«Die Fach­welt schüt­telt den Kopf»

Ende Mai kündigte die Walliser Regierung eine Überarbeitung des Generellen Projekts der 3. Rhonekorrektion an. Dieser Entscheid und das zugehörige Vorgehen werden von der Fachwelt stark kritisiert. Im Gespräch mit dem Wasserbauexperten Jürg Speerli und Markus Jud, dem ehemaligen Leiter des Projekts «Hochwasserschutz Linth 2000», ordnen wir die aktuellen Geschehnisse im Wallis ein.

Publikationsdatum
16-07-2024

Wie ist der Entscheid des Kantons Wallis zur Revision des Generellen Projekts der 3. Rhonekorrektion zu werten?

Jürg Speerli: Der Entscheid hat eine grosse Bedeutung – nicht nur für die 3. Rhonekorrektion als Projekt, sondern auch schweizweit für den künftigen Umgang mit dem Hochwasserschutz. Hinter dem Generellen Projekt stecken über 20 Jahre Planung und Teilprojekte, die bereits realisiert wurden oder sich in Realisierung befinden. Das alles wird nun grundsätzlich infrage gestellt.

Ich finde es richtig und auch wichtig, dass Projekte mit derart langer Laufzeit periodisch überprüft werden – beispielsweise mit einem fachlichen Review. Im vorliegenden Fall wurde jedoch ein Büro ohne Erfahrung im Wasserbau oder Hochwasserschutz mit der Analyse beauftragt, ohne entsprechende Fachstellen, Planer, Expertinnen oder gar den Partnerkanton Waadt einzubeziehen. Das ist aus meiner Sicht nicht nur falsch, sondern auch demokratisch fragwürdig. 
Das bewilligte Generelle Projekt basiert auf einem demokratischen Prozess, wurde auf Bundesebene sowie in den Parlamenten der Kantone Waadt und Wallis verhandelt und erhielt letztlich die Zustimmung von 57 % der Walliser Stimmbevölkerung. Es ist also ein Projekt, das eine Mehrheit als ausgewogen und gut empfindet. Nun wurde quasi im stillen Kämmerlein von Staatsrat Franz Ruppen entschieden, das Projekt zu schubladisieren. Das ist für mich ein absolutes No-Go.

Störend finde ich zudem die Verzerrung fachlicher Themen. Vielfach hörte oder las man im Umfeld dieser Entscheidung von einem Renaturierungsprojekt. Das ist schlichtweg falsch. Die 3. Rhonekorrektion ist ein reines Hochwasserschutzprojekt – kein Kombiprojekt und schon gar kein Renaturierungsprojekt. Durch die Stimmungsmache im Wallis besteht die Gefahr, dass nun schweizweit Flussverbreiterungs- oder Renaturierungsprojekte in Verruf geraten. Das schadet nicht nur einer Region, sondern ist auch in einem landesweiten Kontext fatal. 


Wie beurteilen Sie den Umfang der ausschlaggebenden Analyse und die Präsentation der Ergebnisse anlässlich der Medienkonferenz Ende Mai?

Jürg Speerli: Die Analyse und auch die Präsentation der Ergebnisse hinterliessen einen komplett falschen Eindruck vom Projekt. Sowohl die Medienkonferenz als auch anschliessende Interviews waren gespickt mit Falschaussagen.
Zunächst einmal scheint mir wichtig zu verstehen, wie hierzulande Hochwasserschutzprojekte erarbeitet werden. Sie basieren unter anderem auf Gefahrenkarten, die eine Summe möglicher Szenarien – wie beispielsweise Überflutungen oder Dammbrüche – abbilden und Auskunft über die zu erwartenden Intensitäten und die Eintretenswahrscheinlichkeit geben. Davon ausgehend wird mit etablierten Instrumenten das Schadenspotenzial ermittelt und die wirtschaftliche Zweckmässigkeit von Massnahmen beurteilt. Dieses integrale Vorgehen stellt sicher, dass sämtliche Hochwasserschutzmassnahmen in der Schweiz vergleichbar projektiert werden.

