Modellbildung des Rotationsverhaltens bestehender Flachdecken
Durchstanzen im Bestand (1/2)
Bei der Verstärkung hinsichtlich Durchstanzen sollte die Belastungsgeschichte berücksichtigt werden. Damit argumentieren die Autoren für vorgespannte, nachträglich eingebrachte Durchstanzverstärkungen.
Beim Neubau (links) wird immer vom gleichen Verformungsverhalten der Decke beim Stützenkopf ausgegangen. Hingegen ist bei nachträglich verstärkten Stützenköpfen (Mitte) die Verformungsgeschichte zu berücksichtigen, insbesondere zum Zeitpunkt der maximalen Last im Gebrauch (Vmax) und des Einbringens der Verstärkungsmassnahme (V0).
Deren zugehörige Rotationen befinden sich auf einem Entlastungspfad. Die Aktivierung einer Verstärkungsmassnahme findet erst nach der Rotation Y(V0) statt, was bei Stützenkopfverstärkungen mit extern angebrachtem Stahlpilz zu einer Versteifung der Platte (steilere Querkraft-Rotationskurve) führt.
Bei vorgespannten Stützenkopfverstärkungen kann das Modell verfeinert werden (rechts). Bei der Erstbelastung steigt die Rotation mit zunehmender Last bis zu einer maximalen Belastung (0A). Wird die Platte entlastet, reduziert sich die Rotation entlang des Entlastungspfads (AB). Wird auf diesem Lastniveau ein Stahlpilz eingebaut und vorgespannt, reduziert sich die Rotation der Platte (BC).
Gleichzeitig wird durch die Aktivierung des Systems infolge der Vorspannung (BC) der Durchstanzwiderstand bei der Stütze vergrössert (B'C'). Die Traglast der Platte VR1 wird erreicht, wenn die steilere Belastungskurve der Platte die Widerstandskurve schneidet.
Auf der Basis von Versuchen1 wurden die in diesem Beitrag dargestellten Modellvorstellungen zum Querkraft-Rotationsverhalten von nachträglich verstärkten Flachdecken validiert und publiziert2. Die Bemessungsregeln der aktuellen Norm SIA 262:2013 Betonbau basieren mehrheitlich auf Durchstanzversuchen, die mit monoton wachsender Belastung oder Deformation innerhalb einer kurzen Zeit bis zum Bruch durchgeführt wurden.
Bei der Bemessung von Verstärkungsmassnahmen für eine bestehende Flachdecke sollte zusätzlich noch ihre Belastungs- und Verformungsgeschichte berücksichtigt werden, was durch eine Erweiterung des Bemessungsmodells3 der SIA-Norm 262:2013 möglich ist.
Entlastungspfad erfassen
In der Regel wird eine Durchstanzverstärkung in einen entlasteten Zustand der Decke V0 eingebracht. Doch weil die Decke bereits eine höhere Gebrauchslast4 Vmax erfahren hat, befindet sich die zu V0 gehörende Rotation Y(V0) auf einem Entlastungspfad.
Dies ist wichtig anzumerken, da in der Literatur oder in Bemessungshilfen oft fälschlicherweise Y(V0) ebenfalls auf dem normativ definierten Belastungspfad angegeben wird. Das Entlastungsverhalten der Platte ist zwar nicht normativ geregelt, doch die Fachliteratur bietet dafür gewisse Ansätze5.
Das Bemessungsmodell dieser Studie zeigt insbesondere, dass die Aktivierung einer schlaff eingebauten Verstärkungsmassnahme erst durch grosse Zusatzrotationen (Y∆) erfolgt.
Vorteilhafte Vorspannung
Aufgrund der Lastverformungsgeschichte werden die Vorteile der nachträglichen Vorspannung einer Durchstanzverstärkung gezeigt: Die Vorspannung der Stahlpilze bewirkt sowohl eine Entlastung der Decke im Stützenbereich als auch eine Vergrösserung des Nachweisschnitts. Wird nun die Platte wiederbelastet, hat die Platte infolge des erweiterten Stützenkopfs ein steiferes Verformungsverhalten.
Im Gegensatz dazu wird eine nichtvorgespannte Verstärkung erst durch grosse zusätzliche Plattenverformungen aktiviert. Bei nachträglich installierten Durchstanzbewehrungen wird zwar der Widerstand durch die Verstärkung der schubkritischen Zone (kontrollierte Schubrissöffnung) erhöht, jedoch ohne Steifigkeitsgewinn.
Aus diesen Gründen ist eine aktive Entlastung der Flachdecke zu empfehlen, um eine sichere Verstärkung der Decke zu garantieren. Ein Beispiel dafür ist die aktive Vorspannung eines nachträglich installierten Stahlpilzes.
Bei einer nachträglich installierten, in der Regel eingeklebten Durchstanzbewehrung wird die Vorspannung nur mit grossem Aufwand aufgebracht. Die Kraft der eingeklebten Durchstanzbewehrung, durch eine Vorspannung aufgebracht oder durch nachträgliche Plattenverformungen hervorgerufen, kann langfristig infolge von Kriechverformungen des Klebmörtels sinken. Dies ist insbesondere zu beachten, wenn der Hauptanteil der Verformung zur Aktivierung der Massnahme auf die ständigen Einwirkungen zurückzuführen ist.
Anmerkungen
1 A. Kenel, S. Lips: Sicherheit gegen Durchstanzen von Stützen durch Flachdecken und Bodenplatten, in: Gutachten für F. J. Aschwanden, 28 S., 2014. Dabei hat man insgesamt vier grossmassstäbliche Durchstanzversuche mit extern angebrachten Stahlpilzen durchgeführt und eine Reihe von Parametern untersucht, wie etwa den Einfluss einer Rissbildung und Entlastung in der unverstärkten Platte oder eine ungenügende Verankerung der Biegebewehrung.
2 A. Kenel, T. Keller: Externer Stahlpilz zur nachträglichen Erhöhung des Durchstanzwiderstandes von bestehenden Flachdecken. In: Gutachten für
F. J. Aschwanden, 20 S., 2013.
3 A. Muttoni: SIA-Dokumentation D0182, Kapitel 5, Durchstanzen, 125 S., 2003.
4 Diese Gebrauchslast ist in der Regel unbekannt, kann aber näherungsweise für «seltene Lastfälle» angenommen werden.
5 R. Koppitz, A. Kenel, T. Keller: Effect of load history on punching shear resistance of flat slabs, in: Engineering Structures, Vol. 90, S. 130 – 142, 2015.