«Die Zukunft gehört der Co-Autorenschaft»
Die Raumentwicklung ist mit dynamischen Herausforderungen wie Klimawandel, Biodiversitätskrise und Bevölkerungswachstum konfrontiert. Um adäquat agieren zu können, sind die bisherigen Strukturen zu wenig agil und die Prozesse zu langwierig. Wir sprachen mit den Studiengangsleiterinnen des neuen Masters «Kollaborative Raumentwicklung» der HSLU, Tabea Michaelis und Amelie-Theres Mayer, über neue Herangehensweisen für Planungsprozesse.
Frau Mayer, im Herbst startet an der Hochschule Luzern der neue Masterstudiengang «Kollaborative Raumentwicklung». Was ist unter diesem Begriff zu verstehen?
Amelie-Theres Mayer: Bei der Raumentwicklung geht es zunehmend nicht mehr nur um Bauprojekte. Häufig geht es erst einmal darum, die Zusammenhänge komplexer Fragestellungen und die spezifischen Qualitäten eines Orts zu verstehen und für die Planungsprozesse sichtbar zu machen. Wo liegen die räumlichen, aber auch die sozialen, ökologischen oder ökonomischen Stellschrauben? Dabei sind die Akteure nicht mehr nur die Planenden aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur, sondern auch Personen aus der Verwaltung, den Fachgebieten Soziologie, Politikwissenschaften, Ökonomie, Ökologie, Kunst, Kultur, Design und nicht zuletzt die Menschen vor Ort, das heisst die Nachbarschaften und Quartiere. In der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen steckt enormes Innovationspotenzial, aber jede Disziplin hat eine andere Sprache. Die erste Herausforderung kollaborativer Raumentwicklung ist es also, sich gegenseitig verstehen zu lernen.
Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial in der Raumentwicklung und inwiefern reagiert die kollaborative Raumentwicklung darauf?
Tabea Michaelis: Die traditionellen Planungsdisziplinen orientieren sich eher an linearen Abläufen. Zwischen den einzelnen Phasen ist dann oftmals wenig Raum für Dialog und Interaktion zwischen den unterschiedlichen Akteuren. Die sozialräumlichen Aspekte bekommen zudem selten die Aufmerksamkeit, die sie für ein nachhaltiges Planungsverfahren bräuchten. Im Gegensatz dazu bezieht die «kollaborative Raumentwicklung» verschiedene Gruppen von Anfang an stärker mit ein. Sie basiert auf der Annahme, dass Raum permanent verhandelt und produziert wird und sich in einer stetigen Transformation befindet.
Die Koordination von komplexen Prozessen setzt daher ein neues Planungsverständnis und -verhältnis voraus. Einfach «nur» einen Soziologen ins Wettbewerbsverfahren einzubeziehen, reicht beispielsweise nicht aus, um die Bedürfnisse und das Wissen der verschiedenen Beteiligten aufzunehmen und für den Planungsprozess verfügbar zu machen.
Wenn viele Personen an einem Projekt beteiligt sind, birgt das die Gefahr der Beliebigkeit und der Kompromisse. Welche Rolle nehmen die Planerinnen und Planer in diesem Prozess ein?
Michaelis: Je nachdem, um welche Art von Projekt es geht, übernehmen die Planenden sowohl die Rolle der Moderation und der Übersetzung verschiedener Fachsprachen und Interessen als auch die Rolle der Gestaltenden. Die Autorenschaft «des guten weisen Planers» gehört unserer Meinung nach der Vergangenheit an. Es geht heute eher darum, die verschiedenen Akteure und Anspruchsgruppen so in die Projekte zu involvieren, dass damit nicht nur die Akzeptanz und das Vertrauen in die Planungskultur erhöht wird, sondern dass auch die Ergebnisse durch das kollaborative Wissen nachhaltiger und besser werden. Die Zukunft gehört der Co-Autorenschaft; es kommt jetzt darauf an, die dafür nötigen Werkzeuge zu entwickeln.
Partizipationsprozesse sind ein altbekanntes Instrument der Planung. Inwiefern ist Ihr Ansatz anders?
Michaelis: Momentan findet die Partizipation meist am Anfang eines Projekts statt und dient mehrheitlich dazu, die Bevölkerung zu informieren und eher weniger, sie aktiv an den Planungsprozessen zu beteiligen. Die Beweggründe für Partizipation können sehr unterschiedlich sein. Oft kommt Partizipation dann zum Einsatz, wenn Rekursgefahr besteht. Zum einen wird das rein lineare Phasendenken der Komplexität der aktuellen Herausforderungen nicht mehr gerecht, zum anderen sind die nötigen Werkzeuge für die kollaborative Planung in der Praxis noch nicht weit genug verbreitet.
Wir versuchen, mit dem neuen Master eine Lücke zu schliessen. Es geht darum, Planende mit den nötigen Methoden auszustatten, um zwischen den verschiedenen Ebenen der Planung, der Zivilbevölkerung und der Eigentümerschaft kontinuierliche Dialoge und Lernprozesse anzulegen, die nicht nur am Anfang von Planungsverfahren stehen.
Mayer: Kollaborative Raumentwicklung soll nicht die traditionelle Raumplanung ersetzen, sondern ergänzende Verbindungen zwischen den Akteuren herstellen, bisher ungehörte Stimmen stärker zu Wort kommen lassen und eine breite Akzeptanz für die Transformation auf unterschiedlichen Massstabsebenen schaffen. Es tragen oft auch organisatorische und programmatische Adaptionen dazu bei, raumplanerische Fragestellungen nachhaltig zu lösen. Wir fragen uns vor allem: Wie nutzungsoffen ist ein Ort und was ist dort an Aktivitäten und Angeboten möglich? Welche Akteure stehen mit dem Ort in Beziehung und sollten mitsprechen können?
