Hanf am Bau
Am MonViso Institut im Piemont experimentiert eine Gruppe um Professor Tobias Luthe mit systemischer Innovation wie der Umsetzung einer bioregionalen Kreislaufwirtschaft. Dazu gehört auch die Wiederbelebung von Hanf – in zeitgenössischen Lösungen kommt das nur noch selten verwendete Naturmaterial zu neuem Einsatz.
Die Vorteile von Hanf, einer der ältesten Kulturpflanzen, rücken gerade wieder ins Bewusstsein verschiedener Branchen. Gemeint ist jedoch nicht die Gattung Cannabis, sondern Industriehanf, der kaum Tetrahydrocannabinol (THC) enthält, als Rauschmittel also nicht taugt. In den Bergen wachsen diese Pflanzen in einem Vierteljahr etwa drei Meter hoch; in der Ebene gibt es sechs Meter hohe Exemplare – je nach Feldgrösse eine enorme Biomasse.
«Hanf ist mit seinen markigen, bekannten Blättern und den männlichen und weiblichen Exemplaren mit deutlicher Blüte optisch interessant. Wenn man mit einer Drohne aus der Luft filmt, sehen die Grüntöne aus wie eine spezielle Moosart im Wald», beschreibt es Tobias Luthe, der die Projekte im MonViso Institut in der piemontesischen Gemeinde Ostana leitet.
Hanf wirkt sich positiv auf das Ökosystem aus. Seine starken Wurzeln lockern den Boden und ziehen Schwermetalle in die Pflanze, er benötigt keine Herbizide oder Pestizide, ist ohne viel Wasser genügsam und bietet Jungtieren wie Rehkitzen Schutz. Je nach Sorte werden mehr Fasern oder Nüsse produziert – Letztere eignen sich für Lebensmittel wie Mehl oder Öl.
Manche bleiben bis in den Oktober stehen – ideal für Bienen, die die Pollen zu Hanfhonig verarbeiten. Campanile ist eine Hanfsorte mit starken Stängeln, Fasern und hölzernem Anteil, den Schäben, die sich für biobasiertes Plastik oder Hanfkompositmaterialien am Bau eignen.
Ein gutes Produkt verbessern
Hanf am Bau ist generell ein vielversprechendes Thema. Die Hanfschäben lassen sich mit Naturkalk im Kaltluftverfahren zu Ziegeln pressen. Die Verbindung macht das Material steinhart und beständig gegenüber äusseren Einflüssen. Gute thermische Eigenschaften machen eine zusätzliche Dämmung überflüssig: Ein Minergie-Standard wird bereits mit monolithischen Steinen um die 30–40 cm Stärke erreicht.
Hanfkalk hat bezüglich Luftreinigung und Feuchtigkeitsregulation ähnliche Eigenschaften wie Lehm, sorgt also für ein gesundes Wohnklima. Durch das schnelle Wachstum und die jährliche Ernte bindet die Hanfpflanze sehr viel mehr CO2 pro Fläche als zum Beispiel Holz. Die Vorteile sind umso ausgeprägter, je länger die Schäben dauerhaft in Baumaterial gespeichert werden.
Warum also wird nicht vermehrt mit Hanf gebaut? Tatsächlich gibt es Häuser aus den nur minimal lastabtragenden Hanfkalksteinen, die ein- oder – ergänzt mit tragenden Holz- oder Betonskeletten – auch mehrstöckig sind. Solche Bauten errichtet die Firma Hanfstein aus Südtirol. Inhaber Werner Schönthaler ist auch an Projekten am MonViso Institut beteiligt.
Mit Partnern wie der ETH Zürich forscht man auf verschiedenen Ebenen an tragfähigeren Kompositmaterialien. Untersucht werden Baumaterialien aus Hanfkomposit mit Schäben, die einen sehr guten, bereits industriell standardisierten Dämmwert haben. Zum einen geht man der Frage nach, wie sich die Hanfkalksteine lastabtragend machen lassen.
