«Al­len ist klar: Der Er­halt von ­Ge­bäu­den ist wich­tig»

Die Stadt Zürich wächst und baut die öffentliche Infrastruktur aus. Aber wie geht das zusammen mit dem Klimaziel, das auch ein Absenken von indirekten CO2-Emissionen erforderlich macht? In einem Round-Table-Gespräch erklären Verantwortungsträger:innen aus der Verwaltung ihre Handlungsstrategien.

Publikationsdatum
10-05-2023

TEC21: Die drängendste Frage gleich zu Beginn: Klimaaktivist:innen protestieren gegen Abbruch und Ersatzneubau, weil das mit dem Schutz des Klimas nicht vereinbar sei. Trifft dies auch auf Zürich zu? Bauen Sie zu viel, und brechen Sie zu viele Gebäude ab?

Claudio Durisch: Die Stadt strebt klare Nachhaltigkeitsziele an, darunter netto null bis 2035 als verwaltungsinterne Vorgabe. Gleichzeitig erfüllt Liegenschaften Stadt Zürich weitere politische Aufträge. So bedeutet das Drittelsziel im städtischen Wohnprogramm: mehr öffentliche, preisgünstige Wohnungen zu schaffen. Dafür wägen wir ab, wie eine Liegenschaft erneuert und erweitert werden kann, ob mit Ersatzneubau oder weniger radikalen Mitteln. Dies erfolgt auf strategischer Ebene über die verschiedenen Liegenschaftenportfolios.

Benjamin Leimgruber: Die Investitionsplanung für Schulbauten sieht bis 2030 rund 390 Bauprojekte vor. Das meiste umfasst Unterhalt, Pflege und Instandsetzung; nur knapp 8 % sind Neubauten und etwa 4 % Ersatzneubauten. Letztere sind nötig, weil die Bevölkerung wächst und die Zahl der Schülerinnen und Schüler steigt. Zur Hauptsache kümmern wir uns in diesem Teilportfolio von Immobilien Stadt Zürich also um den Gebäudebestand.

Die Fachstelle Umweltgerechtes Bauen ist schweizweit bekannt als Vorreiterin für die Ökobilanzierung von Gebäuden. Wie klimafreundlich sind die Bewirtschaftungsstrategien ihrer Verwaltungskolleg:innen?

Niko Heeren: Allen ist klar: Das Erhalten bestehender Gebäude ist ein wichtiger Hebel für die Reduktion der indirekten Treibhausgasemissionen. Wir begleiten städtische Bauprojekte etwa im Wettbewerbsverfahren oder führen ökologische Projektbewertungen durch. Zudem liefern wir anhand von Machbarkeitsstudien Grundlagen, um Zielkonflikte faktenbasiert abzuwägen. Während die direkten Treibhausgasemissionen sinken, bewegen wir uns bei den indirekten Emissionen im Spannungsfeld zwischen Wachstum und Reduktion. Aus den Pionierarbeiten für die 2000-Watt-Gesellschaft können wir viel Fachwissen für das anspruchsvollere Netto-Null-Ziel generieren. Innovationen und Pilotprojekte helfen, neue Lösungen zu finden und fördern den internen Dialog.

Was die Stadtverwaltung Alles für netto-null tun kann

 

An der Umsetzung der Netto-Null-Ziele im Gebäudebereich sind verschiedene Verwaltungseinheiten inner- und ausserhalb des Hochbaudepartements beteiligt. Diese leisten Koordinationsaufgaben innerhalb der Stadtverwaltung und sprechen sich auch mit übergeordneten Vollzugsebenen ab. Gegenüber den Gebäudeeigentümer:innen fordern sie ein, was Bund, Kanton und Stadt selbst verbindlich regeln.

 

So betreut das Amt für Städtebau (AfS), für Planung, Architektur und Denkmalpflege zuständig, die kommunale Richt- und Nutzungsplanung: Darin ist die nachhaltige Siedlungsentwicklung nach innen hinsichtlich des Netto-Null-Ziels teilweise zu ergänzen und zu präzisieren.

