Nein! Ja! Oder doch: Ja, aber?
Die Schweiz sucht kurzfristig nach Energiequellen für den Winter und langfristig den Pfad für eine klimaneutrale Energieversorgung. Gut ist, dass sich die Wissenschaft an der langfristigen Suche beteiligt. Noch besser wäre, wenn sie – statt über Thesen zu streiten – anschauliche Entscheidungsgrundlagen liefern würde.
Der Sommer 2022 steht für ein gesellschaftliches Aufatmen, dass die zwei letzten Pandemiejahre vorüber sind. Gleichzeitig war er derart heiss und trocken, dass einige Gemüter trotzdem schnell aus der Fassung geraten konnten. An der ETH Zürich streiten sich seit Kurzem Experten über die Energiewende. Ein Physiker und ein Geologe, die beide am ETH-Lehrstuhl für Unternehmensrisiko unterrichten und forschen, veröffentlichten einen Aufsatz, in dem die Strategie des Bundes, die Schweiz bis 2050 ausschliesslich mit klimaneutraler Energie zu versorgen, mit deutlicher Skepsis hinterfragt wurde. Die NZZ publizierte unter dem Titel «Wunschdenken» eine leicht verständliche Kurzfassung dieser «Truth or dare»-These.
Die Kritik provozierte bereits hausinterne Replik: Wissenschaftler am Energy Science Center der ETH widersprechen vehement und bekräftigten ihrerseits, dass weder an der Strategie noch den heutigen Annahmen etwas geändert werden müsse. Eine klimaneutrale Schweiz sei bis in knapp 30 Jahren realisierbar, so der ebenfalls über mehrere Medien mitgeteilte Befund.
Doch dies ist nicht der Weisheit letzter Schluss: Die Akademien der Wissenschaften haben namhafte Wissenschaftler inner- und ausserhalb der ETH-Domäne befragt. Auch deren Meinung weicht vom offiziellen Kurs leicht ab; sie lautet kurz zusammengefasst: Eine CO2-freie Energieversorgung sei möglich und funktioniere sogar zuverlässiger als das bisherige fossile System.
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Aber nur unter der Voraussetzung: Die Schweizer Politik muss selbst Grosses leisten – und wird trotzdem abhängig vom Dekarbonisierungserfolg im Ausland bleiben. Ist eine klimaneutrale Schweiz bis 2050 also möglich? «Nein!», «Ja!» oder «Ja, aber!», antworten die Forschungslabors. Was ist nun die richtige Antwort?
Eintracht bei den technischen Varianten
Die Verfasser aller drei Wissenschaftstraktate sind sich einig: Am Ersatz der fossilen Brenn- und Treibstoffe führt kein Weg vorbei, damit die Schweiz ihren Treibhausgasausstoss neutralisiert. Auch die wichtigste Alternative, mehr eigener Strom, ist konsensfähig, weil dafür lokale, erneuerbare und emissionsfreie Quellen verfügbar sind. Nicht mehr so einträchtig werden dagegen die Potenziale der einzelnen Umwandlungstechniken eingestuft: Wasserkraft ist und bleibt ein tragender Pfeiler für jede inländische Versorgungsstrategie; aber es bleiben nur mehr geringe Reserven und kaum Spielraum für einen Ausbau.
Ein grösseres Sorgenkind ist die Windkraft: Das Gebirge und die Jurahügel wären windig genug, um einige Turbinen mehr anzutreiben als bisher. Aber Anwohner und Vogelschützer sind häufig dagegen; der Zubau steht praktisch still. Zwischen grosser Hoffnung und ernüchternder Wirklichkeit steckt auch die Tiefengeothermie fest: Obwohl sich Bund und Kantone daraus Strom in Megawattleistung versprechen, ist viel davon erst Spekulation. Bisherige Probebohrungen verliefen allesamt ergebnislos. In dieser Aufzählung fehlt noch die Photovoltaik: Obwohl sinkende Modulpreise und steigende Stromkosten viele private Hausbesitzer derzeit animieren, eine eigene Anlage zu installieren, verharrt ihr Versorgungsbeitrag auf Mauerblümchenniveau.
Wieder aufflammende Atomdebatte
Was noch dazukommt: Der ideologische Streit über die Kernenergie flammt wieder auf – in der Politik und auch in der Wissenschaft. Die beiden ETH-Risikoforscher, die die nationale Energiestrategie kritisieren, würden ein Revival der Atomkraft begrüssen. Für die Kollegen aus der Energieforschung widerspricht dies dem Volkswillen und der offiziellen Energie- und Klimapolitik – also ein «No-Go» schlechthin. Die Experten, die im Auftrag der Akademien der Wissenschaften das dritte Gesamtbild schildern, geben sich diplomatischer: Die Kernenergie werde so lang keine Rolle spielen, bis neue Varianten marktreif und wieder gesellschaftsfähig sind.
Mit «Ja», «Nein» und «Eher nicht» sind sich die Wissenschaftler also auch bei der Zukunftsfähigkeit der Kernkraft uneins. Aber wie sollen Aussenstehende die richtige Wahl treffen, wenn Experten nur ein Urteil verkünden – anstatt detaillierte Informationen für künftige Entscheide abzugeben?
Streit gehört dazu
Der Streit an einer Hochschule darf an sich nicht erschrecken, weil Zweifel jede Forschungsarbeit bereichern. Sie fordern die Beteiligten dazu auf, die Resultate und Annahmen ihrer Experimente offenzulegen. Und wenn dadurch Schwachstellen aufgedeckt werden, lassen sich neue, unerwartete Erkenntnisse gewinnen. Für die öffentlich finanzierte Forschung ist Streit also essenziell. Erst so entsteht ein unvoreingenommener Denkraum, in dem alle relevanten Informationen zusammenzutragen und auf alle erdenklichen Arten zu überprüfen sind.
