Rundum ertüchtigt
Erdbebenertüchtigung der SBB-Rotonde in Brig
Eine Stahlbetonwand und einige Stahlträger reichten aus, um die SBB-Rotonde in Brig erdbebensicher zu ertüchtigen. Dank der sorgfältig überlegten Einfügung bleibt der Charakter des denkmalgeschützten Baus erhalten.
Die Rotonde in Brig ist ein herausragendes Zeugnis der schweizerischen Ingenieurbaukunst und Eisenbahngeschichte. 1904 erbaut, wird die historische Infrastrukturanlage der SBB trotz ihres hohen Alters noch heute als Reparaturstandort für Lokomotiven genutzt. Sie gehört zu den wenigen erhaltenen Beispielen des sogenannten «französischen Remisentyps» und ist in der Schweiz ein Pionierbau des patentierten Systems von François Hennebique. Die in den frühen 1890er-Jahren innovative Eisenbetonbauweise prägte den späteren, modernen Stahlbetonbau massgeblich.
Die Tragkonstruktion aus Stahlbetonstützen und Rippendecken besticht durch ihre Schlankheit, Effizienz und Dauerhaftigkeit. Der Bau mit einem Durchmesser von 80 m entstand parallel zur Eröffnung des Simplontunnels. Über eine zentrale Drehscheibe können die Lokomotiven zur Wartung auf die 14 Segmente verteilt werden. Jedes Segment der Remise enthält eine Arbeitsgrube und verfügt über grosse Dachfenster für das Tageslicht. Trotz moderner Zugmodelle und verlängerter Waggons, die den Raum teilweise beschränken, ist die Remise auch nach 120 Jahren noch voll funktionsfähig.
Ertüchtigung des originalen Tragwerks
2021 wurde das denkmalgeschützte Gebäude umfassend instand gesetzt, wobei neben der Restaurierung auch eine Erdbebenertüchtigung im Fokus stand. Es galt, die Bauwerksstabilität zu erhöhen, ohne die Nutzung einzuschränken oder das Erscheinungsbild beziehungsweise den architektonischen Charakter der Anlage erheblich zu verändern. Die erforderlichen Eingriffe sollten zurückhaltend wirken, durften aber bei näherer Betrachtung durchaus erkennbar sein.
Die Bauingenieure entwickelten sieben Ertüchtigungsvarianten. Mehrere Lösungsansätze zeigten die statisch optimale Position der Verstärkungselemente auf. Zentrale Herausforderung war es, die Erdbebensicherheit durch gezielte Eingriffe signifikant zu steigern. Das Gebäude – es liegt in der Erdbebenzone 3b und ist der Bauwerksklasse BWK II-i zugeordnet – erreichte nur einen Erfüllungsfaktor aeff = 0.12. Gefordert war aber ein Mindestfaktor von amin ≥ 0.40 (vgl. «Erfüllungsfaktor aeff», unten). Massnahmen waren also zwingend, zudem wurde die Infrastrukturfunktion des Bauwerks als bedeutend eingeschätzt. Dank statischer Analyse mit dem Pushover–Verfahren wurde klar, dass sich mit verhältnismässig geringem Aufwand ein Erfüllungsgrad von aint= 1 erreichen lässt.
Aus dem Variantenstudium kristallisierte sich folgende Lösung heraus: Der Ersatz einer gemauerten Zwischenwand durch Sichtbeton und die Einpassung neuer Stahlverbände im Bereich von zwei Fassadensegmenten. Auf diese Weise konnten das Massen- und das Steifigkeitszentrum näher zueinander gerückt werden, wodurch das Gebäude im Erdbebenfall möglichst wenig durch Torsion beansprucht wird.
Neu und Alt verschmelzen
Bei den beiden Fassadensegmenten bilden nun neue, A-förmige Verstrebungen aus Standard-Stahlprofilen zusammen mit den bestehenden Stahlstützen und dem darüberliegenden Betonriegel eine Scheibe, die die rechnerisch anzusetzenden horizontalen Erdbebenkräfte übernimmt.
Die roh belassenen und nur geölten Verstärkungen, die als Augenstäbe ausgeführt wurden, sind mit den bestehenden, radial angeordneten Betonunterzügen über eine einbetonierte Kopfplatte mit Kopfbolzendübeln kraftschlüssig verbunden. Dadurch können die punktuell grossen Kräfte gleichmässig in die bestehende Decke eingeleitet werden. Neue und ursprüngliche Tragwerkselemente verschmelzen ineinander. An den Füssen der Stahlverbände gelangen die Horizontal- und Vertikalkräfte über Stahlschwerter, die ebenfalls mit Kopfbolzendübeln versehen sind, in die neuen Streifenbetonfundamente. Eine zusätzliche vertikale Aussteifung bekam das Bauwerk mit der neuen, radial stehenden Stahlbetonwand, die eine gemauerte Zwischenwand ersetzte und auf der bestehenden Arkadenkonstruktion fundiert ist.