In der besagten Analyse und der Kommunikation der zugehörigen Ergebnisse wurden haltlose Argumente herbeigezogen, um das Generelle Projekt zu desavouieren. Beispielsweise wird behauptet, das Projekt basiere auf falschen Grundlagen, übertriebenen Szenarien und zu hohen Dimensionierungsabflüssen oder berücksichtige weder die Auswirkungen des Klimawandels noch Retentionsmöglichkeiten in Speicherseen. Solche Aussagen sind unqualifiziert und werden den komplexen Prozessen bei Hochwasserereignissen in keiner Weise gerecht.

Nehmen wir die Dimensionierungsabflüsse: Die Rhone im heutigen Zustand hat ungenügende Abflusskapazitäten und Längsdämme, die teilweise in schlechtem Zustand sind. Aus fachlicher Sicht ist es absolut unzulässig, Vergleiche mit dem Rhonehochwasser vom Oktober 2000 oder den jüngsten Unwetterereignissen anzustellen und dabei zu behaupten, die Dimensionierung der Abflusskapazitäten auf ein hundertjährliches Hochwasser sei zureichend und alles, was darüber hinausgeht, überdimensioniert. Das Hochwasser im Jahr 2000 bewegte sich zwar in der Grössenordnung eines hundertjährlichen Hochwassers, ebenso die Abflussspitzen im Oberwallis bei den jüngsten Ereignissen. Nur hatte man in beiden Fällen Glück: Im Jahr 2000 brach ein Damm auf einem nur sehr kurzen Abschnitt in einem Gebiet mit wenig Schadenspotenzial und Ende Juni dieses Jahres handelte es sich zwar um ein heftiges, aber auch sehr kurzes und regional begrenztes Regenereignis. Hätte Letzteres länger gedauert oder wären im Raum Visp nicht schon prioritäre Massnahmen umgesetzt worden, hätte man wohl mit Dammbrüchen im grossen Stil und bedeutenden Schäden in Visp rechnen müssen.


Wie beurteilen Sie die vorgebrachten Argumente, die Auswirkungen des Klimawandels und die Retentionsmöglichkeiten in Speicherseen seien im Generellen Projekt ungenügend berücksichtigt?

Jürg Speerli: Für mich sind die Argumente schleierhaft. Gerade der Klimawandel führt zu häufigeren Niederschlägen mit grosser Intensität, zudem wird die Schneefallgrenze bei wärmerem Klima ansteigen. Das belegen auch Ereignisse aus den vergangenen 20 Jahren. Meiner Einschätzung nach wurde der Klimawandel im Generellen Projekt explizit berücksichtigt, indem der Bemessungswert für die Abflusskapazitäten bewusst im oberen Bereich der statistischen Bandbreite angesetzt wurde. Die Bemessungsabflüsse mit Argumenten des Klimawandels zu reduzieren, ist fachfremd und fahrlässig.

Retentionsvolumen in Speicherseen kann man grundsätzlich berücksichtigen, vor allem in kleineren Einzugsgebieten wie zum Beispiel bei der Vispa in Zermatt. Dazu muss man aber wissen, dass die infrage kommenden Speicherseen im Wallis nur etwa einen Viertel des Einzugsgebiets der Rhone abdecken und Spiegelabsenkungen wegen langer Vorlaufzeiten genauere Prognosen erfordern; die erhoffte Wirksamkeit lässt sich eher zufällig und weniger durch Planung erzielen. Auch treten Unwetterereignisse, die zu Hochwasser führen, im Wallis oft bis in den Herbst oder sogar Spätherbst auf – zu einem Zeitpunkt also, wenn die Speicher bereits voll sind. 

Übrigens wurden solche Massnahmen mittels einer Untersuchung an der EPFL für das Generelle Projekt geprüft, aber von den Kantonen verworfen, weil sie zu wenig Potenzial und zu grosse Unsicherheiten aufweisen. Eine Reservierung von so grossen Speichervolumen für solche Zwecke widerspricht gewissermassen auch der Energiestrategie des Bundes, die eine Erhöhung der Volumen vorrangig als Gegenmassnahme zu möglichen Strommangellagen im Winter vorsieht. Bei neuen Anlagen wird durchaus eine Mehrfachnutzung angestrebt. Diese sind entsprechend zu konzipieren und Entschädigungen sind von vornherein zu regeln. Ich bin aber überzeugt, dass sich die Wirkung auf den Nahbereich der Anlage beschränkt und für die Talflüsse wenig Potenzial besteht.