 

Das Amt für Hochbauten (AHB) ist als Bauherrenvertretung ver­antwortlich für die nachhaltige Projektentwicklung, Realisierung und Instandsetzung sämtlicher stadteigener Hochbauten. Der Stand des Wissens im ökologischen Bauen wird permanent durch gezielte Fachstudien erweitert. Dieses Know-how fliesst als Innovation in konkrete Bauprojekte ein.

 

Immobilien Stadt Zürich (IMMO) ist für das Management von städtischen Liegenschaften verantwortlich, die vorab dem Service public dienen; das Portfolio umfasst etwa 1800 Schul-, Verwaltungs- und Gesundheitsbauten. Die IMMO stellt fachliche Kompetenzen für die Bewirtschaftung und strategisches Know-how für die klimafreundliche Portfolioentwicklung sicher.

 

Liegenschaften Stadt Zürich (LSZ) ist für 56 Wohnsiedlungen und rund 500 Mietliegenschaften verantwortlich; gesamthaft gut 9500 Wohnungen und 1000 Gewerberäume. LSZ kümmert sich zudem um den Zuwachs an Wohnungen und treuhänderisch um kommunale Landreserven und Immobiliengeschäfte.

Das Amt für Städtebau ist auf übergeordneter Ebene tätig. Können Sie, Frau Blatter, Einblick geben, wie die Klimaziele intern gewichtet werden?

Mireille Blatter: Für die qualitätsvolle Innenentwicklung an zentralen Lagen ist die Ertüchtigung des Bestands eine wichtige Option, da sie im Sinne von netto null in der Tendenz besser abschneidet. Dafür muss jeweils ein Variantenfächer überprüft werden, der so aufzubereiten ist, dass zum Beispiel ein objektiver Vergleich der Treibhausgasemissionen pro Quadratmeter Wohnfläche möglich ist. Doch je höher die Ausnutzungsreserve einer Liegenschaft ist, umso vorteilhafter können Ersatzneubauten im Vergleich zum Bestand sein. Insofern ist ein Abwägen verschiedener Verdichtungsvarianten zwingend. Wir beraten private Bauherr:innen heute dahingehend, dass bei Arealüberbauungen ein angemessener Umgang mit dem Bestand immer als Option geprüft wird. Unser Amt ist aber auch für die Denkmalpflege zuständig; auch hier leisten wir bereits sehr viel zur Erreichung der Klimaziele. Rund 17 % des Gebäudeparks in der Stadt sind im kommunalen Schutzinventar aufgeführt, und ein grosser Anteil ist verbindlich geschützt. Aufgrund des neuen kantonalen Energiegesetzes müssen diese Objekte aber von fossilen auf erneuerbare Energien  umgerüstet werden. Und weil geschützte Gebäude jeweils erhalten bleiben, ist das in Bezug auf die graue Energie vorbildlich.

In Ihren unterschiedlichen Funktionen innerhalb der Stadtverwaltung weisen Sie wiederholt auf den Bedarf hin, unter verschiedenen Vorgaben abzuwägen und Zielkonflikte zu bereinigen. Wer darf denn nun entscheiden, wie hoch der Klimaschutz beim Bauen zu gewichten ist?

Leimgruber: Über solche Güterabwägungen entscheidet letztendlich der Stadtrat. Aber vorher stimmen die Verwaltungseinheiten ihre Bedürfnisse untereinander ab, wobei netto null ein dienstabteilungsübergreifendes Ziel ist, das alle gleichermassen und gemeinsam verfolgen. Wir sprechen aber nicht erst seit gestern darüber, wie direkte und indirekte CO2-Emissionen zu reduzieren sind. Dieses Anliegen verfolgen alle Beteiligten schon lange aktiv, bei strategischen Entscheiden, bei Machbarkeitsstudien und bei der Vorbereitung von Wettbewerbsprogrammen. Zusätzlich erarbeiten wir weitere für den Klimaschutz relevante Grundlagen, unter anderem den Absenkpfad für einen netto-nullkompatiblen Gebäudebestand.

Sind beim Management der Wohnliegenschaften ähnliche Vorarbeiten für die Umsetzung des Netto-Null-Ziels im Gang?