Zurückhaltende Eingriffe mit grosser Wirkung
Die klugen Ertüchtigungsmassnahmen konnten den kulturellen Wert des Bauwerks bewahren und erfüllen gleichzeitig die Anforderungen an die Sicherheit. Für ihre zurückhaltende und dennoch wirkungsvolle Erdbebenertüchtigung wurde die Rotonde 2024 mit dem alle drei Jahre vergebenen Seismic Award der Stiftung für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen ausgezeichnet. So wird eine gute Baukultur gefördert, die das historische Erbe schützt und für die Zukunft stärkt – im übertragenen und im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Rotonde – als Beton noch besonders war
Die SBB-Rundremise in Brig zählt zu den wenigen ihrer Art in der Schweiz, die noch in ihrer ursprünglichen Funktion als Instandhaltungsdepot dienen. Ihr Tragsystem besteht aus radial und tangential angeordneten Stabelementen. Schlanke Stützen mit Stahlfüssen zur Krafteinleitung, Durchlaufträger als Unterzüge und darauf lagernde Rippendecken machen die Tragkonstruktion aus.
Die Tragstruktur als Stahlbetonskelettbau ist klar ablesbar und steht auf einem Fundament in Form von gedrungenen Viadukten, die mit dem Aushubmaterial aus dem Simplontunnel aufgeschüttet wurden.
Die Betonbauweise erfolgte nach dem System des französischen Ingenieurs François Hennebique, das er 1893 auch in der Schweiz patentieren liess. Zur damaligen Zeit war die Bauweise innovativ, da sie durch Bewehrungseisen ein monolithisches Trägersystem ermöglichte. Der Ansatz bestand in der Kombination von Beton und Verstrebungen aus Eisenstäben, um eine höhere Festigkeit und Flexibilität zu erreichen.
Dieses System führte zu einer effizienteren Nutzung des Materials und ermöglichte die Konstruktion langlebiger und wirtschaftlicher Bauwerke, was den Betonbau weltweit revolutionierte. Im Beton der Remise bestehen die Eisen aus geraden Stangen (D10 – D40 mit «Adhäsionslänge» 25D), von denen die Hälfte über dem Auflager aufgebogen ist. Die Stangen sind zusätzlich von Schubbewehrungen aus Flacheisen umfasst, und die Stützen haben am Kopf konsolartige Aufweitungen zur Reduktion der Beanspruchung der Träger.
Erfüllungsfaktor aeff
Das Ergebnis einer rechnerischen Untersuchung der Erdbebensicherheit nach Norm SIA 269/8 Erhaltung von Tragwerken – Erdbeben ist der Erfüllungsfaktor aeff. Er beschreibt, inwieweit die Anforderungen an die Erdbebensicherheit gemäss den gültigen Tragwerksnormen beim überprüften Bauwerk erfüllt sind, und dient zur Beurteilung der Erdbebensicherheit in drei Wertungen (nach BAFU):
- Ungenügend: Bei einem Erfüllungsfaktor aeff < 0.25 für «normale» resp. < 0.4 für bedeutende und lebenswichtige Bauwerke (wie z. B. Schulen oder Akutspitäler) ist die Erdbebensicherheit ungenügend. Es sind zwingend Massnahmen zu ergreifen, um die Mindestanforderungen bei bestehenden Bauten von amin = 0.25 für «normale» bzw. 0.4 für bedeutende und lebenswichtige Bauwerke einzuhalten.
- Mangelhaft: Bei einem Erfüllungsfaktor aeff , der zwischen 0.25 (resp. 0.4) und 1.0 liegt, ist die Erdbebensicherheit mangelhaft. Die Erdbebensicherheit ist weitergehend zu verbessern, wenn sich bei der Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen die Verhältnismässigkeit von Massnahmen nachweisen lässt. Dabei ist grundsätzlich die Erfüllung des normgemässen Zustands für Neubauten anzustreben.
- Normgemäss: Bei einem Erfüllungsfaktor aeff ≥ 1.0 ist die Erdbebensicherheit gemäss geltenden Normen gegeben. Die Anforderungen an Neubauten sind zu 100 % erfüllt. Es besteht kein Handlungsbedarf. Wichtig zu wissen ist: Eine normgemässe Erdbebensicherheit (aeff ≥ 1) bedeutet nicht, dass das Bauwerk ein Erdbeben unbeschadet übersteht. Das Ziel ist der Personenschutz und die Schadensbegrenzung.
Die Gewährleistung der Funktion des Bauwerks fordert die Norm nur bei den Bauwerken mit lebenswichtiger Infrastrukturfunktion. Das sind v. a. diejenigen Bauwerke, die im Erdbebenfall zur Rettung von Menschenleben benötigt werden.
Y. Mondet, D. Piskas, F. Hürzeler