Zusammengefasst scheint mir Folgendes wichtig: Hochwasser sind Prozesse mit komplexer Dynamik und nur schwer vorhersehbaren Abläufen. Weder ein Experte noch eine Politikerin kann beispielsweise vorhersagen, ob – und falls ja – welcher Damm wann genau wo bricht. Das bewilligte Generelle Projekt der 3. Rhonekorrektion wurde auf dem aktuellen Stand der Technik und Wissenschaft unter Zuhilfenahme der gängigen Instrumente geplant und umfasst robuste und anpassungsfähige Massnahmen.


«Hochwasserschutz Linth 2000» war auch ein Generationenprojekt. Welche Faktoren im Zusammenspiel zwischen Politik und Technik sind entscheidend, damit solche Projekte trotz Widerständen im projektierten Rahmen umgesetzt werden können?

Markus Jud: Das Zusammenspiel zwischen Politik und Projekt/Projektorganisation wird generell zu wenig thematisiert. In vielen Projekten ist die Politik zwar in einem Lenkungsausschuss vertreten, tritt aber nur selten strategisch in Erscheinung. Nach meiner Erfahrung spielt die Politik in der Projektorganisation eine zentrale Rolle und ist entscheidend für den Projekterfolg. Die Politik hat die strategische Führung inne und so auch die Funktion eines Korrektivs. Diese Funktion soll sie wahrnehmen – das heisst, sie darf den Projektprozess, die Projektierungsergebnisse und die Entscheide der Projektleitung hinterfragen. Auch sind übergeordnete Entscheide – wie beispielsweise zu Varianten oder bei der Priorisierung von Massnahmen – durch die Politik zu treffen; das kann sie nicht delegieren. Ich würde sagen: Die politischen Vertreterinnen und Vertreter in einer Projektorganisation müssen die Projekte aktiv führen, um sie zum Projekterfolg zu bringen.

Beim Projekt «Hochwasserschutz Linth 2000», das sich von der Planung bis zur Inbetriebnahme über 15 Jahre erstreckte, trugen die Präsidenten der Linthkommission durch ihre aktive Führung massgeblich zum Projekterfolg bei. Zur Erklärung: Die Linthkommission ist eine Art Verwaltungsrat für das Linthwerk und mit Regierungsräten der Anstösserkantone Glarus, Schwyz und St. Gallen sowie einem Vertreter des Amts für Abfall, Wasser, Energie und Luft des Kantons Zürich besetzt.

Aktive Führung bedeutet auch, die Projektleitung zu unterstützen und ihr den Rücken für das Tagesgeschäft freizuhalten. Das haben die Präsidenten während ihrer jeweiligen Amtsdauer vorbildlich getan. Das ist wichtig, denn die Erarbeitung eines Hochwasserschutzprojekts im derzeitigen politischen Klima kann für einen Projektleiter zur grossen Belastung werden. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Im Gegenzug muss ein Projektleiter transparent und laufend über das Projekt informieren, damit die strategischen Entscheide rechtzeitig gefällt werden können. Es braucht also ein vertrauensbasiertes Zusammenspiel – fast schon eine Symbiose –, damit es funktioniert.

Jürg Speerli: Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit war ja auch in früheren Phasen der 3. Rhonekorrektion zu beobachten – ich denke da an den ehemaligen Staatsrat Jacques Melly und den früheren Projektleiter Tony Arborino.

Markus Jud: Das stimmt, dieses Engagement für das Projekt seitens Politik hat man während der Amtszeit von Jacques Melly gespürt. Nur korrespondieren die politischen Amtsdauern schlecht mit langjährigen Projekten. Ich will damit sagen: Es ist ganz natürlich, dass es über den Verlauf von Projekten zu Personenwechseln kommt. Nach meinem Verständnis ist ein Exekutivpolitiker stets zur Einhaltung der geltenden Gesetze verpflichtet; er übernimmt zudem ein Amt und somit auch die Beschlüsse seiner Vorgänger und allfälliger Volksabstimmungen. Sicher darf er Akzente setzen, muss aber seine eigene politische Agenda in den Hintergrund stellen. Er muss sich vor allem Zeit für die Sache nehmen, wenn er den Projekterfolg will – das hat viel mit dem Setzen von Prioritäten zu tun. Im Fall der 3. Rhonekorrektion ist ein solches Engagement meines Erachtens unabdingbar.


