Neuland im Stadtzentrum
Architektur aktuell
Vor einem Jahr wurde die Überbauung auf dem Bleiche-Areal in Schaffhausen fertiggestellt. Heute zeigt sich: Die Neubauten fügen sich gut in den Bestand, die öffentlichen Räume funktionieren. Die Stadt hat als weitsichtige Bauherrschaft entscheidend zu dieser Qualität beigetragen.
Seit rund zwei Jahrzehnten werden in Schweizer Städten zentral gelegene, grosse Areale systematisch neu bebaut. Anfangs waren es ehemalige Industrieanlagen, die infolge des Strukturwandels zu wertvollen urbanen Landreserven mutierten. Dann begann die SBB, ausgewählte Grundstücke von Remisen, Werkstätten und Abstellgleisen zu befreien; an deren Stelle entstanden Überbauungen, die dank Bahnhofsnähe eine hohe Dichte und verlockende Renditen ermöglichten.
Die Europaallee in Zürich gehört zu den prominentesten Beispielen dieser Gattung, sowohl in Bezug auf die Grösse als auch auf die Fragen, die ein solcher Entwicklungsschub aufwirft.
Die Herausforderungen bei allen diesen Projekten gleichen sich: die Erdgeschossnutzungen, die Attraktivität der öffentlichen Räume, der Ausdruck der Fassaden und die Nahtstellen zum Bestand – Themen also, deren Bearbeitung viel Sorgfalt und Engagement verlangt. Dass der Zeit- und der Renditedruck dem nicht immer zuträglich sind, ist bei den meisten realisierten Beispielen nicht zu übersehen.
Qualität vor Preis
In diesem Kontext stellt die Überbauung des Bleiche-Areals in Schaffhausen eine erfreuliche Abweichung vom Gewohnten dar. Das Areal, das bis 2004 als Busbahnhof und als Parkplatz gedient hatte, befindet sich an bester Lage: direkt am Bahnhof und nur durch die Gleise von der Altstadt getrennt.
Die Stadt, der das Land gehörte, hatte sich deshalb jahrelang beharrlich dafür eingesetzt, dass eine Neunutzung der Umgebung maximal zugutekommt. 2002 wies sie das Areal der «Ergänzungszone für die Altstadt» zu. 2006 führte sie nach mehrjährigen Testplanungen einen Investorenwettbewerb nach SIA 142 durch, wobei sie Teams aus TU, Investor und Architekturbüros forderte.
Bemerkenswerterweise hielt sie auch fest: «Um einen Preiswettbewerb unter den Investoren zu vermeiden, der die Qualität der Projektkonzepte beeinträchtigen könnte, hat der Stadtrat entschieden, den (…) 2002 ermittelten Verkehrswert im Sinne einer Zielvorgabe festzulegen.»1 Damit war das Preisangebot als Zuschlagskriterium ausgeschlossen, während der «städtebauliche Beitrag zur Aufwertung des Areals und der angrenzenden Gebiete», die Nutzungsziele und die Realisierbarkeit stark gewichtet wurden.
2007 erhielt die Bietergemeinschaft von Steiner AG, Swisscanto und Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten den Zuschlag für den Landkauf. Doch Swisscanto stieg unerwartet aus dem Projekt aus. Daraufhin trat Steiner AG als «Zwischeninvestor» auf, was der Stadtrat von Schaffhausen durch Beschluss akzeptierte. Schliesslich kam mit AXA Real Estate ein neuer Investor hinzu. 2009 wurde der Quartierplan genehmigt, 2010–2014 konnte die Überbauung realisiert werden.
Feinarbeit im Kontext
Heute, ein Jahr nach Fertigstellung, zeigt sich, dass sich das Vorgehen bewährt hat. Das Ensemble von fünf unterschiedlich grossen Baukörpern definiert einen städtebaulich sorgfältig komponierten, belebten Ort, der zwischen unterschiedlichen Stadtbausteinen vermittelt: der Altstadt zwischen Bahnhof und Rhein, der Wohnlandschaft am Hang, dem mächtigen Betonbau der Berufsschule gleich oberhalb der Bleiche und dem Munot, dem Wehrturm und Wahrzeichen der Stadt.
Die städtebauliche Konstellation und die grossräumliche Topografie bilden den Ausgangspunkt des Entwurfs. Das Löwengässchen in der Altstadt liegt auf der Ebene der SBB-Unterführung, während das Bahntrassee höher verläuft als die Altstadt; daher interpretierten die Architekten den neuen Platz als Spiegelung des Fronwagplatzes in der Altstadt – und das neue Ensemble im weitesten Sinn als Weiterbauen an der historischen Substanz.