Streit gehört dazu, auch in der Energiepolitik. Derzeit wird über den drohenden Mangel an Winterstrom gestritten. Einig ist man sich nur, dass die Schweiz auf sich allein gestellt kurz- bis mittelfristig unterversorgt ist. Wie der Importbedarf jedoch langfristig aussehen soll, beschäftigt auch die Wissenschafts-Community. Ihre jüngsten Prognosen münden in eine weitere Kontroverse: Gemäss den offizialisierten Vorhersagen bleibt die Lücke gleich gross wie heute. Das Importsaldo im Jahr 2050 betrage etwa 9 TWh, also knapp 10 % des Inlandbedarfs. Die Energieperspektiven des Bundes hoffen, dass dannzumal sehr viel Überschussstrom aus Windkraftanlagen in ganz Europa erhältlich ist.
Eine andere Entwicklung halten die beiden ETH-Risikoforscher für wahrscheinlicher. Sie rechnen mit einem deutlichen Anstieg des Importbedarfs und warnen sogar vor einer «extremen Mangelsituation». Weil die Solarenergie bis 2050 nur zögerlich und andere Energieträger kaum ausgebaut werden könnten, wachse das Handelsdefizit auf zwei Drittel des Gesamtkonsums an. Den ESC-Experten ist dieses Worst-Case-Szenarios wiederum zu «unseriös und einseitig». Ihr Gegenentwurf: ein «zuverlässiger und günstiger» Mix aus erneuerbaren Quellen, angereichert mit Strom aus Gaskraftwerken. Dieses Konzept sei nachhaltig und stimme mit der beschlossenen Energiestrategie überein.
Auch hier ist der Laie überfordert: Zum einen streiten die Wissenschaftler über ein Gedankenmodell, das erst in knapp 30 Jahren wahr werden soll oder die Realität dannzumal weit verfehlt. Aber wer wagt eine Garantie, dass es genauso kommt wie vorausgesagt? Die Meteorologen haben gelernt, sich gegen mögliche Falschaussagen abzusichern: Die Regenprognosen sind für das breite Publikum verständlich mit einem Wahrscheinlichkeitsbalken ergänzt. Und die Klimaforscher des IPCC sagen zwar, dass die maximale Erderwärmung auf 1.5 °C begrenzt werden kann. Aber auch dieser Aussage liegt eine eingeschränkte Trefferquote von 66 % zugrunde.
Unsichere Simulationen anzeigen
In politischen Botschaften verschwinden solche Wahrscheinlichkeitsrechnungen schnell, weil kurze Pointen ohne anzweifelbare Anhängsel besser kommunizierbar sind. Für die Wissenschaft steht dagegen die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel: Unsichere Angaben – über die Zukunft des Wetters, des Klimas oder der Energieversorgung – sind integraler Bestandteil eines Beweises, der die zu erforschende Hypothese bestätigen soll. Unsicherheiten ebenso selbstverständlich wie transparent darzulegen ist unverzichtbarer Teil der wissenschaftlichen Kommunikation.
Auch hier trifft das Akademie-Kollegium den Ton am besten. Es hakt nicht auf bestehenden Vorschlägen herum, sondern skizziert eine Vielfalt an Optionen und erklärt auch interne Zusammenhänge: Will die Schweiz ihre Winterlücke schmälern, muss sie zum einen Ausschau halten nach synthetischen Brennstoffen aus klimaneutraler ausländischer Produktion; zum anderen kann sie sich Gedanken machen, wie stark der inländische Energiepark auszubauen ist. Laien können eher weniger gut beurteilen, wie plausibel die Annahmen dafür sind. Aber sie verstehen die skizzierten Szenarien sicher, wenn daraus ersichtlich wird, mit welchen technischen und ökonomischen Risiken eine Verbesserung der Versorgungssicherheit einhergeht.
Bemerkenswert ist das Motiv, das die Synthese der Wissenschaftsakademien hervorbrachte: Die Fachleute wollten sich selbst einen Überblick verschaffen und konnten sich deshalb freier bewegen, als wenn ihre Arbeit von einer politischen Instanz bestellt worden wäre. Denn sobald alltägliche Scheuklappen wegfallen, sind auch «Out of the box»-Positionen erlaubt. Zum Beispiel: Was müsste die Schweiz tun, um bis 2050 nicht nur klimaneutral, sondern auch vollständig energieautark zu werden?
Politik entscheidet lieber selbst
Die erste Vermutung würde lauten: Es braucht sehr hohe Investitionen und einen immensen Zusatzbedarf an Solarstrom respektive Flächen für Photovoltaikanlagen. Aber nur die Wissenschaft kann simulieren, wie viel Geld oder Kilowattstunden in etwa dafür erforderlich sind. Solche Informationen sind keine unnötige Spielerei, sondern bilden – ergänzt mit dem jeweiligen Unsicherheitsgrad – relevante Grundlagen für jeden künftigen Versorgungsentscheid.
Insofern ist folgende Rollenaufteilung erwünscht: Die Wissenschaft liefert wichtige Informationen, mit welchem Aufwand die Schweiz energieunabhängiger wird, und gibt Empfehlungen ab, wo der Zusatznutzen ein Optimum erreicht. Darüber entscheiden, welcher Weg einzuschlagen ist, liegt aber nicht in ihrer Hand. Das machen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowieso lieber selbst. Aber – und darauf ist wohl auch ein gewisser Teil der Unruhe unter Wissenschaftlern zu beziehen – sie sollten sich allmählich Zeit nehmen, eine sichere und klimaneutrale Energieversorgung bis 2050 zu organisieren.