Ge­walt­tä­ti­ges Kon­zept

Streitthema Stadtplanung

Die Planung des Hochschulgebiets Zürich Zentrum läuft, der nächste Schritt der Überarbeitung wird in den nächsten Wochen erwartet. Carl Fingerhuth, ehemaliger Kantonsbaumeister von Basel-Stadt, betrachtet das Vorhaben kritisch: Das Raumprogramm der Bauherrschaften könne in der Stadtplanung nicht das wichtigste Kriterium sein.

Publikationsdatum
13-10-2016
Revision
14-10-2016

Die Stadt ist keine Maschine und auch kein Sandkasten 

Die Stadt ist das grosse Haus der Menschen. Die Menschen sind in ihrer Stadt «zu Hause». Heute manifestieren sich im Haus der Menschen neue Werte und Bedürfnisse, die über die von der Rationalität be­stimmte Zeit der Moderne hinausgehen. Wir reden wieder von Heimat, von der Identität der Stadt, ihrer Atmosphäre, ihrer Sinnlichkeit und Emotionalität, vielleicht sogar von ihrer Spiritualität.

Wenn  sich in den Menschen  Neues zeigt, braucht die Stadt Veränderung. Sie braucht aber auch Kontinuität. Zu viel Veränderung kann zu Heimatlosigkeit und Aggression führen, zu wenig Veränderung zu Hoffnungslosigkeit und Lethargie. So ist der Umgang mit dieser Polarität eine zentrale Aufgabe der städtischen Politik. Raumplanung, Städtebau und Architektur sind die Instrumente für diese Aufgabe.

Die Grammatik der Stadt ist wichtiger als ihre Orthografie

Um die Aufgabenverteilung zwischen Raumplanung, Städtebau und Architektur zu verstehen, hilft ein Vergleich mit der Sprache. Wenn wir miteinander kommunizieren, brauchen wir Orthografie und Gram­matik. Um uns zu verstehen, brauchen wir Wörter, die Sachverhalte definieren, und Sätze, die die Wörter in einen Kontext stellen. Wörter können ausgetauscht werden, ohne dass die Essenz der Mitteilung verloren geht. Wenn ich anstatt «Ich liebe dich» «Ich ha di gärn» sage, geht die Essenz der Mitteilung nicht verloren. Wenn wir aber die Grammatik ändern oder weglassen, ergeben sich andere Bedeutungen wie «Ich liebe dich», «Dich liebe ich!», «Liebe ich dich?» Oder Unverständliches: «Dich ich liebe».

Entsprechendes gilt für die Stadt. In ihr formuliert die Architektur die Wörter und der Städtebau die Grammatik. Die Raumplanung sagt, was sein soll; der Städtebau ist für die Struktur der Stadt verantwortlich; die Architektur betreut die Wörter. Wenn die Betreuung der Stadt nur eine Wörtermaschine ist, die Bauklötze vom Himmel fallen lässt, wird die Stadt unverständlich, fremd und chaotisch. 

Um die Transformation der Stadt zu betreuen, braucht es deshalb zuerst einmal eine Absprache über die relevante Struktur der Stadt. Daraus entsteht eine Übereinkunft über den öffentlichen Raum, das nicht zu Bebauende und die Spielregeln für die Bebauung. Was aber entscheidend ist: Diese Auf­gabe ist – im Gegensatz zur Architektur – eine öffentliche Aufgabe und eine unabdingbare Voraussetzung für ein erfolgreiches Spiel von Veränderung und Transformation der Stadt. 

In der Arbeit mit dieser ­Aufgabe gibt es eine erfolgreiche Praxis. Beispiele dafür sind etwa die Transformation des Sulzerareals in Winterthur, die Umnutzung des Güterbahnhofs an der Lagerstrasse zur Europaallee in Zürich, die Entwickung von Renens im Rahmen von Lausanne-Ouest oder die Re­qualifikation des Gebiets um den Centralbahnhof in Basel. Alle diese Vorhaben waren «politisch» und ­damit «öffentlich», was bedeutet, dass sie von Anfang an transparent waren, die vorhandene Stadt ernst nahmen, nach einer Struktur suchten und demokratische Spielregeln respektierten. Sie waren das «Scharnier» zwischen Raumplanung und Architektur.

Das Projekt «Hochschul­gebiet Zürich Zentrum»

Die Universität Zürich, die Eidgenössische Technische Hochschule und das Universitätsspital Zürich haben ihren historischen Standort auf einer Geländeterrasse zwischen der Altstadt von Zürich auf dem rechten Limmatufer und dem Wohngebiet am Zürichberg. Das Hauptgebäude der ETH und die Universität stehen am Rand dieser Terrasse und geben so dem Stadtbild von Zürich eine markante Identität. Sie sind der ­Abschluss einer im 19. Jahrhundert konzipierten Magistrale vom Bahnhof Enge über den Mythenquai zum Bellevue, mit der Rämistrasse hinauf zum Hochschulquartier. 