Ist es aus Ihrer Sicht grundsätzlich legitim, dass die politische Exekutive im Projektverlauf einen Einfluss auf gesetzlich bewilligte und bereits finanzierte Projektinhalte ausübt?

Markus Jud: Ja, die Politik muss sich zu jeder Zeit mit dem Projekt auseinandersetzen. Ein solch radikaler Eingriff in die Projektentwicklung wie im Wallis führt – unabhängig von dessen Zulässigkeit – aber zu jahrelangen Verzögerungen. Hinzu kommt, dass gerade im Hochwasserschutz vermeintlich einfache Lösungen, wie sie jetzt im Zusammenhang mit der Rhone zur Diskussion stehen, nicht ohne Weiteres umsetzbar sind – Stichwort Grundwasserschutz. Dafür muss dann halt die Politik die Verantwortung übernehmen.

Jürg Speerli: Aus meiner Sicht ist es legitim, wenn sich über die Jahre hinweg neue Erkenntnisse bezüglich der Projektgrundlagen oder technische Entwicklungen ergeben. Beides sehe ich in Zusammenhang mit der 3. Rhonekorrektion allerdings nicht. Es ist hingegen nicht legitim, bestehende und belastbare Grundlagen einfach als falsch zu bezeichnen und ein Projekt zu stoppen, ohne selbst fachlich belastbare Argumente vorzubringen. Das entspricht nicht den üblichen Entscheidungsprozessen.

Nach den Hochwasserereignissen von Ende Juni wird jetzt medienwirksam kolportiert, einfach die Brücken in Siders/Chippis höher zu legen. Dies ist grundsätzlich nicht falsch, aber auch nur die halbe Wahrheit. Im Projekt der 3. Rhonekorrektion sind dort auch zwei neue Brücken vorgesehen, der Hochwasserschutz muss aber für den ganzen Abschnitt Siders integral angeschaut und Lösungen gesamthaft umgesetzt werden.


Welche Tragweite könnte eine Redimensionierung des Projekts haben – technisch, rechtlich oder auch in Bezug auf den Schutz der Bevölkerung vor Naturgefahren?

Jürg Speerli: Staatsrat Franz Ruppen und der Chef der Walliser Dienststelle für Naturgefahren, Raphaël Mayoraz, sagen – auch in Verbindung mit den jüngsten Ereignissen –, das bewilligte Projekt sei viel zu kompliziert, beanspruche zu viel Land und liefere Potenzial für zahlreiche Einsprachen. Dabei orientieren sie sich an einem Alternativprojekt der Unterwalliser Gemeinden aus dem Jahr 2011, das die bestehenden Dämme sanieren und erhöhen sowie die Flusssohle minimal verbreitern und absenken wollte. 

Schon damals glaubten die Initiativgemeinden, man erhalte dadurch ein kostengünstigeres und schneller umsetzbares Projekt – also gleiche Sicherheit zu deutlich geringeren Kosten in weniger Zeit. Zu diesem Alternativprojekt gab es ein Gutachten der «Expertengruppe Zimmerli», in der auch ich vertreten war. Insbesondere Ulrich Zimmerli, ehemaliger Rechtsprofessor der Universität Bern, zeigte darin deutlich auf, dass solche Massnahmen auf Grundlage des revidierten Gewässerschutzgesetzes und der zugehörigen Verordnung aus dem Jahr 2011 nicht bewilligungsfähig sind. Dieses Gutachten wurde übrigens in der nun vorgelegten Analyse mit keinem Wort erwähnt.

