Öf­fent­li­che Räu­me: Ge­dan­ken zur zu­künf­ti­gen Nut­zung und Ge­stal­tung

Viele Debatten, die sich darum drehen, wie wir in Zukunft in unseren Städten leben wollen, kulminieren in Fragen, die den öffentlichen Raum betreffen. Da geht es etwa darum, wie bislang vom Autoverkehr genutzte Flächen neu – gerechter – für Velofahrer und Fussgänger aufgeteilt werden. Oder wie Orte wie die Schützenmatte in Bern zukünftig genutzt werden soll.

Publikationsdatum
04-08-2017
Revision
23-08-2017

Was alles ist überhaupt «öffentlicher Raum»? Öffentlich sind zuerst Räume, die sich im Besitz der öffentlichen Hand befinden und öffentlich zugänglich sind. Der mit diesen Räumen verbundene Grundgedanke ist, dass sie von der öffentlichen Hand für das Wohl der Allgemeinheit vorgehalten werden. Vom urbanen Schmuckplatz bis hin zum Grün auf der Verkehrsinsel, der Autobahn selbst oder dem Park – die Ausprägung von öffentlichen Räumen ist vielfältig.

Die Anforderungen an öffentliche Räume werden immer komplexer. Sie sollen Räume der informellen Bildung und sozialen Interaktion sein, sie sollen im Zuge des Klimawandels als Kälteinseln wirken, Platz für die Regenwasserversickerung und für bedrohte Arten bieten. Und sie sollen natürlich Raum für Präsentation und Repräsentation bieten, Verkehr effizient und sicher abwickeln, als Bühne für die umliegenden Gebäude und das urbane Leben überhaupt wirken.

Mehr und mehr Flächen in der Stadt sind zwar öffentlich zugänglich, gehören aber Privaten, die das Hausrecht geniessen und Regeln für Nutzung und Verhalten in den Räumen erlassen können. Erschliessungszonen und «Piazzas» in Einkaufszentren sind oft kaum von den öffentlichen Räumen in öffentlichem Eigentum zu unterscheiden – ausser, weil sie meist besser instand gehalten werden.

Für viele Menschen erfüllen diese Räume viel eher die Funktionen, die sie mit öffentlichen Räumen assoziieren: Kaffee trinken, Eis essen, sich mit Freunden treffen. Kurz gesagt nutzen sie derartige öffentliche Räume also vor allem im Rahmen der Freizeitgestaltung. In diesen Räumen dominieren zumeist ökonomische Verwertungsinteressen, was sich beispielsweise darin äussert, dass politische Demonstrationen untersagt sind, denn sie könnten ja das Shopping-Erlebnis stören.

Der Zustand und die Gestaltung öffentlicher Räume, aber auch die Definition von akzeptierten Verhaltensweisen ist immer ein Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Umso wichtiger ist es, die Faktoren zu betrachten, die Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raumes aktuell beeinflussen und zu diskutieren, welche Funktionen öffentliche Räume zukünftig erfüllen sollen sowie welche Entwicklungen als wünschenswert betrachtet werden und welche es zu verhindern gilt.

Renaissance des öffentlichen Raumes anstatt Verödung

Die Reurbanisierung, der Zuzug in die attraktiven Städte, ist in vielen Ländern Europas ein ungebrochener Trend.1 Das Schreckensszenario der durch Globalisierung und Informationstechnologie ausgelösten Verödung von Plätzen, Strassen und Parks ist der Übernutzung gewichen. Verstärkt entwickeln sich öffentliche Räume von einer Transitzone (stark befahrene Ausfallstrassen oder Plätze, die eher Verkehrsinsel als Aufenthaltsort sind) hin zu einer Bühne für vielfältigste Nutzungen und Angebote. Die Gründe für diese Neudefinition sind vielfältig.

