Re-use: Taktiken des Umdenkens
Als Teil der zirkulären Bauwirtschaft verändert Re-use die baulichen Rahmenbedingungen um Planung, Entwurf und Ästhetik. Die Hindernisse sind derzeit noch zahlreich – vor allem bei grösseren Bauten fallen die Bauteilbeschaffung und die einseitigen Kostenrechnungen ins Gewicht.
Re-use von Bauten und Bauteilen hat viele Umsetzungsformen (vgl. «Re-use am Bau»). An manche haben wir uns gewöhnt – bei jedem Umbau, jeder Renovation kommt die Idee zum Tragen. Geht es aber darum, systematisch gebrauchte Bauteile wiederzuverwenden oder damit gar ein ganzes Gebäude zu errichten, dann verändert das Prinzip die Ästhetik und die gewohnten Bauprozesse.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass unter anderem die Hochschule Konstanz – Technik, Wirtschaft und Gestaltung ein grösseres Projekt mit 100 % Abbruchteilen aus dem Landkreis plant und im Vorfeld das Ziel verfolgt, ein Netzwerk an Akteuren für die zukünftige Wiederverwendung von Baustoffen aufzubauen. Auch am Institut Konstruktives Entwerfen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW begleitete das Baubüro in situ im Frühling 2018 ein Semester zum Thema «Bausubstanz erhalten».
Das Problem ist naheliegend: Viele Bauten, sogar ganze Areale werden heute aufgrund einer renditeorientierten Investitionspraxis oft frühzeitig abgerissen oder ersetzt. Damit werden Bausubstanz, graue Energie und im Quartier verankerter Lebensraum zerstört. Im Wesentlichen umfasst das Re-use-Prinzip, das diesem Sachverhalt entgegenwirken soll, die Idee, Bauen nicht als Teil eines linearen, sondern eines zirkulären Systems zu verstehen.
In einem linearen System sind im Normalfall Rohstoffabbau, seine Weiterverarbeitung zu Baumaterial, der Bau selbst, später das Recycling einzelner Teile davon und der endgültige Abbruch Etappen – deren letzte ist in den meisten Fällen die Deponie. Damit endet der Zyklus. Bauen als Teil eines zirkulären Prozesses zu verstehen bedeutet hingegen, gemäss dem ersten Punkt der Kreislaufwirtschaft «Reduce» den Abbruch zu vermeiden bzw. den Zeitpunkt dafür aufzuschieben.
Kommt es eines Tages trotzdem dazu, sollen die einzelnen Bauteile für andere Bauten wiederverwendbar sein und erst ganz am Ende – viel später, als das heute in der Praxis geschieht – rezykliert werden. Dies setzt voraus, Bauten zukünftig so zu konstruieren, dass sie länger bestehen und dann wieder in ihre Einzelteile zerlegbar sind, statt sie abzubrechen. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch eine gegenüberstellende Energiebilanz – nachhaltiger Neubau mit kurzem Lebenszyklus vs. konventioneller Altbau mit langem Lebenszyklus.
Neben Energie- und Kosteneffizienz spielen aber genauso übertragene, nicht in Zahlen messbare Werte eine Rolle: Bauten oder Siedlungen können Heimat bedeuten, sind Orte des eingespielten sozialen Austauschs, von Freundschaften, die über Jahrzehnte bestehen. Zudem umfasst ein Bau oft altes Handwerk, schön gealtertes Material und grosse alte Bäume in der Umgebung. Der Ort bildet die Basis für eine langsame, organische Entwicklung, die Teil der kollektiven Erinnerung wird – ein Abbruch mit Ersatzneubau ist ein Bruch darin.
Deshalb enthält die heutige Rechnung – der Bauherr übernimmt die Kosten für den Ersatzneubau und die Entsorgung des Bauschutts und erhält im Gegenzug die Rendite – nicht alle Werte. Schon bei der Bauschuttentsorgung gibt es Unklarheiten, denn nicht alle Emissionen, die dabei entstehen, sind in den Kosten enthalten.
Die zerstörte graue Energie des vorzeitig abgerissenen Altbaus könnte mit etwas Aufwand noch beziffert werden, doch müsste sie auf die theoretisch mögliche verbleibende Anzahl Jahre des Baus hochgerechnet werden. Das Verschwinden alter Baumbestände, die nur zum Teil durch neue, junge ersetzt werden – die dann Jahrzehnte benötigen, um eine gewisse Grösse zu erreichen –, lässt sich ebenfalls nur schwer mit konkreten Zahlen beziffern.