Im Rahmen einer Entwicklungsplanung haben die drei Bauträger – ETH, Universität und Universitätsspital –  einen Flächenbedarf von 350 000 m2 für die Erweiterung ihrer Institutionen ermittelt. Es wurde bestimmt, welche Bauvolumen sich aus diesem Bedarf ergeben, und diese Volumen wurden auf den zur Verfügung stehenden Arealen platziert.

Es stellen sich viele Fragen

Die stadträumliche Dichte
Die städtebauliche Dichte der Entwicklungsplanung ist nicht das Produkt einer stadtbaulichen Abklärung, was auf dem Areal sinnvoll ist, sondern sie hat sich nur aus dem Bedarf der Nutzer ergeben. So entsteht eine Vielzahl von Problemen.
Um das Programm zu erfüllen, wurde eine Ansammlung von Trümmern vom Himmel fallen gelassen, die nirgendwo im Gefüge der Stadt in dieser Gewalttätigkeit vorhanden sind. Es wurde ein neuer, nur an sich selber orientierter Stadtteil konzipiert, der nirgends einen Bezug zur vorhandenen Textur herstellt.
Das Profil des Projekts im Stadtbild zeigt, dass quer zum Zürichberg hinter der Altstadt eine dominante Wand aufgezogen wird, die in der Stadt zu einer neuen aggressiven Dominante wird.
Diese Gewalttätigkeit des Konzepts wird aber auch an einzelnen Bauteilen sichtbar: An der letzten Kurve der Rämistrasse zwischen der alten, unter Schutz stehenden Kantonsschule und dem Hauptgebäude der Universität werden die geschützten Bauten an der Kantonsschulstrasse abgebrochen und ein anonymes Bürogebäude hingestellt, das mit seinem Auftritt die historische Situation einer der wichtigen Strassenzüge in Zürich zerstört und die bestehenden Hauptgebäude der Universität und der ETH klein ­werden lässt. 

Die Qualität des öffentlichen Raums
Die Stadt erhält ihre Identität nicht durch die Addition von architektonischen Objekten, sondern durch den öffentlichen Raum. Weil man bei der Entwicklung des Gebiets nicht mit diesem begonnen hat, fehlt dem Konzept jetzt eine übergeordnete Logik: Der öffentliche Raum ist das, was übrig geblieben ist, nachdem die nötigen Bauvolumen aneinandergeschoben wurden.
Im Gegensatz dazu steht die Entwicklung des Areals Lagerstras­se beim Hauptbahnhof Zürich zur Europaallee. In einem Workshop-Verfahren mit mehreren Büros wurde vorerst nur der öffentliche Raum definiert: Man legte die neue, identitätsstiftende Achse und die Anschlüsse an die umgebenden Quartiere fest und definierte Spielregeln für die Baufelder.

Der Respekt vor den Spielregeln der Demokratie
Im Herbst 2015, nach vielen Jahren interner Planungsarbeit, hat Regierungsrat Markus Kägi das Projekt im Saal des Zürcher Kunsthauses zum ersten Mal den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Zürich vor­gestellt. Einleitend stellte er fest, dass diese Veranstaltung eine reine Informations- und keine Diskus­sionsveranstaltung sei. So werden wir es machen, und es wird keine Volksabstimmung zu dem Konzept geben!
Doch unsere Demokratie hat sorgfältige Regeln aufgestellt, wie über die Transformation der Stadt entschieden werden soll. Sie hat auch eine Praxis entwickelt, wie mit Veränderungen umzugehen ist.
Während der Entwicklung des Projekts Europaallee haben mehrere «Echoräume» stattgefunden, in denen sich die betroffenen und interessierten Gruppen zum Inhalt und zum Verfahren des Konzepts äussern konnten. Der Plan wurde vom Gemeinderat genehmigt und musste aufgrund eines Referendums in einer Volksabstimmung bestätigt werden. In Basel, während der zweijährigen Planungsarbeit am Masterplan Bahnhof SBB, haben wir alle sechs Monate öffentliche Berichte zum Stand der Arbeit vorgelegt, zu denen jede und jeder Interes­sierte Stellung nehmen konnte. Anschliessend mussten wir vier Volksabstimmungen gewinnen.

Auch Hochschulen und Spitäler sind in einem solchen Kontext zuerst einmal nur Bauherrschaften, die in der Stadt bauen wollen. Um die Planung für das Hochschulgebiet Zürich Zentrum von seiner Arroganz zu befreien, müsste der Projektleitung empfohlen werden, von den Methoden der vielen erfolgreichen städtebaulichen Verfahren der letzten Jahre zu profitieren. Voraussetzung wäre aber, dass die Beteiligten die Stadt nicht weiter als Maschine oder als Sandkasten wahrnehmen.
 

Anmerkung des Autors

Das Bundesgericht hat kürzlich sein Urteil zum Bauprojekt «Ringling» in Zürich Höngg veröffentlicht. Er hat den Einsprechern aus der Nachbarschaft, die bis ans Bundesgericht gelangen mussten, schliesslich Recht gegeben: Das Projekt gliedere sich nicht in die bestehende Bebauung ein. Auch bei diesem Vorhaben geht es nicht um Architektur, sondern um Städtebau. Es gelten die gleichen Vorbehalte wie beim Hochschulquartier.

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