Hier soll das Geopolymer Kaolin helfen – also Porzellanerde, die in China, Indien, Brasilien, aber auch in Polen, Österreich, England und Deutschland abgebaut wird. Es ersetzt den Kalk und macht die Steine strukturell berechenbar, damit man mit ihnen mehrstöckig mauern und Beton und Ziegel ersetzen kann.
Eine andere Technologieinnovation betrifft den 3-D-Druck mit demselben Material, um Wände vorzufertigen. Die Innosuisse finanziert die Innovationen – Forschung mit Praxisnutzen, die auch für die Schweizer Ökonomie einen Mehrwert generieren soll.
Am Ende des Lebenszyklus können die Steine geschrottet werden. Das Material eignet sich dann für Schüttdämmungen und als neues Komposit oder lässt sich als Düngergranulat auf einem Feld verteilen. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob der Boden je nach Menge zu basisch wird; auch die örtliche Düngeverordnung gilt es zu berücksichtigen. Die Wiederverwertungsstrategien sollen auch mit Kaolin funktionieren.
All diese Zusammenhänge werden am MonViso Institut bei der Entwicklung des regenerativen Materials systemisch miteinbezogen. Dabei betrachtet man nicht nur Ökonomie und Ökobilanz, sondern auch die Herkunft aller Materialkomponenten. Wie lässt sich die Pflanze über das Bauen hinaus verwenden, was geschieht mit der Landschaft – wie also verändern Hanffelder die Alpenregionen?
Die Pflanze eignet sich vor allem für Berggebiete in der Schweiz und in angrenzenden Ländern. Der Fokus auf die Berge hat einen guten Grund: Hanf gedeiht in den Bergzonen 3 und 4, also bis auf etwa 1900 m ü. M. Dort gibt es generell zu viel Viehhaltung. Die Tiere werden für einen Überschuss an Milch und Fleisch genutzt und geben über ihr Verdauungssystem zu viel Methangas ab. Hier könnte sich Hanf zur alternativen Einnahmequelle für Bergbauern entwickeln.
Luthe begleitet die Bachelorarbeit von Malou Geerlings, die die ökonomische Wertschöpfung in einer Bündner Bergregion pro Arbeitsstunde und die Reduktion des Eintrags an Nährstoffen wie Nitrat in die Böden, verglichen mit der Viehwirtschaft, berechnet. Hanfanbau bringt rundum Vorteile, die Nachfrage steigt und damit auch der Marktpreis – eine Chance für Regionen mit weniger guten Böden oder steilen Hanglagen. Doch dazu gilt es lokale Kompetenzen zu ergründen: das Wissen um die Pflanze und ihre Bewirtschaftung.
Case Studies in Hanf
Das «Doppio» mit zwei Wohnungen im MonViso entstand anstelle eines verfallenen, traditionell mit Natursteinen gemauerten Landwirtschaftsbaus. Die alten Steine wurden mit neuen Holzmodulen zu einem Plusenergiehaus kombiniert, das über eine PV-Anlage 200 % der selbst benötigten Energie produziert.
Hanf kam dabei vielfältig zum Einsatz: Eine Annexwand ist mit Hanfkalksteinen gemauert, und eine Wandnische vor dem Entree ist aus Stampfhanf. Beide sind in Zusammenarbeit mit dem Erfinder Werner Schönthaler und der lokalen Firma Calce Piasco entstanden.
Hanfschäben wurden auch für die Schall- und Wärmedämmung in einem Spalt von 15 cm zwischen den beiden Haushälften verwendet. Im Obergeschoss sind die Wände mit Hanfschäben verkleidet und verputzt, die Holzböden sind mit Hanffasern gedämmt.
Hanfvliesstreifen fungieren als schallentkoppelnde Schicht zwischen den Deckenbalken und den Hartholzböden in beiden Etagen. Schliesslich sind auch die Spalten zwischen den Holzfensterrahmen und den Holzwänden mit Hanffasern ausgestopft.