Vollends unmöglich erscheint eine Aufrechnung des Verlusts an Wurzeln und der Verbindung zur Geschichte der Bewohner. Und trotzdem sind dies Faktoren, die, wenn man sie in die Neubaukalkulation miteinbeziehen würde, «Soll» und «Haben» der Bilanz zwischen Neubau und Re-use-Bauten beeinflussen würden.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 35/2019 «Gebrauchte Teile für neue Bauten».
Bauschutt in wertvolle Rohstoffe verwandeln
Mit jährlich 17 Millionen Tonnen generiert der Bausektor den mit Abstand grössten Abfallstrom der Schweiz. Würden Aushubmaterial und mineralischer Bauschutt nicht mehr als Abfall betrachtet, sondern als Ressource, könnte die Bauwirtschaft effizienter arbeiten und langfristig sogar Abfall eliminieren. Voraussetzung dafür ist die digitale Erfassung verbauter Materialien und Produkte in Bestand und Neubau. «Materialien erhalten eine Identität und können nicht mehr als Abfall in der Anonymität verschwinden», bringt es Thomas M. Rau, Architekt und Vordenker der zirkulären Wirtschaft, auf den Punkt. Ein Tool, das dies umsetzt, hat er mit «Madaster» ins Leben gerufen. Die gemeinnützige Onlineplattform stellt Materialpässe für Bauwerke bereit. Diese enthalten Informationen über Materialien und Produkte und zeigen deren Standort im Gebäude. Ein Gebäude wird so zu einem Materiallager, was die Wiederverwendung und Rückgewinnung von Materialien erleichtert. In den Niederlanden ist die Plattform seit 2017 live, und in der Schweiz entwickelt sie gerade eine landesspezifische Version.
Auf Madaster werden ressourcenrelevante Daten von Bauwerken inventarisiert und strukturiert zugänglich. Dies birgt Potenzial, neue Wege auszuprobieren, bestehende Prozesse und Modelle zu hinterfragen und in intelligente Designs zu investieren, die das Schliessen von Wertstoffkreisläufen fördern. Indem die Digitalisierung Transparenz schafft, erleichtert sie den Wandel hin zu in einer zirkulär organisierten Bauwirtschaft. Digitale Technologien helfen, doch es braucht das Branchen-Know-how, um die Digitalisierung sinnvoll einzusetzen und zukunftsfähig zu bauen. Eberhard Unternehmungen, Losinger Marazzi, Raiffeisen Schweiz, Swiss Prime Site, Swiss Re, SBB und Vigier/creabeton unterstützen Madaster als Partner.
Die ersten Datenpartnerschaften mit der Schweizerischen Zentralstelle für Baurationalisierung CRB und buildup, der Schweizer Datenbank für Bauprodukte, garantieren die Abbildung Schweizerischer Industrienormen. Damit sich die Praxis in der Schweiz etablieren kann, ist die Beteiligung weiterer Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Bau- und Immobilienbranche notwendig. Deshalb will Madaster in der Schweiz sein Netzwerk auf 33 strategische Partner ausbauen.
Marloes Fischer, Präsidentin Madaster Schweiz
SIA-Form: Vorträge und Reise
SIA-Form und espazium – Der Verlag für Baukultur veranstalten eine Vortragsreihe und eine Reise zum Thema «Bauressource der Schweiz: zirkuläres Bauen».
Nach dem ersten Kurs in Winterthur findet der zweite am 21. 11. 2019 von 17 bis 19 Uhr in Zürich statt. Isabel Gutzwiller vom Stahlbau Zentrum Schweiz erläutert in ihrem Einstiegsvortrag Definition, Geschichte und Formen von Re-use, Marloes Fischer von circularhub präsentiert die Baubibliothek «Madaster», und Viola John von der Hochschule Konstanz – Technik, Wirtschaft und Gestaltung stellt ihr Projekt mit dem Aufbau eines regionalen Netzwerks zur Wiederverwertung und einem Pilotgebäude vor.
Im Frühjahr 2020 ist zudem eine Themenreise nach Winterthur und Basel geplant.