Durisch: Künftige Projektentwicklungen werden standardmässig hinsichtlich der grauen Energie überprüft. Und wir beginnen, auch laufende Verfahren zur Siedlungserneuerung diesbezüglich zu hinterfragen. Uns ist sehr bewusst, dass das Potenzial zum Weiterbauen stärker als bisher auszuschöpfen ist. Um einen Standort zu verdichten, braucht es nicht jedes Mal den Komplettersatz. Ein Ersatzneubau will jedoch nicht nur aus Netto-Null-Sicht gut überlegt sein. Er muss auch in sozialer Hinsicht etwas leisten, indem er beispielsweise vielfältigen Wohnraum schafft.

Leimgruber: Auch für Schulstandorte braucht es eine umfassende Beurteilung, bevor ein Entscheid zum Bauen getroffen wird. In der Projektentwicklung berücksichtigen wir 23 Kriterien aus allen drei Nachhaltigkeitsdimensionen: Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft. Die Reduktion der Treibhausgase ist aber das zentrale Anliegen, dem entsprechend Rechnung getragen wird. Dafür ist die Klimabilanz jeweils zu Beginn einer Evaluation zu überprüfen. Die Zielerreichung wird für das gesamte Portfolio anvisiert.

Die graue Energie ist bei Bauaufgaben der Stadt ein wichtiger Kennwert. Aber das Kriterium muss sich seinen Platz mit anderen Aspekten teilen. Wie gehen Sie intern damit um?

Heeren: Gesellschaftlich ist die Klimakrise die zentrale Herausforderung in diesem Jahrhundert, dicht gefolgt vom Biodiversitätsverlust. Den grauen Emissionen für Material und Erstellung kommt eine besondere Rolle zu: Sie dominieren die Ökobilanz von Gebäuden mittlerweile. Und leider sind erst geringe Fortschritte erkennbar, wie die Baustoffindustrie selbst ihre Emissionen senkt. Ich halte persönlich folgende Prioritäten für gerechtfertigt: Wir brauchen verbindliche Grenzwerte für die Erstellung von Gebäuden. Das Erhalten von zuvor investierter grauer Energie im Gebäudebestand zahlt sich aus, weil nur schon im Rohbau jeweils 30 bis 40 % der Gesamtemissionen stecken.

Blatter: Ich denke, es braucht eine Methode, mit der die graue Energie von Immobilien auch finanziell berücksichtigt werden kann, etwa vergleichbar mit den Regeln für die Finanzbuchhaltung. Wenn Abbruch und Neubau dadurch insgesamt teurer werden, erhöht sich der wirtschaftliche Anreiz für einen Erhalt oder Teilerhalt von Gebäuden.

Heeren: Über solche übergeordneten Aspekte sprechen wir verwaltungsintern immer häufiger. Im AHB-Alltag fokussieren wir meistens auf Einzelobjekte: Wie lassen sich diese jeweils an das Netto-Null-Ziel heranführen? Abhängig von der Bestellung und dem angesprochenen Wachstumsdilemma erzielen wir manchmal bessere und manchmal weniger gute Resultate. Trotzdem behalten wir das Gesamtsystem im Blick: Zürich, die grösste Stadt der Schweiz, kann unmittelbar helfen, den Klimafussabdruck der ganzen Schweiz zu verbessern. Wir sind sehr gut mit dem ÖV erschlossen. Die Wege zwischen Wohnen und Arbeiten sind kurz. Und der Pro-Kopf-Wohnflächenbedarf ist in Zürich deutlich niedriger als in der übrigen Schweiz.

Durisch: Aktuell belegen die Bewohner:innen der städtischen Liegenschaften pro Person rund 30 m2 Wohnfläche, fast 25 % weniger als im privaten Mietsegment. Um netto null zu erreichen, müsste über eine generelle Regulierung zumindest nachgedacht werden. Wir selbst werden die Mindestbelegungsvorgaben in Stadtwohnungen ab 2024 regelmässig überprüfen. Die Zahl der Bewohnenden darf die Zahl der Zimmer um höchstens eins unterschreiten.