Neben den rechtlichen Aspekten gibt es auch wasserbauliche, die gegen redimensionierte Massnahmen sprechen. Denn einmal umgesetzt, wären sie weder für zukünftig allenfalls noch steigende Abflüsse anpassungsfähig noch robust im Überlastfall – das Risiko bei Dammbrüchen würde gegenüber dem Generellen Projekt massiv steigen. Die Herangehensweise entspricht einer veralteten Philosophie bei der Schadensabwehr im Hochwasserschutz. Zur Erklärung: Im Jahr 1987 ereignete sich das grosse Hochwasser im Urner Reusstal. Aufgrund von Analysen dieses Ereignisses gab es einen Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz – hin zur differenzierten Betrachtungsweise, bei der man beispielsweise Gebiete mit hohem Schadenspotenzial anders schützt als extensiv genutzte Landwirtschaftsflächen.

Kurzum: Es ist falsch zu glauben, mit einer Sohlenabsenkung sowie einer Sanierung und Erhöhung der Dämme bewirke man einen robusten und dauerhaften Hochwasserschutz oder die Landinanspruchnahme liesse sich durch gezielt platzierte Überflutungskammern bedeutend reduzieren. Damit würde man sich sogar noch zusätzliche Probleme schaffen, weil sich beispielsweise durch eine Sohlenabsenkung Kurzschlüsse mit dem Grundwasser an industriell belasteten Standorten ergeben könnten, wodurch das Grundwasser verunreinigt würde. 

Ohne bedeutende Gerinneverbreiterungen bergen hohe Abflusspegel im Ereignisfall ausserdem ein erhöhtes Schadensrisiko. An der Rhone ist ein nachhaltiger und sicherer Hochwasserschutz aufgrund der Geschichte der beiden vergangenen Korrektionen – also wegen der Einengung sowie der ohnehin schon hohen Dämme – schlicht und einfach nicht möglich, ohne dabei in die Breite zu gehen. Und diese Verbreiterung darf nicht mit ökologischen Aufwertungen verwechselt werden. Die gemäss Generellem Projekt vorgesehene Verbreiterung erfolgt rein aus wasserbaulichen Gründen.

Dazu kommt, dass auch ein redimensioniertes Projekt mehrere hundert Millionen Franken kostet – nur um dann in wenigen Jahrzehnten festzustellen, dass man die erforderlichen Abflusskapazitäten doch nicht hat. Diese Anpassungsfähigkeit ist zentral für das Projekt und wenn man jetzt die Dämme noch weiter erhöht, geht diese Option verloren, um allenfalls weiter ansteigende Abflusspegel auch in 50 Jahren noch abführen zu können. Es ist nicht zu vergessen, dass wir in diesem Projekt von einer Lebensdauer von 80 bis 100 Jahren sprechen.

Markus Jud: Das sehe ich genauso. Grosse Hochwasserschutzprojekte haben eine Projektierungszeit von bis zu 20 Jahren. Ein solcher Aufwand lohnt sich nur, wenn das Projekt auf eine entsprechend lange Lebensdauer ausgelegt wird. Beim Projekt «Linth 2000» wurde daher die Lebensdauer bewusst auf 100 Jahre festgesetzt.


Welche Argumente für das bewilligte Projekt liefern die aktuellen Unwetter und wie lässt sich verhindern, dass diese Ereignisse im aktuellen Diskurs falsch interpretiert werden?

Jürg Speerli: Teilweise ist letzteres bereits geschehen in Verbindung mit den jüngsten Ereignissen, als die dortigen Abflüsse mit den Dimensionierungsgrundlagen des Generellen Projekts verglichen wurden. Aber noch einmal: Beim jüngsten Ereignis hatte man einfach nur Glück, dass es sich um ein kurzes, regional begrenztes Regenereignis handelte und im Raum Visp bereits prioritäre Massnahmen umgesetzt sind. Übrigens sind genau diese Massnahmen auf ein Extremhochwasser ausgelegt und das ist auf diesem Abschnitt auch richtig, weil die Aufrechterhaltung wichtiger Infrastrukturen im Ereignisfall nur so sichergestellt werden kann. 

Die gemessenen Abflussspitzen lagen im Raum Brig–Visp jedenfalls über einem hundertjährlichen Hochwasser. Redimensionierte Massnahmen, wie sie jetzt zur Diskussion stehen, hätten also vermutlich keinen ausreichenden Schutz geboten. Es ist gefährlich, wenn aus solchen Ereignissen und dem glücklicherweise tiefen Schadensausmass – an der Rhone selbst gab es ja im Gegensatz zu den Seitenbächen nur Sachschäden und keine Todesopfer – Argumente für redimensionierte Massnahmen abgeleitet werden.

