In­sel des be­zahl­ba­ren Wohn­raums oder Fes­tung mit Burg­gra­ben?

Eine städtebauliche und architektonische Antwort auf Gebiete im Agglomerationsgürtel zu finden ist schwierig, denn sie besitzen weder innerstädtische Dichte noch idyllischen Dorfcharakter. Zum Glück hat das Zwicky-Areal eine industrielle Geschichte, die auch den Neubauten aus massivem Sichtmauerwerk von Giuliani Hönger Architekten Identität stiftet.

Publikationsdatum
05-08-2022

An der Glatt zwischen Wallisellen und Dübendorf entstand zunächst eine mechanische Schlosser­werkstätte, in die kurze Zeit später eine Spinnerei zur Produktion von Zwirn und Nähfaden einzog. Das Wasser des Chriesbachs und der Glatt versorgte den Betrieb mittels einer ­Turbine mit Energie. 1841 war die Geburtsstunde des Familien­unter­nehmens Zwicky & Co., das im 19. und 20. Jahrhun­dert zu einer weltbekannten Seiden- und Baumwollzwirnerei avancierte. Wie viele andere Schweizer Textilbetriebe konnte der Nähfadenlieferant jedoch aufgrund der allgemeinen Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer auf Dauer nicht bestehen, und so wurde die ­Firma 160 Jahre nach ihrer Gründung verkauft.

Umnutzungen der Produktionsbetriebe zu Büro- und Gewerberäumen fanden bereits Ende der 1990er-­Jahre statt. Ein erster Gestaltungsplan (2003) hatte die Sanierung des Stammhauses, den Neubau einer Schule sowie Wohnüberbauungen auf Baufeld C und F zur Folge. 2012 trat jedoch eine Revision des Gestaltungsplans in Kraft, ausgeführt durch das Architekturbüro Zanoni Architekten, um dem grösseren Bedürfnis nach Wohnraum gerecht zu werden und einige Schwierigkeiten des vorhergehenden Plans zu korrigieren. Die neue Planung sah die Sanierung der denkmalgeschützten Backsteingebäude in Ergänzung zu einer typologisch vielfältigen Palette an Neubauten vor. Für die Überbauung von ­Baufeld A wurden 2014 anlässlich des anonymen Wettbewerbs auf Einladung zwei allseitig geschlossene Blockränder vorgesehen. Dem dafür ­beauftragten Architekturbüro Giuliani Hönger war die Öffnung der Höfe zum Zweck der stärkeren Durchwegung und Belebung des Areals jedoch ein grosses ­Anliegen. Ergebnis sind zwei zueinander orientierte L-förmige Riegel, die eine stärkere Porosität erlauben und in den Zwischenräumen wohnliche und kollektiv genutzte Hofsituationen entstehen lassen.

Zwischen Fluss und Autobahn

Die für Industrien unabdingbare Anbindung an ein gutes Verkehrsnetz bringt für die heutige Wohnnutzung nicht nur Vorteile mit sich. Der Autobahnbau 1973 hatte die Absenkung der Glatt und den Verlust ihrer Wasser­kraft zur Folge. Zwischen Fluss, Autobahn und Bahnviadukt entsteht heute eine Restfläche (-> «Langer Park am Fluss»). Der Städtebau folgt dem Gesetz der vorherrschenden Lärmemissionen. Entsprechend der Faustregel, dass man die Strasse hört, von wo aus man sie sieht, ist die lärmexponierte Arealseite zur Neugutstrasse hin siebengeschossig bebaut und mit einem hohen Sockelgeschoss ausgestattet. Hier befindet sich ein Grossverteiler. Zur Arealmitte hin werden die Gebäudehöhen zu viergeschossigen Volumen mit ladengenutzter Arkade entlang der Quartierstrasse reduziert, um ein gleichwertiges Gegenüber zur bestehenden Bebauung herzustellen.

Der Lärmbelastung folgt ausserdem die Organisation der Wohnungen. Durchgesteckte Kleinwohnungen mit 2.5 Zimmern orientieren sich mit ihren Schlaf- und Haupträumen zum geschützten und grünen Hof mit Sandplatz, von wo der rege Autoverkehr nurmehr erahnbar ist. Zur Strassenseite befindet sich eine Laubengangerschliessung mit fest verglastem Küchenfenster und schmalen Lüftungsflügeln. In den geschützteren Zeilenbauten, an den Park der Fabrikantenvilla angrenzend, sind Atelierwohnungen mit zentral angeordneter Küche und einer Schlafgalerie untergebracht.