Blatter: Politisch sind Vorschriften für private Immobilieninvestor:innen umstritten; dazu würde es gesetzliche Voraussetzungen brauchen. Fraglich erscheint mir auch, ob Anreize das suffiziente Wohnmodell attraktiver machen. Die Stadt kann jedoch selbst Gegensteuer geben und eigene Anforderungen an das Bauen definieren. Weil die Gesellschaft jetzt Korrekturen einfordert, darf und soll die Stadt bestehende Standards, etwa beim Zusatzkomfort, hinterfragen. Gerade die Altstadt ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Abweichen von heutigen Planungsnormen nicht als Einbusse, sondern als Qualitätsmerkmal wahrgenommen werden kann. Kaum jemand beklagt sich in der Altstadt über Wohnraum, der zu nah, zu eng, zu beschattet sei.

Leimgruber: Öffentliche Bauherrschaften haben eine Vorbildfunktion gegenüber den Privaten. Ich attestiere uns eine hohe Bereitschaft, auch über wenig beliebte Suffizienzlösungen zu diskutieren. Wir konnten etwa die Flächenstandards für Schulhäuser und Verwaltungsbauten in den letzten Jahren reduzieren, bei gleichbleibender Qualität für die Nutzenden.

Auf dem Weg zu netto null braucht es vielfältige Massnahmen, vom Erhalt über schlanke Gebäudestrukturen bis zum Suffizienzmodell. Wie beurteilen Sie den Stand des benötigten Wissens, um jedes öffentliche Gebäude von Zürich bis 2035 zu netto null zu führen, auf einer Skala von 0 – noch nirgends – bis 10 – voll auf Kurs?

Durisch: Bei der Reduktion der direkten Emissionen gebe ich uns die 10. Die Energieversorgung steckt mittendrin in der Umstellung von fossil auf erneuerbar. Im Umgang mit dem Bestand erreichen wir aber erst eine 7 oder 8, weil einige Grundlagen fehlen. Wir sind daran, die Entwicklung unseres Portfolios hinsichtlich des CO2-Fussabdrucks zu bilanzieren. Davon erhoffen wir uns Anregungen für den optimierten Umgang mit grauer Energie und dem Bestand.

Leimgruber: Ich gebe sogar eine 10+: Wir haben einen verbindlichen Marschplan und ein bewilligtes 140-Mio.-Franken-Budget für den fossilen Ausstieg unseres Portfolios. Wir wissen auch, wie die Heizungsanlagen auf erneuerbare Energieträger umzustellen sind. Bei den indirekten Emissionen gebe ich uns eine 7. Das wird sichtbar, sobald die mit dem UGZ erarbeitete CO2-Analyse vorliegt. Dann wissen wir mehr darüber, wie die Vorgabe 30 % weniger als 1990 zu erreichen ist.

Heeren: Meine Beurteilung ist eine 8: Viele Massnahmen sind bekannt. Die Holzbauweise, die Materialeffizienz oder das Re-Use besitzen ein Potenzial, um die indirekten Emissionen deutlich zu reduzieren. Den Pfad, auf dem sich die 2000-Watt-Gesellschaft in den letzten zehn Jahren bewegt hat, gilt es aktiv weiterzuentwickeln. Was jedoch fehlt, sind Baumaterialien mit einer spezifischen Nullemissionsbilanz. Bis solche verfügbar sind, müssen wir auch über Verzicht und Suffizienz sprechen.

Blatter: Die Stadt Zürich steht im Vergleich mit anderen schweizerischen Städten gut da. Den Beitrag der Denkmalpflege für das Netto-Null-Ziel bewerte ich ebenfalls mit gut. In der Altstadt wird der Wandel der Energieversorgung mittelfristig mit dem geplanten Wärmeverbund erfolgen; für diesen Gebäudebestand, der zu fast 90 % geschützt ist, stellt der Wechsel zu erneuerbaren Energien einen wesentlichen Fortschritt dar. Sowieso haben geschützte Häuser ihren Lebenszyklus mehrfach überlebt und leisten langfristig sehr viel Gutes für den Klimaschutz. Wir sind zuversichtlich und geben der Stadt Zürich eine 9. Doch es
gibt auf dem Weg zu netto null weitere Hürden. Das Ziel bleibt sehr ambitioniert.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Netto null bis 2040Wie die Stadt Zürich klimaschonend bauen will».

Weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem E-Dossier «Bauen für Netto Null».

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