An einem anderen Gebäude, der Taverne, sollen wieder schlichte Systeme wie die Hanfziegel von Werner Schönthaler verbaut werden. Auch dieses Gruppenhaus entsteht mit allen möglichen Hanfbaustoffen. Damit verbunden ist ein weiteres ETH-Projekt, an dem Schönthaler und ein Stuckateur aus dem Unterengadin, der alte Häuser renoviert, mitwirken.
Ihr Ziel ist es, einen Hanfdämmputz für Aussen- und einen für Innenwände mit Kalk sowie unverkohlten und verkohlten Hanfschäben zu entwickeln. Letztere haben grössere Oberflächen und können so mehr Feuchtigkeit regulieren und Feinpartikel filtern als herkömmliche Putze.
Hanfkalkstein
Die Firma Hanfstein produziert pro Tag rund 400 m2 38 cm dicke Steine. Kombiniert mit einer Skelettbauweise sind mehrere Stockwerke möglich. In Spanien hat die Firma eine Baustelle mit drei Mehrfamilienhäusern, in Zürich entsteht im Frühjahr 2021 ein Mehrfamilienhaus. Geliefert wird in die EU und nach China.
Kennwerte Hanfkalkstein
1 ha Hanf speichert: ca. 20 t CO2 jährlich
Wärmeleitfähigkeit: 0.07 W/(mk)
Rohdichte: 300 kg/m³
Druckfestigkeit: 0.32 MPa
Wasserdampfdiffusionswiderstand μ: trocken 4.3, nass 3.8
Spez. Wärmekapazität: 1870 J/(kgK)
Brandverhalten: DIN EN 13501-1
Kalksandstein
Die Kennwerte sind u. a. abhängig von der Steinrohdichteklasse (RDK) und der Steindruckfestigkeitsklasse (SFK). Für einen üblichen Kalksandstein der RDK 1.4 und SFK 12:
Kennwerte Kalksandstein
Wärmeleitfähigkeit: 0.7 W/(mk)
Rohdichte: 1210–1400 kg/m³
Druckfestigkeit: 15 N/mm² (15 MPa)
Wasserdampfdiffusionswiderstand μ: trocken 25, nass 10
Spez. Wärmekapazität: 1000 J/(kgK)
Brandverhalten: DIN EN 13501-1 Klasse A1
Natürlich gab es auch Umwege – Hanf ist nicht immer die richtige Wahl. So hätten für das Baufundament Hanfschäben anstelle von Stahlarmierungen zum Einsatz kommen sollen. Beim dafür verwendeten Romankalk entsteht mit hydraulischem Kalkstein, Sand und Wasser ein CO2-armer, schnell härtender Beton. Doch die Hanffasern bildeten Knäuel, die zu Lufteinschlüssen führten. Die Lösung fand man darin, auf Hanf zu verzichten und die Dicke des Fundaments zu erhöhen.
Auf die Frage nach weiteren Nachteilen des Hanfs erwähnt Luthe die mangelnde Erfahrung mit dem Hanfanbau auf 1500 m Höhe. Zuerst musste das richtige Saatgut mit Keimversuchen ausgetestet werden. Im feuchten Sommerklima entsteht eine lokale, schnell wachsende Biomasse – der Hanf braucht also während des Keimens einen Wachstumsvorsprung. Der Zeitraum der Aussaat und das Wetter spielen eine Rolle.
Vor allem die ersten zwei Wochen sind anspruchsvoll, so Luthe. Es gab in der Region oft Starkhagel bis im Juni, und die klimatischen Extremereignisse nehmen zu. Wird zu früh gesät, zerstört der Hagel die Keimlinge, ist man zu spät dran, bekommen die Pflanzen nicht mehr genügend Tageslicht, um den Wachstumskreislauf abzuschliessen.