Zum einen liegen sie in gesellschaftlichen Veränderungen, etwa in der Flexibilisierung von Lebensformen, die mit einem veränderten Freizeitverhalten und mit einem verstärkten Aufenthalt im öffentlichen Raum einhergehen. Zum anderen haben viele Kommunen erkannt, dass die öffentlichen Räume neben den grossen Sehenswürdigkeiten die Basis des Städtetourismus sind, quasi der Kitt, der die diversen touristischen Angebote einer Stadt zusammenhält. Dementsprechend werden sie gestaltet, bespielt und inszeniert.

Smart City – eine neue Dimension der Kontrolle

Wachsende Ansprüche an Sicherheit, terroristische Bedrohungsszenarien sowie die Bekämpfung (vermeintlich) vorhandener Kriminalität wirken sich schon heute stark auf Nutzungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum aus. Zunehmende Kameraüberwachung hat bereits vor zwei Jahrzehnten umfangreiche Debatten über die Einführung von polizeistrategischen Kontrollregimen ausgelöst.2 Eine völlig neue Dimension der Debatte ergibt sich durch immer ausgefeilter werdende Kameratechniken, die Möglichkeit, Bilder ins Internet zu streamen und diese Daten mit Software zur Gesichtserkennung sowie beispielsweise den Profilen der Personen in sozialen Netzwerken zu verknüpfen.

Seitdem Kontaktlinsen-Displays und am Kopf getragene Miniaturcomputer keine ferne Science-Fiction-Vision mehr sind, müssen Fragen der Privatsphäre der Menschen ganz neu verhandelt werden. Wenn dem Nutzer einer Datenbrille beim Gang über einen öffentlichen Platz per Gesichtserkennung angezeigt wird, wer ihm entgegenkommt und wie sich derjenige in seinen Facebook- oder Tinder-Profilen präsentiert, wird die über Jahrhunderte mit der Stadt assoziierte Anonymität komplett infrage gestellt.

Die Verbreitung «smarter» Technologien trägt dazu bei, dass nicht mehr nur Staat oder Kirchen definieren, was als «normales» Verhalten gilt3, sondern dass eine Popularisierung der Überwachungstechnik und damit die Definition des Akzeptierten stattfindet. Es gibt nicht mehr nur den «bösen Überwachungsstaat», sondern jeder kann deviantes Verhalten melden. Schwarmintelligenz, die bei einigen Themen durchaus sinnvoll sein kann, etwa wenn es um Websites zur Meldung von Gefahrenstellen für Velofahrer geht, kann mit wenig Fantasie das Internet in einen Pranger verwandeln und die persönliche Freiheit im öffentlichen Raum deutlich einschränken. Wird der Rückzug ins Private die Konsequenz dieser Entwicklungen sein oder ist eine immer stärkere Selbstdisziplinierung der Menschen ein denkbares Szenario, weil man davon ausgehen muss, jederzeit gefilmt und «ins Netz gestellt» zu werden?

Stadt selber machen – mehr Mitwirkung im öffentlichen Raum

Mehr denn je wollen viele Menschen heute selbst Akteure der Stadtproduktion werden und sich Grün- und Freiflächen selbst aneignen. Traditionelle Formen von öffentlichen Räumen und Grün werden infrage gestellt. Gewünscht wird nicht mehr der perfekt gestaltete Park, sondern Flächen, die mehr Freiheit und ein breiteres Nutzungsspektrum ermöglichen, etwa Community-Gärten.

Saisonal zu mietende Gemüsefelder für die Selbstversorgung boomen im Städten wie Berlin ebenso wie die «solidarische Landwirtschaft», bei der es Teil des Konzepts ist, dass die Bezieher von Gemüsekisten mehrmals im Jahr auf den Äckern mitarbeiten. Der Preussenpark in Berlin wird regelmässig von der thailändischen Community in einen Strassenmarkt verwandelt.

Interessant wird es, wenn dieser Ruf nach mehr Mitwirkung von der öffentlichen Hand aufgegriffen wird, deren Rolle und Handlungsspielraum sich infolge von Kürzungen bei Personal und Geldern dramatisch verändern. Die öffentliche Hand muss einsparen, was früher selbstverständlich war, etwa die Pflege von Grünflächen. Der Bevölkerung mehr Eigeninitiative zuzugestehen, kann schnell als pragmatische Lösung bei der Suche nach Einsparmöglichkeiten in den sinkenden Budgets interpretiert werden.

