«Lebensraum nachhaltig gestalten»
Abschiedsvorlesung Bernd Scholl, Professor für Raumentwicklung ETH Zürich
Von der Architektur, vom Städtebau und vom Bauingenieurwesen erwartet man grosse Würfe. Die oft weniger spektakuläre Raumplanung bereitet jedoch den Boden dafür vor. Wie mit der beschränkten Ressource Raum am nachhaltigsten umzugehen ist, sprach Bernd Scholl, scheidender Professor für Raumentwicklung der ETH Zürich, an der Abschiedsvorlesung besonders an. Eine Würdigung seines praxisorientierten Wirkens.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends hat die Schweiz offiziell Abschied von ihrem ländlichen Charakter genommen. Die Zersiedelung und der Schutz der offenen Landschaft waren zwar schon früher evident; aber damals begann man sich vermehrt, um die knappen Güter Raum, Landschaft und Boden zu sorgen. In der Politik und der Gesellschaft wurde die bisher lasche Wirkung der Raumplanung immer deutlicher in Frage gestellt. Nicht zuletzt deswegen wurde vor gut zehn Jahren die Erarbeitung des Raumkonzepts Schweiz lanciert; inzwischen bildet dieses Papier den Konsens aller staatlichen Planungsebenen breit ab: Zum einen ist seither die «Agglomeration» als wesentliche quantitative und qualitative Basisgrösse für die künftige Raumordnung anerkant. Zum anderen heisst nun das offizielle Ziel: Der Flächenkonsum durch die Siedlungsentwicklung muss reduziert werden.
Mitten in diesen Debatten übernahm Bernd Scholl die Professur für Raumentwicklung, die im Departement für Bau, Umwelt und Geomatik angesiedelt ist. Er übernahm 2006 die Verantwortung für die Ausbildung der gesuchten Raumplanungsfachleute. Und als zuvor praktizierender Städteplaner konnte er auch in der Forschung wichtige Impulse für die Siedlungsverdichtung geben.
An seinem Lehrstuhl sind wirkungsvolle Planungsinstrumente initiiert und mitentwickelt worden, die inzwischen zum Alltagsrepertoire von aufgeschlossenen Städte-, Regional- und Kantonsplanern gehören. Dazu gehören unter anderem das Testplanverfahren zur Evaluation standortbezogener Entwicklungsperspektiven sowie die «Raum+»-Erhebungsmethode, mit der Bauzonenreserven parzellenscharf ausgewiesen werden können.
Impulse für die sachorientierte Umsetzung
Der politische Druck zur Innenentwicklung von Gemeinden und Städten hat sich zuletzt beträchtlich erhöht. Das Netzwerk Stadt und Landschaft der ETH stellte unter Federführung von Scholl weitere, äusserst hilfreiche Arbeitswerkzeuge bereit. Diese beruhen auf wissenschaftlichen Grundlagen und fördern die sachorientierte Umsetzung. Solche Standards sind im politisch oft heiklen Vollzug und angesichts der betroffenen Eigentumsrechte unverzichtbar. Denn nur so funktioniert Raumplanung im besten Sinn: Die Auslegeordnung aller Interessen trägt zur Meisterung von räumlichen Zielkonflikten bei. Und das planerische Ermessen wird nicht willfährig, sondern anwaltschaftlich zugunsten des Raums als endlicher Ressource genutzt. Politik und Planung haben aktiv und gemeinsam zu entscheiden, wie der Lebensraum für die kommenden Generationen aussehen soll.
«Den Lebensraum gestalten» hiess die Abschiedsvorlesung, mit der Bernd Scholl Ende Mai ein Resümee über seine 12 Jahre an der ETH Zürich gezogen hat. Die Eremitierung erfolgt aus Altersgründen; das Referat im Auditorium Maximum war ausserordentlich gut besucht. Der Vorlesungstitel schien ebenso als Aufruf an die Fachwelt wie an die Politiker gerichtet zu sein. Das heisst in den Worten des Dozenten: Das jüngste Siedlungswachstum ist stärker als bisher zu steuern und umzulagern. «Die Zentren müssen nicht noch grösser werden. In den kleinen und mittelgrossen Gemeinden hat es Reserveflächen für die bauliche Entwicklung genug.» Auf der einen Seite müssen weder Zürich, Basel, Lausanne noch Genf zur Megacity werden, um das prognostizierte Bevölkerungswachstum aufzunehmen. Auf der anderen Seite soll «die grüne Wiese» ausserhalb aller Siedlungsränder vor weiteren Überbauungen verschont bleiben.
Die Video-Aufzeichnung der Vorlesung finden Sie hier.
Massvoll zum Paradigmenwechsel
Scholls strategischer Vorschlag sucht den Ausgleich und passt deshalb bestens zur föderalistisch organisierten Raumpolitik. Er selbst spricht von einer massvollen Entwicklung, die mit «kooperativen Planungsverfahren» zu steuern ist. Doch dahinter steckt eine grössere Veränderung, als bislang vermutet wird: «Die Siedlungsentwicklung nach innen bedeutet eine Paradigmenwechsel für die Ortsplanung; ohne dichte und kompakte Siedlungsformen geht es nicht.» Aus Sicht der Wissenschaft ist das ein Fakt: Die bereits rechtmässig gesicherten Baulandreserven reichen aus, um den prognostizierten Wohn- und Arbeitsflächenbedarf in den Schweizer Gemeinden mittelfristig abdecken zu können. «Diese Reserven sind der Schatz, den es in der Raumplanung nun zu bergen gilt.» Oder anders formuliert: Es gilt den begrenzten Raum besser zu nutzen!
Bernd Scholl kennt die Raumplanung in der Schweiz aber nicht nur aus distanzierter Forschung und Lehre. Er selbst engagiert sich, wohl auch nach der Emeritierung, in seiner Wohngemeinde für eine qualitativ hochstehende Zentrumsentwicklung. Daher ist ihm der raumplanerische Kriechgang, «träge Prozesse und zahlreiche Akteure», bestens bekannt. Auch um eine übergeordnete Perspektive war Scholl sehr bemüht, etwa in seinen Forschungsarbeiten zur räumlichen Entwicklung des europäischen Gütertransitkorridors Rhein-Alpen.
Nachfolge ist unsicher
Im vergangenen Jahr hat die ETH Zürich gefeiert; «50 Jahre Raumplanung an der ETH» war der Anlass. Nun verursacht der Abschied Scholls eine Vakanz: Die Hochschulleitung hat die Professorenstelle nicht wieder besetzt. Trotz Ausschreibung und der Auswahl von Kandidaten hat sich daraus keine Nachfolge ergeben. Gemäss einem Bericht der NZZ will man jedoch nurmehr eine Assistenzprofessur berufen. Hat man die Zeichen der Zeit erkannt, dass der künftige Lebensraum Schweiz eine weiterhin kreativ zu bewältigende Gestaltungsaufgabe ist? Martin Lendi, Vorvorgänger am Lehrstuhl für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH, hat dieses Jahr ein Buch über die «Perspektiven der Raumplanung» veröffentlicht. Seine sinngemässe Antwort auf die obenstehende Frage ist: Es gibt eine «Verpflichtung zum konstruktiven Dranbleiben».
Lesetipp
Geschichte und Perspektiven der schweizerischen Raumplanung; Raumplanung als öffentliche Aufgabe und wissenschaftliche Herausforderung; Martin Lendi, vfd 2018. 424 Seiten, 17 x 24 cm. ISBN: 978-3-7281-3866-8.
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