Nach­weis­lich sta­bil beim Erd­be­ben

Kein Handlungszwang dürfte das optimale Ergebnis jeder vertieften Erdbebenuntersuchung sein. Der Betreiberin des Wehrs Winznau wurde dieses Glück zuteil. Wenn auch erst im zweiten Anlauf, nach einer verformungs- statt kraftbasierten Untersuchung. 

Publikationsdatum
09-12-2024

Im Auftrag des Elektrizitätswerks Olten-­Aarburg erstellte die Zürcher Firma Locher & Cie zwischen 1913 und 1917 das Wehr Winznau mit seinen fünf Wehröffnungen in Eisenbeton. Es diente als Stau- und Regulierbauwerk des Kraftwerks Niedergösgen. Der Bau des Wehrs und auch des Kraftwerks war in Anbetracht der damals verfügbaren Mittel technisch sehr anspruchsvoll. 

Um die Anlage im Fluss zu gründen, kamen Senkkästen zur Anwendung. Diese waren teilweise aus Stahl gefertigt; in den Kriegsjahren kam aufgrund der knappen Verfügbarkeit stattdessen Beton zum Einsatz. Das Wehr selbst besteht aus Stampfbeton, der gemäss den Erkundungen eine gute Qualität aufweist. Die Architektur der gesamten Kraftwerksanlage orientierte sich an der Formgebung des Eisenbetons, was sich an der ornamentalen Gestaltung der Fassaden nachvollziehen lässt. 

Aufgrund der kompletten Erneuerung der Kraft­werkszentrale im Jahr 2000 konnte die Stromproduktion massgeblich erhöht werden. Bereits früher erfolgte die Umstellung der Schützen vom manuellen auf den auto­matischen Betrieb.

Durch Umbau nutzloser Wehrgang

Im Rahmen der Unterstellung des Stauwehrs unter die Stauanlagenverordnung des Bundes und im Zuge der Neukonzessionierung der Anlage wurde ein Umbau der Wehranlage geplant. Das Dotierkraftwerk mit einer Turbine zur Nutzung der Restwassermenge sollte ersetzt und für die vergrösserte Restwassermenge ausgelegt werden. Zudem sollten aus Gründen der Erdbebensicherheit die bestehenden Doppelhubschützen durch neue Segmentschützen ersetzt werden. 

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Die unzureichende Erdbebensicherheit ergab sich aus der Masse des markanten Wehrgangs, in dem die Schützenantriebe untergebracht sind. Seine Erd­bebensicherheit wurde 2010 kraftbasiert überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass die Wehrbrücke in Fliessrichtung beim Bemessungsbeben – es wurde eine Wiederkehrperiode von 5000 Jahren zugrunde gelegt – eine deutlich unzureichende Kippsicherheit aufweist. Die resultierende Kraft aus Eigengewicht und Erd­beben­ersatzkraft am Fuss des Wehrbrückenpfeilers kam aus­serhalb des Querschnitts zu liegen – das Bauwerk hätte rechnerisch kippen können.

2013 wurde das Umbauprojekt eingereicht und an­schlies­send bewilligt. Da der Einbau der neuen Segmentschützen beschlossen war, opponierte der Solothurner Heimatschutz nicht gegen den Abriss des Wehrgangs, denn er hätte seine Funktion durch den Einbau der neuen Segmentschützen verloren. Entsprechend wurde auch der statische Zustand und insbesondere die Erdbebensicherheit dieses Bauteils nicht weiter untersucht.

Verformungsbasierter statt kraftbasierter Erdbebennachweis

Nach Inkrafttreten der neuen Konzession und Baubewilligung im Jahr 2022 ging es mit der Projektierung weiter. Die statischen Berechnungen und die kon­struk­tive Bearbeitung wurden hierbei vertieft und die Bauherrschaft überprüfte das Umbauprojekt nochmals, da sich der Einbau von Segmentschützen als technisch anspruchsvoll erwies. Vielmehr kam der Gedanke auf, ein Hubschützensystem einzubauen, um der ursprüng­lichen Konzeption der Anlage besser gerecht werden zu können. 

Da aber die Erdbebensicherheit einen Erhalt des Wehrgangs und der Wehrbrückenpfeiler auszuschliessen schien, sah sich die Bauherrin veranlasst, eine neue, über die Wehrschwelle ragende Kon­struktion der Schützenführungen und des Schützenantriebs zu planen. 

Diese Projektänderung bedingte aber eine Nach­genehmigung, weshalb es frühzeitig zu Gesprächen mit dem Solothurner Heimatschutz kam. Die Bauherrin liess sich überzeugen, den Nachweis der Erdbebensicherheit gemäss einer neuen SIA-Norm nochmals kritisch zu prüfen und ein verformungsbasiertes Verfahren statt eines kraftbasierten anzustreben. Die Nachweise führte Dr. Armand Fürst von Fürst Laffranchi Bauingenieu­re zusammen mit dem Erdbebenexperten Dr. Thomas Wenk. Dank erster positiver Resultate wurden schliesslich auch die materialtechnologischen Untersuchungen ergänzt, die die offenen Fragen zur Materialqualität des Wehrgangs und der Wehrbrückenpfeiler beantworten konnten.

Beste Option: nichts tun

So war es möglich, den Erdbebennachweis unter Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesamts für ­Energie (BFE) zu erbringen. Gemäss den verformungs­ba­sierten Berechnungen sind beim Bemessungsbeben maximale Kopfverschiebungen auf der Höhe des Wehrgangs von 1 bis 2 cm zu erwarten. Das Verformungsver­mögen bei einer zyklischen Kippbewegung der Wehrpfeiler, dem «rocking», ist demgegenüber um ein Viel­faches grösser als ursprünglich ermittelt, und die Beanspruchungen am Fuss der Pfeiler bei der Zielverschiebung bleiben gering. Dank dem selbstzentrierenden Verhalten beim «rocking» und den geringen Beanspruchungen sind zudem kaum residuale Verformungen nach dem Beben zu erwarten. Die Sicherheit ist damit zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt und der Betrieb der Schützen ist auch nach einem Bemessungsbeben uneingeschränkt möglich. 

Die geführten Pushover-Nachweise – sie wurden mittels nichtlinearen Zeitverlaufsberechnungen sowohl in Fliessrichtung als auch quer dazu plausibilisiert – zeigten, dass das Verformungsvermögen selbst unter Berücksichtigung kleiner Betondruckfestigkeiten in Zonen mit mangelhaftem Betongefüge gross ist. Somit ist keine Ertüchtigung der Konstruktion erforderlich. Das Stauwehr kann samt den bestehenden Tafelschützen und deren Antrieben mit den üblichen Instandsetzungsmassnahmen als Zeitzeuge des Kraftwerkbaus für eine Nutzungsperiode von weiteren 70 Jahren bestehen bleiben. Das BFE als Aufsichtsbehörde hiess den Verzicht auf Erdbebenertüchtigungsmassnahmen gut. Der Heimatschutz würdigte die Entscheidung der Bauherrin, das Wehr nachhaltig zu erhalten, mit dem Solothurner Heimatschutzpreis.

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