Die Ungewissheit und der Median
Was ist kreative Schaffung im Bauingenieurwesen und was davon ist durch das Urheberrecht geschützt? Vor fast einem Jahr stellte Bauingenieur Dr. Neven Kostic Anfang Mai an der EPFL diese Frage als Einstieg zu seinem Vortrag in der Reihe der Kolloquien der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst. Seither hat sie kein bisschen an Relevanz verloren.
Was in der Arbeit der Bauingenieure ist eine kreative Schaffung und damit durch das Urheberrecht geschützt? Sind die Zeichnungen, Pläne und Entwürfe Werke mit wissenschaftlichem oder technischem Inhalt, oder sind es Werke der Baukunst? Und was in der Arbeit der Bauingenieure ist eine reine Dienstleistungsarbeit, der keine gesetzlichen Autorenrechte zugeordnet sind?
Reine Ideen, Ausschreibungen oder Berechnungen sind nämlich grundsätzlich nicht durch das Urheberrecht geschützt. «Diese doppeldeutige Mitarbeit der Bauingenieure und Bauingenieurinnen als Dienstleister oder als co-kreative Schaffende verwirrt die Gesellschaft, was ihre Rollen angeht – manchmal irritiert es auch die Bauingenieure und Bauingenieurinnen selbst», meinte Kostic während seiner engagierten Rede und plädierte weiter: «Wenn das Architekturwesen eine kreative Schaffung ist, dann ist es das Bauingenieurwesen mindestens als verwandelte kreative Schaffung ebenso und zieht verwandte Schutzrechte an sich. Denn vereinfacht gesagt: ‘Ohne eine Tragstruktur kann keine Architektur oder Baukunst entstehen’.» So sein Statement.
Kreatives Schaffen – Ansichten als Einsichten
Um die kreative Schaffenskraft als Tragwerksplaner im Sinn eines Structural engineers und co-kreativen (Er)Schaffers zu festigen, kam Kostic zu drei, für ihn wichtige und wesentliche Ansichten:
Erstens: Die Offenheit zu den anderen Wissenschaften. Es sei zum Beispiel paradox, dass Fachwerke erst hunderte Jahre nach Ihrer Anwendung im Schiffbau im Bauwesen zum Einsatz kamen. Ist man offen, über den eigenen fachspezifischen Tellerrand zu schauen, so kommen viele Ideen, Erfindungen, Errungenschaften in ‘fremden’ Disziplinen zum Einsatz und liegen in den ‘eigenen’ Fachbereichen nicht unausgeschöpft brach.
Zweitens: Die Wichtigkeit der klassischen Festigkeitslehre, die eine Basis der transversalen Tragwerksplanung mit allen Baumaterialien darstellt. Erst das grundlegende Verständnis für die Gesetze der Festigkeits- und Verformungslehre ermöglicht es, sie mit transversalen Kompetenzen auch in anderen und neuen materialtechnologischen Bereichen anzuwenden, abgeändert einzusetzen oder gar weiterzuentwickeln.
Und Drittens: Die Interdisziplinarität der Tragwerksplanung. Die Tragwerke sind nicht nur Brücken und Gebäude, sondern auch Flugzeuge, Schiffe oder Möbel. Alle diese Tragwerke mit verwandelten Techniken und Konstruktionen sind immer inspirierende Ideenquellen.
Werkbeispiele mit konstruktiver Kreativität
Kostic stellte mehrere seiner eigenen Projekte ebenfalls als solche Inspirationsquellen vor – ein Schulhaus in Zürich, das er zusammen mit dem Architekten Jan Kinsbergen plante, den Basler Pavillon mit den Architekten Truwant + Rodet, Parkings in Bahrain (Arch. Christian Kerez), den Holliger Tower in Bern (Arch. TEN) und die Erweiterung des WHO-Gebäudes in Genf (Arch. Berrel Kräutler). Zwei Bauwerke wurden im Vortrag ausführlich erläutert und das kreative Schaffen der Ingenieure herausgestrichen.
Holliger Tower in Bern (Wettbewerb 2021, geplanter Baubeginn Herbst 2024)
Um den CO2-Fussabdruck der Bauindustrie zu reduzieren und gleichzeitig die Bedürfnisse der wachsenden Bevölkerung zu befriedigen, braucht es neue und skalierbare Design-Prototypen. Das erfordert innovatives Denken. Die Eidgenössischen Bahn Gesellschaft (EBG) lud das Planerteam um TEN Architekten und Neven Kostic ein, um ein architektonisches Konzept für einen genossenschaftlichen Wohnturm in Bern vorzuschlagen. Die Planenden entwickelten ein dreigeschossiges hybrides Bausystem, das zugleich die Vorteile eines Beton- als auch eines vorfabrizierten Holzelementsystems nutzt. Es vereint die besten Eigenschaften jedes Systems, reduziert Material- und Bauzeit und bietet einzigartige räumliche Möglichkeiten über die gesamte Lebensdauer des Gebäudes.
Als primäres Tragwerk wurde ein Skelettbau in Massivbauweise erstellt. Vorgefertigte Betonstützen und ein zentraler Erschliessungskern tragen Stahlbetondecken aus Ortbeton, die nur in jedem dritten Stockwerk errichtet wurden. Es entstand eine robuste, auf 500 Jahre Haltbarkeit ausgelegte Tragkonstruktion, die auch schneller als üblich aufgestellt werden konnte – im Vergleich zur üblichen Praxis in einer um ca. 36 Wochen verkürzten Bauzeit vor Ort. Zwischen den Betondecken befinden sich Holzelementsysteme in Form von freistehenden dreigeschossigen Baukörpern. Weil die Lasten alle etappenweise über die Betondecken zu den Kernen weiter in den Baugrund geleitet werden, kann jede Holzkonstruktion dazwischen filigran, ohne übermässig hohen Laminierklebstoff und effizient erstellt werden.