Für das bewilligte Projekt sprechen die hohen Bemessungsabflüsse. Das Hochwasser im vergangenen Herbst und die beiden Ereignisse diesen Sommer werden in die Hochwasserstatistik einfliessen. Die Jährlichkeit von Ereignissen ist ja als statistischer Wert eine Momentaufnahme und wird von allen künftigen Ereignissen beeinflusst; es braucht vielleicht noch zwei, drei Unwetter, damit ein heute hundertjährliches Hochwasser in zehn Jahren in der Statistik noch einem fünfzigjährlichen Ereignis entspricht. Ich wiederhole mich: Projekte, die für derart lange Zeithorizonte geplant werden, müssen anpassungsfähig sein. 


Welchen Stellenwert haben die aktuell aus der Fachwelt zu vernehmenden Stimmen – denken Sie, solche Meinungsäusserungen werden von den Projektverantwortlichen gehört?

Markus Jud: Wenn den Verantwortlichen tatsächlich etwas am Hochwasserschutz liegt, erhören sie diese Stimmen. Anders sieht es aus, wenn sie eine eigene Agenda verfolgen und diese auch beibehalten wollen. Schade ist jedenfalls, dass die breite Öffentlichkeit kaum etwas vom Diskurs in der Fachwelt mitbekommt und die Kommunikationshoheit in diesem Fall leider bei denjenigen liegt, die das Projekt bekämpfen. 

Erschwerend kommt die Komplexität solcher Projekte hinzu: Ein Laie kann das Projekt gar nicht fassen oder beispielsweise zwischen der Bemessung auf ein hundertjährliches Hochwasser und ein Extremhochwasser unterscheiden. Auch sieht er nur, was hier und jetzt bei einem Hochwasser passiert oder nicht passiert, und orientiert sich an den so verbreiteten Schlagworten. Das war auch beim «Hochwasserschutz Linth 2000» ähnlich. Dagegen hat man mit fachlichen Argumenten kaum eine Chance. Diese Tendenz nimmt leider zu: Es wird immer mehr argumentlos behauptet.

Jürg Speerli: Ich bin nicht ganz so pessimistisch, was die fachlichen Argumente anbelangt. Es hat mich beeindruckt, wie beispielsweise die Stellungnahme der Fachleute Naturgefahren (FAN) in den sozialen Medien ein grosses Echo ausgelöst hat. Die Stellungnahme der Kommission für Hochwasserschutz (KOHS) des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbands geht in die gleiche Richtung. Das sind immerhin zwei sehr wichtige Organe im Bereich der Naturgefahrenprävention, die das Vorgehen massiv kritisieren und fordern, dass die in Auftrag gegebene Analyse nicht weiter beachtet wird. Ich bin jetzt 40 Jahre im Beruf und habe noch nie einen vergleichbaren Aufschrei aus der Fachwelt erlebt – die Fachwelt schüttelt den Kopf.

Mir gibt Hoffnung, dass alles, was jetzt noch kommt, in der Folge verhandelt werden muss. Auch der Projektkredit über 1 Milliarde Franken, der durch das eidgenössische Parlament gesprochen wurde, ist unterdessen eingefroren und wird wohl nicht einfach so für Alternativlösungen wieder ausgelöst. Ich hoffe insbesondere auf ein Parlament, das derartige fachliche Stellungnahmen würdigt und in den weiteren Entscheidungsprozess einbezieht.


Welche Mehrwerte bringt die 3. Rhonekorrektion der Gesellschaft, wenn sie im ursprünglich projektierten Umfang und nicht in einer redimensionierten Variante umgesetzt wird – gibt es da Erfahrungen aus «Linth 2000»?

Markus Jud: Das Projekt «Linth 2000» wurde von der Bevölkerung sehr gut angenommen. Die Leute sehen den Mehrwert, den sie selbst haben, und wie sie die Aufwertung der Landschaft in ihrer Freizeitgestaltung nutzen können. Projekte sind immer eine grosse Chance und insbesondere die aufgewerteten Abschnitte kommen gut an.