Dieses «Outsourcing» von Pflege und Gestaltung von Grünflächen an die Zivilgesellschaft ordnet sich in die Logik von neoliberalen Stadtentwicklungsstrategien ein: Alles wird privatisiert, sogar die Verschönerung des eigenen Wohnumfeldes. Trotzdem sind bottom-up Initiativen gerade im Bereich der Aktivierung von öffentlichen Räumen aufgrund ihrer niedrigen Einstiegsschwelle ein ganz wichtiger Bestandteil einer nutzergetragenen Stadtentwicklung.

Ausblick

Angesichts der knapper werdenden Ressourcen der öffentlichen Hand und der zunehmenden Flächenkonkurrenzen in den Innenstädten wird deutlich, dass die Definition dessen, was als attraktiver öffentlicher Raum gilt, aufgeweitet werden muss. Restflächen bieten neue Chancen, etwa im Umfeld von Verkehrsinfrastrukturen. Städte wie Tokyo, die schon länger mit einer stärkeren Verdichtung konfrontiert sind, können Beispiele dafür liefern, wie mit Nutzungsüberlagerungen neue urbane Qualitäten geschaffen werden können.

Eine grosse Chance für zurückeroberte, zusätzliche öffentliche Räume liegt in einer stärkeren Auseinandersetzung mit den städtebaulichen Mustern der autogerechten städtebaulichen Strukturen des 20. Jahrhunderts, den grossen Verkehrsinfrastrukturen und ihrem Umfeld, den oft dispersen Siedlungsstrukturen mit zurzeit wenig Qualität für Fussgänger und Radfahrer. Diese Räume neu zu definieren, wird in den nächsten Jahren eine ganz zentrale Aufgabe der Stadtentwicklung werden. Denn angesichts der wachsenden Flächenkonkurrenzen und der zunehmenden Aufgaben, die Freiflächen in den Städten übernehmen müssen, wird es immer absurder erscheinen, einen so grossen Teil des öffentlichen Raumes einzig der Funktion des fliessenden und ruhenden Individualverkehrs zu überlassen.

Welche Visionen für öffentliche Räume in die Realität umgesetzt werden, hängt vor allem davon ab, in welche Richtung die Stellschrauben gedreht werden, die ihren Charakter beeinflussen: mehr oder weniger öffentliche Investitionen, mehr oder weniger zivilgesellschaftliches Engagement, Autoverkehr, Orientierung an ökonomischen Verwertungsinteressen, Artenvielfalt, Überwachung, Nutzung vermeintlich «smarter» Technologien etc. Durch viele dieser Entwicklungen wird die etablierte Kultur des öffentlichen Raums infrage gestellt.

Vor allem deshalb besteht ein dringender Bedarf, Orte und Anlässe zu schaffen, in denen ausgehandelt und diskutiert werden kann, welche Spielregeln zukünftig für die Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raumes gelten. Wo Freiheit, Anonymität und Offenheit öffentlicher Räume bedroht sind, besteht jedoch die Aufgabe des Staates darin, diese kostbaren Güter zu schützen – vor Überwachung, Kommerzialisierung, Ausgrenzung oder der einseitigen Vereinnahmung durch einzelne Interessengruppen.

Anmerkungen

  1. Vgl. Klaus Brake, Günter Herfert (Hrsg.). Reurbanisierung. Wiesbaden 2012
  2. Vgl. Klaus Ronneberger et al. Die Stadt als Beute. Bonn 1999; Richard J. Williams. The Anxious City – English urbanism in the late twentieth century. London, New York 2004
  3. Vgl. Michel Foucault. Geschichte der Gouvernementalität I – Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Colleges de France 1977/1978. Frankfurt/Main 2004

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in NIKE 4/2017.

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