Das System ermöglicht überdies, dass die Räume zwischen den Decken unabhängig vom Rest des Gebäudes funktionieren, indem jede einzelne Erschliessung jeder Deckenebene zum zentralen Kern geleitet wird. Oder die einzelnen Holzbauten bzw. Leichtbauten können separat und unabhängig voneinander während ihrer 50- bis 100-jährigen Lebensdauer ausgetauscht werden, ohne die Gesamtfunktion des Turms zu beeinträchtigen. Auf diese Weise können lokale Anpassungen vorgenommen werden, um veränderten Standards, neuen Nutzungskonzessionen oder dem Druck zur Kapitaloptimierung gerecht zu werden, ohne dass die Betonstruktur abgerissen werden muss.
Solche langfristig gesteckten Zeithorizonte stellen den typischen Investitionszyklus von Gebäuden infrage und eröffnen neue Möglichkeiten für alternative schichtbasierte Eigentums- und Nutzungsmodelle. Auch architektonisch bieten sich neue Wege und einzigartige materielle und strukturelle Ausdrucksmöglichkeiten in Abhängigkeit von der Lage der Räume innerhalb des Aufbaus. So dienen in diesem Projekt eine Reihe von Atrien mit Gemeinschaftseinrichtungen und -räumen dazu, die Wohnungen zu verbinden und vertikale Nachbarschaften zu unterstützen. Die sozialen Möglichkeiten des Wohnens in hoher Dichte werden erweitert.
Erweiterung des WHO-Hauptsitzes, Genf
Die Erweiterung des Hauptgebäudes, das 1966 vom Architekten Jean Tschumi entworfen wurde, besteht aus mehreren Teilprojekten. Der erste Teil ist der Büroturm mit neun Ober- und drei Untergeschossen. Der zweite Teil ist der Verbindungstrakt unter Terrain zwischen dem neuen und dem bestehenden Gebäude. Neubau und Bestand sind strukturell aufeinander abgestimmt. Analog zu Tschumis Gestaltung besteht die Ergänzung aus einem verbindenden Sockel, einem zurückversetzen Erdgeschoss und dem darüber auskragenden Volumen. Die Planenden übernahmen für die Umsetzung bereits in der Wettbewerbsphase des Erweiterungsprojekts die vertikale Tragstruktur mit massiven Stützen, auf denen die gerippten Kragplatten aufliegen. Dabei besteht der Neubau aber aus verschiedenen Tragwerken, die auf je nach Situation auf ihre Funktion und ihren Kraftfluss abgestimmt sind.
Im Hauptteil des Neubaus verbinden vorgespannte Stahlbetondecken die vier über die gesamte Gebäudehöhe durchgehenden vertikalen Kerne miteinander und kragen auf der Fassadenebene aus. Die Auskragung beträgt 6.5 m bei den Gebäudekanten und 9.2 m in den Ecken. Ebenso kragen die Platten bis zu 6.5 m in das innere Atrium aus. Über diesem freien Raum spannt eine beeindruckende Kassettendecke, die vierseitig gelagert ist. Aufgrund der ausreichend grossen statischen Höhe von 1.85 m konnten die einzelnen, konisch geformten Betonträger des Gerippes konventionell aus Stahlbeton ohne Vorspannung hergestellt werden. Andere weit gespannte Räume wie der Konferenzraum oder das Foyer werden mit 20 m weit spannenden Rippendecken überspannt. Der Raum des Restaurants wiederum wird von einer Spannbetondecke variabler Dicke überspannt, deren Lasten von drei monumentalen Stützen übernommen werden.
Das Bauwerk widerspiegelt die ingenieurspezifische Leistung in ihrer Variabilität der Tragkonstruktionen. Jedes Tragwerk mit seiner eigenen statischen und gestalterischen Ausformung funktioniert effizient und beeindruckt in seiner Formgebung und abgestimmt auf seine Randbedingungen und seine Anforderungen. Das Tragwerk wird zur Architektur.
Schaffenskraft – Ungewissheit und Median
Letztlich gehe es beim Bestreben, hohe Baukultur zu erreichen, auch um das Bestreben, die mediane Qualität des Bauwesens zu erhöhen. Dabei sei – wie im Leben, so auch im Ingenieurwesen oder im Bau – die Höhe des Medians viel wichtiger als die Höhe der einzelnen Teilaspekte, meint Kostic: «Wir gehen teilweise in Ungewissheit, um den Median zu erhöhen. Und diese Ungewissheit, der Zustand, in dem etwas nicht feststeht, gilt es zu überbrücken, um die mediane Qualität des Bauwesens zu erhöhen.»
Vortragsreihe anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst
Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, 1995 von Prof. Marti an der ETHZ gegründet, feierte 2020 ihr 25-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass veranstaltete sie eine Reihe von Kolloquien, die seit Herbst 2020 in allen Sprachregionen der Schweiz stattfanden. Ziel dieser Konferenzen war, das Bewusstsein der kulturellen Bedeutung der Ingenieurbaukunst und ihr Stellenwert für die Tätigkeit des Bauingenieurs und der Bauingenieurin aufzudecken.