Mi­gros’ neu­es Kleid

Die notwendige statische Ertüchtigung des Hochhauses Herdern ermöglichte den Erhalt eines wichtigen Baudenkmals. Zwangsläufig stellen sich dabei Fragen zum Umgang mit dem Bestand.

Publikationsdatum
06-09-2024

Bei ihrer Eröffnung 1963–1965 war die Betriebszentrale der Migros in Zürich Herdern die grösste und modernste derartige Anlage in Europa. Entworfen von Hans Vogelsanger, Ernst Schwarzenbach und Albert Maurer sind die gewaltigen Flachbauten mit der eindrucksvollen Rampen­spirale auf das Dach und das schlanke Hochhaus bis heute ein markantes Zeichen am Eingang zum Stadtzentrum von Zürich. Die gleichzeitig sachliche und elegante Architektur verkörpert perfekt den optimistischen Zu­kunfts­glauben ihrer Zeit. Ihr Ausdruck basiert in radikaler Weise auf Funktion und Ökonomie, von den differenzierten Baukörpern bis hin zu den Details der Konstruktion. 

Das Verwaltungshochhaus wird von durchgängigen Bandfenstern geprägt, die die Büros mit viel Licht versorgen. Im Norden liegen die Fenster flächenbündig in der Fassade, im Süden dagegen etwas vertieft, um Raum für den Sonnenschutz zu lassen. Die Stirnseiten sind bis auf kleine Fenster blind. 

Im Westen, bei den Aufzügen, sind sie etwas grösser als im Osten, wo sie bloss die Nebentreppe belichten. Der strenge Raster folgt den Massen des Backsteins. Dieser wurde an den Stirnseiten zweischalig vermauert und mit Schlackebeton zu einer Hybridkonstruktion ausgegossen, während die Brüstungsbänder der Längsseiten einschalig auf Nocken der Deckenstirnen standen. Dass die Betondecken als Rippen-Plattenstruktur minimal dimensioniert sind, versteht sich von selbst. Mit einer asymmetrischen Reihe von Stahlstützen wird die mögliche Spannweite genutzt, ohne dass die Ordnung eines konventionellen Zweibünders gestört würde. 

Technisch verbessert, ästhetisch bewahrt

Nicht nur das Ungenügen dieser Bauweise bezüglich heutiger Normen machte eine Erneuerung dringlich, sondern auch grössere Abplatzungen an den Stirnseiten, die vorübergehend eine unterstützende Betonscheibe benötigten. Ein Exoskelett aus Stahl an den beiden Stirnseiten, neue Überzüge aus Beton anstelle der alten Backsteinbrüstungen und ergänzte Betonscheiben in Längsrichtung stabilisieren nun den Bau und garantieren seine Erdbebensicherheit. Die verstärkte Struktur ist gedämmt und mit einer neuen, heutigen Standards entsprechenden Klinkerfassade eingekleidet. Um das bau- und kulturgeschichtliche Denkmal nicht zu beeinträchtigen, sollte diese möglichst gleich aussehen wie die ursprüngliche Fassade. Das warf nicht nur technische, sondern auch gestalterische Fragen auf.

Die ausführliche Version dieses Artikels sowie weitere Beiträge zum Thema Backstein finden sich in TEC21 19/2024 «Backsteinbauten transformiert»

Die erste ergibt sich aus der Unregelmässigkeit des historischen Mauerwerks. Um das Bild der Indus­­trie­klinker der 1960er-Jahre mit heutigen, farblich homogenen Steinen zu reproduzieren, wurde das Erscheinungsbild der alten Fassade zunächst detailliert erfasst und anschliessend in eine dem Steinformat entsprechende Pixelstruktur in vier Farbnuancen umgewandelt, ähnlich wie bei einem Mehrfarbendruck. 

Dieses generisch erzeugte Muster wurde dem optischen Eindruck entsprechend händisch korrigiert und das Ergebnis in einen detaillierten Verlegeplan umgesetzt. Auf diese Weise war die angestrebte Unregelmässigkeit für die Maurer einfacher zu realisieren als durch generell formulierte Zielvorgaben. Der Plan entband so vom Zwang, bei jedem Stein eine Entscheidung zu treffen. 

Das Resultat ist ohne direkten Vergleich zwischen vorher und nachher nicht ganz einfach zu beurteilen. Die noch fehlende Patina lässt das Mauerwerk heute etwas gar bunt wirken. Eine Rolle spielt aber möglicherweise auch die Überarbeitung des Fleckenbilds, bei der grossformatige Felder tendenziell in eine kleinteiligere Buntscheckigkeit transformiert wurden. Aus der Ferne wirkt dies zwar homogener, aus der Nähe aber etwas unnatürlich. Hatten nicht früher Stein­gruppen oder ganze Chargen unterschiedliche Farbnuancen und weniger die einzelnen Steine?

Noch wichtiger als die Frage nach der Farbigkeit ist aber jene nach dem Umgang mit der neuen Fassadenstärke. Der spröde Charme dieser Architektur beruht nicht zuletzt auf der knappen, geradezu papierdünn wirkenden Konstruktion, die im Widerspruch zu einer nach heutigen Ansprüchen gedämmten und verstärkten Struktur steht. Um das flache Relief der alten Fassaden nachzubauen, wurden die Fenster nach aussen geschoben. 

Die Fensterbänder laufen nun an ihren Enden bis vor die alten Mauern, um die ursprüngliche, schlanke Erscheinung der seitlichen Fassadenscheiben zu erhalten. Ähnlich wie beim Eckkonflikt des dorischen Tempels sind die äussersten vier Fenster etwas gedehnt, sodass die unvermeidliche Abweichung vom regelmässigen Raster des Baus optisch nicht in Erscheinung tritt. 

Neuinterpretation der inneren Struktur

Im Innern wurde die Stirnwand an der neuralgischen Stelle durch einen Vertikalschacht zusätzlich verdickt. So wurde aus dem potenziellen Problem ein räumliches Thema, das offensichtlich nicht zum ursprünglichen Bau, sondern zur Neugestaltung gehört. Die einstigen Mittelkorridore und Einzelbüros sind verschwunden, ebenso die abgehängten Decken. Der nun weitgehend offene Raum wird durch das Relief der Rippendecken und die Lüftungskanäle strukturiert, die eine Mittelzone artikulieren. 

Die Asymmetrie der Tragstruktur zeichnet sich an der Decke in den Rippenquerschnitten ab, nicht aber im Raum. Die tragende Stützenreihe wurde vielmehr durch eine Reihe optisch identischer vertikaler Lüftungskanäle zu einer zweireihigen, symmetrischen Anlage ergänzt. Es hätte reizvoll sein können, die ökonomisch motivierte Asymmetrie und damit Spannung im Bau zu betonen. Die Architekten haben sich anders entschieden: für eine beruhigende Homogenisierung der Ordnung. 

Lesen Sie die ausführliche Version dieses Artikels in TEC21 19/2024 «Backsteinbauten transformiert»

Sanierung Hochhaus Herdern, Zürich


Bauherrschaft
Genossenschaft Migros Zürich 


Architektur
Annette Gigon / Mike Guyer Architekten, Zürich


Ingenieure
WaltGalmarini, Zürich


Bauleitung
Spiegel + Partner, Zürich


HLKS / Koordination
Concept-G, Winterthur


Fassadenplanung
Reba Fassadentechnik, Chur


Weitere Beteiligte
Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau, Zürich; Eplan, Reinach ; Banzer Beratung  & Planung, Wil; Enfors, Sempach; Migros Engineering Solutions, Zürich


Fertigstellung
August 2023

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