden Standorte wichtig. Nicht selten ergeben sich daraus wertvolle Denkanstösse oder gar innovative Lösungsansätze für die Projektierung und Realisierung neuer Bauwerke sowie für die Erhaltung bestehender Objekte.
Die Referentinnen und Referenten beschreiben ihren persönlichen Bezug zur Ingenieurbaukunst an konkreten und für sie beispielhaften Projekten. Giotto Messi von Schnetzer Puskas Ingenieuren tat dies als erster Referent mit seinem Vortrag «Lettre d’un jeune ingénieur» im September 2020.
Neven Kostic von Dr. Neven Kostic GmbH hätte dies als zweiter Referent mit dem Vortragstitel «L‘incertitude et la médiane» Ende Oktober getan – diese Veranstaltung musste wegen der Corona-Pandemie aber vertagt werden. 2021 folgen weitere Kolloquien – die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst hält Sie auf www.ingbaukunst.ch auf dem Laufenden.