Hanf ist eine einjährige Pflanze und muss jedes Jahr neu gesät werden. Die Wurzeln bleiben im Boden und werden zu Humus. Damit Hanf gedeiht, muss der Boden aber entsprechend vorbereitet werden: Aufgrund der vielen Jahrzehnte Viehwirtschaft sind die Grasnarben über dem kaum 15 cm dicken A-Horizont des Humus so hart und dick, dass sie von Hand schwer zu bearbeiten sind.
Deshalb öffnete im ersten Jahr ein Traktor die Grasschicht. Doch bereits im Folgejahr, als man den Boden weniger aufwendig bearbeitete, gediehen die Pflanzen spärlicher. Deshalb soll heuer eine Fräse die Erde oberflächlich bearbeiten, und je nach Wetter ist eine Mulchabdeckung vorgesehen, die jedoch nicht zu dick sein darf, weil die Samen darunter sonst faulen.
Schweizer Pläne in den Alpen
2019 wurden in der Schweiz insgesamt 288 ha Nutzhanf gepflanzt. In Graubünden bauen die «Hanfpioniere» seit vielen Jahren Hanf an. Im Kanton überlegt man, wo sich mit grossen Feldern eine sinnvolle regionale Wertschöpfung stiften, zirkuläre Ökonomie und gleichzeitig Klimaschutz betreiben und bodenschädigende Milchwirtschaft reduzieren lässt.
Der voluminöse Hanfreisig soll wegen des Volumens an Ort und Stelle so verarbeitet werden, dass nur die Fasern und die Schäben transportiert werden – ohne Blätter und Gesamtstängel, die zu Medizinalprodukten oder Lebensmitteln verarbeitet werden.
Das schafft Arbeitsplätze im ländlichen Raum und treibt die Entwicklung eines nachhaltigen Ökonomiemodells mit lokalen Kreisläufen und Dienstleistungen voran. Natürlich braucht es auch bei den Behörden und der Bevölkerung vor Ort Offenheit und den Willen zur Veränderung – im Piemont wie in der Schweiz müsste man Gewohnheiten aufgeben und sich auf ein neues Landschaftsbild einstellen.
Leinen als Vlies
Die grössten Produktionen in Europa befinden sich in Nordfrankreich, es besteht allerdings eine grosse Konkurrenz aus Asien. Alles an Leinen kann verwendet werden: die Körner für Öl, die Einstreu für Tiere, die Langfasern für Textilien und die Kurzfasern – also der Reststoff aus den Langfasern – für Dämmungen. Das Rösten erfolgt durch Regen und Sonne, indem die Pflanzen nach dem Schneiden auf dem Feld liegen bleiben.
Nach etwa neun Wochen färben sie sich schwarz, und die Faserbündel haben sich vom Gewebe gelöst. Dann werden die Stängel gebrochen, der Holzkern geknickt und zerkleinert und so ein Grossteil der Holzteilchen entfernt. Anschliessend wird alles in einer Schleuder geschwungen, bis nur noch die langen Leinenfasern für Textilien übrig sind. Die kurzen Fasern können zu formbeständigen, schimmel- und insektenresistenten Dämmplatten verarbeitet werden. Aus ihnen wird auch Vlies gefertigt, das durch Stärke- oder Polyesterfasern verfestigt wird. Verschiedene Salze dienen als Brandschutzmittel. Je nach Verarbeitung sind die Platten nachher nicht mehr kompostierbar.
Kennwerte Leinenvlies
1 ha Leinen bindet jährlich: ca. 3.7 t CO2
Wärmeleitfähigkeit: 0.04 W/(mk)
Rohdichte: 30–40 kg/m
Schallabsorbtionsgrad: 0.07
Spez. Wärmekapazität: 1550–2300 J/(kgK)
Brandverhalten: nicht feuerfest (B2), (Brandschutzklasse) EI 45 bei 12 cm
Am 2. Juni 2021 findet bei SIAinForm in der Reihe «Bauressource Schweiz – Wege in die Kreislaufwirtschaft» ein Webinar zum Thema statt.