Moderne in der Geschichte verankert

Das Prinzip der höhengestaffelten Zeilenbauten erlaubt die Bildung eines Ensembles mit und in respektvollem Abstand zum Bestand. Dazwischen entstehen öffentliche Freiräume, die mit dem Landschaftsarchitekturbüro Appert Zwahlen Partner gestaltet wurden.

Volumetrie und Ausdruck der Architektur von Giuliani Hönger orientieren sich an den gründerzeitlichen Altbauten. Über die hinterlüftete und gedämmte Fassade aus massivem Sichtmauerwerk mit betonierter Innenschale wird das Material neu interpretiert. Gliederung sowie Gestaltung der Fassaden schaffen Bezüge zum Bestand. Der atmosphärische Zusammenhang gelingt und stärkt darüber die Identität des Areals. Die einfache Putzoberfläche der Obergeschosse fällt hingegen etwas ab. Die Fassadengestaltung greift die leichte Reliefierung des Bestands auf und übersetzt sie bei den Neubauten auf die grösseren Spannweiten der Pfeilerabstände. Die siebengeschossigen Baukörper sind klassisch gegliedert in einen Sockel aus aufgemauertem Klinker, einen dreigeschossigen Hauptbau und durch einen Kämpfer unterteilt vom dreigeschossigen Gebäude­abschluss. Die Gebäudeecken sind mit Balkonen oder Loggien besetzt und bleiben somit volumetrisch offen. Die horizontale Gliederung folgt einem unregelmässigen Rhythmus, der zu einem ­harmonischen Gesamtbild beiträgt.

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Der Sandsteinplattenbelag der Arkaden geht in den ­gelblichen Klinkerstein über und formt mit den grünlichen Aluminiumfenstern der erdgeschossigen Ge­wer­beeinheiten ein freundlich-elegantes Erscheinungsbild. In den Obergeschossen sind die Fenster im selben Farbton, jedoch aus Holz gefertigt und mit ­einem Sonnenschutz versehen. Das Fugenbild wurde genauestens geplant, und vorgefertigte Stürze erlauben ihre Aus­führung als lineares Klinkerelement anstelle eines Betonsturzes. Die konsultierten Schweizer Zie­geleien fertigen den Backstein in der Regel industriell, was zu wenig Varianz der einzelnen Steine führt. Im Unterschied dazu konnte eine norddeutsche Ziegelei ausfindig gemacht werden, die einen in der Farbigkeit lebendi­geren Stein produziert. Details wie diese machen den Unterschied für eine charakterbildende ­Gestaltung, die in kleinen Analogien zur textilen Vergangenheit in Erscheinung tritt. So beispielsweise auch der konisch zulaufende, hölzerne Türgriff zu den Haupteingängen der Treppenhäuser, der in Form einer Spindel gestaltet ist.

Insgesamt ist ein neues Quartierzentrum mit einem Ensemble aus aufeinander bezogenen Bestands- und Neubauten entstanden. Aufgrund seiner Lage zwar stark introvertiert und mit wenig Aussenbezug, gibt es in der Nähe zur Zürcher Innenstadt eine Insel des bezahlbaren Wohnraums. Ob es in Zukunft gelingen wird, aus der suburbanen «Glattstadt» zwischen Flughafen und Uster ein qualitätsvolles Stück Stadt zu stricken, wird sich noch zeigen. Mit den die Industriezeugen verstärkenden Geschwisterbauten ist bereits ein Grundstein gelegt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 25/2022 «Der Stein in der Hauptrolle».

Mehr zum Thema Backstein finden Sie in unserem E-Dossier.

Zwicky Zentrum (A6–A9) Areal Baufeld A, Wallisellen ZH

 

Bauherrschaft
UBS Fund Management

 

Entwicklung
Halter Immobilien

 

Architektur
Giuliani Hönger Architekten, Zürich

 

Fassadenplanung
gkp Fassadentechnik, Aadorf; Murtec, Kölliken

 

Tragkonstruktion
Urech Bärtschi Maurer, Zürich

 

HLKS-Planung
Beag Engineering, Winterthur/TD Plan, Lachen

 

Bauphysik
Kopitsis Bauphysik, Wohlen

 

Landschaftsarchitektur
Appert Zwahlen Partner, Cham

 

Kosten (BKP 2)
80 Mio. Fr.

 

Grundfläche (SIA 416)
27000 m2

 

Fertigstellung
2019

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