Die Neubauten nutzen die Niveauunterschiede des Hangs, um öffentliche Räume unterschiedlichen Charakters, schöne Sichtbezüge und klare Verbindungswege zu schaffen. Der leicht abfallende zentrale Platz, unter dem sich eine grosse Tiefgarage2 befindet, mündet scheinbar ganz natürlich in eine trichterförmig erweiterte Rampe, die in die Passage unter dem Bahnhof und von dort direkt in die Altstadt führt. Vom Platz aus verzweigen sich auch alle Wege vom Bahnhof ins Tal, auf den Berg und in die Wohnviertel.
Auf der Westseite vermittelt ein öffentlicher Garten zwischen den Neubauten und der Terrasse, auf der die voluminöse Berufsschule von der stolzen industriellen Tradition Schaffhausens zeugt; Wege und Treppen verbinden die beiden Anlagen und laden zum Spazieren ein. Zur stark befahrenen Mühlentalstrasse im Norden präsentiert die Überbauung eine im Erdgeschoss geschlossene, harte Front; dort sind Anlieferungen und die Garageneinfahrten untergebracht. Zum Hintersteig im Süden dagegen sind die Bauten niedriger; sie bilden ein respektvolles Gegenüber für die historischen Nachbarhäuser.
Regel und Variation
Dass die Überbauung trotz diesen ausgewogenen Reaktionen auf die heterogene Umgebung als Ganzes wirkt, liegt einerseits an der Gewichtung der Baukörper, anderseits an der Gestaltung der Fassaden. Deren formale Vielfalt entsteht aus der Kombination der teilweise weiss gerahmten Fenster, die in zwei Proportionen zu je drei Anschlagsarten vorkommen.
Die Variation und Anordnung der Öffnungen überspielt dabei die Unterschiedlichkeit der Nutzungen; erst auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, wo sich Büros, Wohnungen oder Hotelzimmer befinden. Diese Zurückhaltung unterstützt das Zusammenspiel der Bauten ebenso wie die leichten Knicke und Drehungen der Volumen, die sich einander zuwenden oder diskret voneinander distanzieren.
In den Erdgeschossen sind Läden und Gewerbe untergebracht, das Hotel öffnet sich mit einer Bar auf den Platz. An keiner Stelle kommt das Gefühl auf, sich an einem Ort zu befinden, an dem man als Passant bloss geduldet ist. Das Publikum fühlt sich willkommen und hat den Ort in Beschlag genommen.
Auch wenn der Kontrast zur Altstadt mit ihrer feinkörnigen Bebauung und ihren engen Gassen kaum grösser sein könnte: Eine Verwandtschaft ist immer wieder spürbar. Das liegt nicht nur daran, dass alle fünf Bauten in einem warmen, grauen Ton verputzt sind, der vom Sandstein des alten Bahnhofsgebäudes inspiriert ist. Es hat vielmehr damit zu tun, dass die neue Bebauung im Grunde genommen uralten städtischen Gestaltungsprinzipien folgt, indem sie aus der Variation einer sehr beschränkten Anzahl von Gestaltungselementen eine disziplinierte Vielfalt generiert.
Im Oktober 2014 erhielt die Stadt Schaffhausen den Preis der Raumplanungsgruppe Nordostschweiz (RPG NO) für vorbildliche Siedlungsentwicklung nach innen.
Anmerkungen
1 «Projektentwicklung Areal Bleiche. Investorenwettbewerb. Bericht des Beurteilungsgremiums», Schaffhausen, 4. 4. 2007.
2 Die Tiefgarage entlastet auch die Altstadt und den Bahnhof. Die Stadt hatte möglichst viele Parkplätze gefordert, im Sinn ihrer übergeordneten Strategie, rund um die Altstadt den Bau von Tiefgaragen zu ermöglichen. Schaffhausen ist als regionales Zentrum auf die Erschliessung durch den Privatverkehr ebenso wie durch den öV angewiesen.
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
AXA Winterthur
Projektentwicklung/Totalunternehmer
Steiner AG
Architektur
Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten AG
Tragkonstruktion
Bürgin Winzeler Partner AG
Landschaftsarchitektur
Hager Partner AG
Zahlen und Fakten
Planungsgebiet/Parzellengrösse
10 244 m2
Ausnützungsziffer
2.19
Nutzungsmix
Hotel mit 130 Zimmern und Wellness (31.5 %); 47 Wohnungen (25 %); Dienstleistungen (31.5 %); gewerbliche Nutzungen (12 %)
Parkierung
483 Parkplätze auf drei unterirdischen Parkgeschossen;
Mofas/Motorräder: 50 oberirdische Parkplätze;
Velos: 90 gedeckte Abstellplätze im Altstadtgeschoss
Gesamtkubatur SIA 116: 162 741 m3
BGF oberirdisch: 20 000 m2BGF
unterirdisch: 2450 m2
BGF anrechenbar Gesamtprojekt: 22 450 m2
Investitionsvolumen: 120 Mio. Fr.