Jürg Speerli: Das kann ich bestätigen. Aber die Leute müssen vermutlich erst einmal sehen, was sie mit dem Projekt bekommen. Vielleicht müssen wir uns als Planer schon auch fragen, ob wir Projektinhalte und gerade solche Mehrwerte ausreichend kommunizieren. Heute haben wir verschiedene Möglichkeiten, die weit über eine abstrakte Plandarstellung hinausgehen. Diese Möglichkeiten sollten wir vermehrt nutzen.

Im Interview

 

Dr. Jürg Speerli, Dipl. Bauingenieur ETH/SIA, war Vorsitzender der Kommission für Hochwasserschutz (KOHS) des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbands SWV (2010–2023), Professor für Wasserbau an der HSR Hochschule für Technik Rapperswil (2002–2020) und ist seit Sommer 2020 Inhaber des Ingenieurbüros Speerli. Für die 3. Rhonekorrektion war er als Experte für Wasserbau in der «Expertengruppe Zimmerli» (2011/12) tätig und als Mitglied in der Arbeitsgruppe verantwortlich für die Organisation der KOHS-Tagung 2022 «Dritte Rhonekorrektion (R3) – die Realisierung in Visp nimmt Formen an».

 

Markus Jud, Dipl. Bauingenieur FH, ist seit 1990 praktizierender Bauingenieur und war in den Jahren 1999–2024 im Hauptamt Linthingenieur. In dieser Funktion begleitete er während 15 Jahren (1998–2013) das Projekt «Hochwasserschutz Linth 2000» als Gesamtprojektleiter. Seit 2024 ist er Inhaber der MJ Projektmanagement und als beratender Ingenieur tätig. Für die 3. Rhonekorrektion führte er im Auftrag des Bundesamts für Umwelt BAFU insgesamt zwei Projektreviews durch: im Jahr 2018 zu den Kosten und im Jahr 2019 zur Materialbewirtschaftung.

3. Rhonekorrektion

 

Die 3. Rhonekorrektion (R3) ist ein umfangreiches Hochwasserschutzprojekt, ausgelöst durch die verheerenden Überschwemmungen in den Jahren 1987, 1993 und 2000. Der Projektperimeter erstreckt sich über 162 km, von Gletsch im Kanton Wallis bis zum Genfersee in der Waadt. Das Projekt soll die Sicherheit von gut 100'000 Menschen gewährleisten und Schutz vor Schäden in der Höhe von schätzungsweise 10 Mia. Fr. bieten. Die Kantone Wallis und Waadt als Bauherrschaft schätzten 2016 die Gesamtkosten des Projekts auf 3.6 Mia. Fr.

 

Die Umsetzung von R3 begann bereits 2009 in Visp (VS). Im September 2014 nahm der Grosse Rat des Kantons Wallis mit grosser Mehrheit (98 Ja-Stimmen, 24 Nein-Stimmen und 2 Enthaltungen) die Finanzierungsvorlage für R3 an. Das Finanzierungsdekret, gegen das von der SVP und Vertretern der Landwirtschaft das Referendum ergriffen wurde, musste dem Volk vorgelegt werden und fand am 14. Juni 2015 einen Zuspruch von 57 %. Der Walliser Staatsrat beschloss am 22. Mai 2024, eine Revision des Projekts R3 und seines Gestaltungsplans (AP-R3) einzuleiten.

 

Die ersten beiden Rhonekorrektionen (1860–1890 und 1930–1960) ermöglichten eine bedeutende industrielle, wirtschaftliche und touristische Entwicklung der Ebene, bieten aber heute keinen ausreichenden Schutz mehr – insbesondere aufgrund des starken Anstiegs des mit dem wirtschaftlichen Aufschwung entstandenen Schadenspotenzials. Während der Hochwasserschutz der Rhone bislang auf dem Bau von Dämmen beruhte, bieten die Massnahmen von R3 einen zeitgemässen, umfassenden und robusten Hochwasserschutz.

 

Einen Überblick zum Projekt R3 finden Sie in TRACÉS 16-17/2019.

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