In welchen Projekten haben Sie das Prinzip der kollaborativen Raumentwicklung bereits angewandt?
Mayer: Ich habe viel mit Genossenschaften zusammengearbeitet, die per se kollaborativ vorgehen. An der Entwicklung des Areals «Industriestrasse Luzern» war ich zunächst als Forscherin der HSLU beteiligt und später als Vorstandsmitglied der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft Industriestrasse involviert. Ursprünglich sollte das Areal an einen Investor verkauft werden; das wurde jedoch in einer Abstimmung von der Bevölkerung abgelehnt. Im Rahmen eines partizipativen Prozesses wurde das Areal schliesslich von fünf Genossenschaften realisiert und erfährt bis heute grosse Akzeptanz bei der Bevölkerung und der Stadt.
Für die Entwicklung kollaborativer Prozesse sind Experimente sehr wichtig. Dies ermöglichen zum Beispiel auch die «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung», die von verschiedenen Bundesämtern gefördert werden, weil sie es erlauben, neue Ansätze ausserhalb der gängigen Bewilligungspraxis zu prüfen. In Deutschland haben sich «Reallabore» als wirksame Instrumente erwiesen. Sie werden unter anderem eingesetzt, um neue Mobilitätslösungen zu testen.
Michaelis: Manchmal geht es auch darum, überhaupt wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Mit dem Büro Denkstatt begleite ich seit 2019 unter anderem das Projekt «Studio Dietikon – Dialog Stadtentwicklung», bestehend aus einem interdisziplinären Team mit Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung, Planung, Verwaltung und Politik. Das lokale Stadtplanungsamt hatte uns beauftragt, den Dietiker Stadtwerdungsprozess zu moderieren und die Zivilbevölkerung an einzelnen Planungsvorhaben aktiv zu beteiligen. Mit unserer Einstiegsfrage «Dietikon, was machst du?» haben wir die Dietiker Bevölkerung erzählen lassen, was ihr persönliches Verhältnis zu diesem Ort ausmacht, welche Fragen und Themen sie bewegen.
Daraus ist dann ein Film entstanden, der vor Ort gezeigt wurde und dazu führte, dass sich ca. 300 Dietiker und Dietikerinnen rund eine Stunde lang zuhören mussten. Die verschiedenen Perspektiven, Erlebnisse und Bedürfnisse waren für alle erfahrbar. Sie dienten als Ausgangslage für den weiteren Dialog und die Umsetzung vor Ort. Mit dieser Planung auf Augenhöhe sind die Resultate, anders als bei herkömmlichen Planungen, nicht erst nach Jahren sichtbar, sondern innerhalb weniger Monate. Über die letzten fünf Jahre ist gegenseitiges Vertrauen gewachsen und Dialogwerkzeuge sind zum festen Repertoire der Planung von Dietikon geworden.
Gesprächspartnerinnen
Tabea Michaelis ist diplomierte Landschaftsarchitektin (OST) und M.Sc. Urban Designerin (HCU) sowie Geschäftsführerin des Büros Denkstatt, Basel. Seit 2012 arbeitet sie in der städtebaulichen Prozessentwicklung und Projektsteuerung von Umnutzungs- und Transformationsprojekten verschiedener ehemaliger Industrieareale und Freiraumentwicklungen. Ihr Fokus liegt auf Formaten kooperativer Planung und der Begleitung dialogischer Prozesse. Als Co-Studiengangsleiterin baut sie gemeinsam mit Amelie-Theres Mayer an der Hochschule Luzern aktuell den interdisziplinären Masterstudiengang «Kollaborative Raumentwicklung» auf, der im Herbst 2024 startet.
Amelie-Theres Mayer hat in München Architektur studiert. Sie absolvierte in Luzern den MAS in Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung. Seit 2017 arbeitet sie in der Projektentwicklung bei Burckhardt Entwicklungen vorwiegend an Projekten im Bereich des genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Sie leitet zudem Quartierplanungen und Leitbildprozesse in Zusammenarbeit mit Gemeinden. Zuvor war sie in der Forschung für die Hochschule Luzern und bei der Fachstelle Wohnraumentwicklung der Stadt Basel tätig.
«Master of Arts in kollaborativer Raumentwicklung – eine erweiterte Planungskultur für komplexe räumliche Transformationsprozesse», Hochschule Luzern
Das inter- und transdisziplinäre Masterprogramm in kollaborativer Raumentwicklung richtet sich an interessierte Bachelor-Absolvierende, Praktikerinnen und Theoretiker aus Architektur, Städtebau, Raumplanung, Landschaftsarchitektur, Soziale Arbeit, Kunst/Design, Umweltwissenschaften, Wirtschaft und Informatik.
Die Teilnehmenden haben ihre disziplinäre Basisausbildung abgeschlossen oder sind bereits in der Planung, Verwaltung, Politik oder Forschung tätig. Sie möchten ihre disziplinären Fähigkeiten erweitern und ihre Kompetenzen in der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen stärken, um gemeinsam und mit tragfähigen kollaborativen Verfahren eine offene, agile und zukunftsorientierte Raumentwicklung zu gestalten.
Der Master startet erstmals im Herbst 2024. Hervorgegangen ist er aus der interdisziplinären Entwicklungsarbeit des Themenclusters «Raum & Gesellschaft» der Hochschule Luzern.
Weitere Informationen: hslu.ch