Pro­vi­so­risch leicht

Das Grundstück des ehemaligen Güterbahnhofs in Zürich wird seit 2013 umgenutzt. Auf einem Teil des Areals steht nun für die nächsten Jahre ein provisorischer Holzbau als Filiale der Kantonsschule Wiedikon.

Publikationsdatum
10-12-2024

Unentwegt rattern die Züge auf dem Gleisfeld zwischen Hauptbahnhof Zürich und Hardbrücke hin und her. Viele der flankierenden Grundstücke dieser grossflächigen Verkehrsinfrastruktur durchleben seit einigen Jahren starke Nutzungsänderungen. Um der wachsenden Bevölkerung in Zürich neue Lebensräume zu erschliessen, werden die Landreserven entlang der Gleise nach und nach umgewandelt. Die kleinteiligen Betriebsge­bäude, die Werkstätten und Lokremisen weichen neuen, wuchtigen Wohn- oder Bürobauten. 

Zwischen der Hardbrücke und der Seebahnstrasse bekam auch das Areal des ehemaligen Güterbahnhofs einen neuen Zweck. Auf der einen Hälfte wurde das Polizei- und Justizzentrum Zürich errichtet. Die andere bot Platz für eine neue Schule. Denn die steigenden Einwohnerzahlen bedeuten mehr schulpflichtige Kinder und somit mehr Schulraumbedarf. Bis dort aber das endgültige Schulhaus steht, überbrückt ein Provisorium für mindestens sieben Jahre die Raumnot. Im Sommer 2024 wurde es nach etwas mehr als zwei Jahren Planungs- und Bauzeit in Betrieb genommen. 

Zwei Systeme ein Gedanke: Weiterverwendung

Die temporäre Schulanlage besteht aus drei Gebäuden, deren Baukörper sich um den künftigen Neubau anordnen. Der Wettbewerb für letzteren ist noch ausstehend und der Bau soll später parallel zum Schulbetrieb stattfinden. Für die temporären Gebäude kamen zwei verschiedene Arten von wiederverwendbaren Holzbausystemen zum Einsatz. Im Auftrag des kantonalen Hochbauamts planten pool Architekten die Doppelturnhalle und das baubüro in situ die beiden Unterrichtsgebäude auf der Basis des bestehenden Modulbaukatalogs, der von B.E.R.G. Architekten entwickelt wurde. Beide Büros haben zuvor bereits Schul­provisorien für den Kanton Zürich umgesetzt und konnten auf ihren Erfahrungen aufbauen.

Die Turnhallen sind aus flachen vorfabrizierten Holzrahmen­elementen aufgebaut, die vor Ort mit Stahlverbindungen zusammen­ge­fügt werden. Sie lagern auf Betonfundamenten, die bei diesem Projekt zum ersten Mal ebenfalls für eine Wiederverwendung konzipiert sind. Die Raumkonstruktion aus den Holz­­elementen wird von einer zweiten Hülle umspannt und verleiht den provisorischen Turnhallen von pool Architekten die wiederkehrende, signifikante Erscheinung. Sie besteht aus einer streichbaren Winddichtung und einer Holzlattung, die bei jedem Bau farblich individuell gestaltet und mit transparenten Fiberglas-Wellplatten überzogen ist. Die Farb- und Materialgestalterin Paola de Michiel entwirft die Komposition der Farben, die sie jeweils aus der ortsspezifischen Umgebung ableitet.

Die Unterrichtsgebäude entwickelte das baubüro in situ. Sie sind aus Holzmodulen zusammengesetzt, die ebenfalls bei der Kantonsschule Uetikon am See (Fertigstellung 2018, Erweiterung 2023) zum Einsatz kamen. Anders als die Holzrahmen­elemente der Sporthallen wurden diese bereits im Werk zu Raummodulen montiert. Die ­Herausforderung für die Unterrichtsmodule sind die hohen baulichen Anforderungen. Die temporären Gebäude müssen die gleichen Anforderungen bezüglich Gebäudetechnik, Schall- und Brandschutz erfüllen wie ein Neubau. Doch anders als ein Neubau sind die beiden provisorischen Holzbausysteme für eine Lebensdauer von etwa 30 Jahren und eine zweimalige Weiterverwendung ausgelegt.

Provisorien als Versuchsfeld für Suffizienz

Die drei Baukörper sind durch eine einheitliche Fassadengestaltung –mit einer Variation der Farben – zu einem Ensemble verbunden. Eine weitere Gemeinsamkeit: Die Architekten loteten bei beiden Holzbau­systemen die Grenzen der Suffi­zienz aus. Bei den Sporthallen führte das zu einem Verzicht auf Raum. Es wurde ein gemeinsam genutzter Geräteraum für beide Turnhallen erstellt anstatt wie üblich zwei separate. Diese Einschränkung wurd im Falle des Provisoriums als annehmbar empfunden. 

In den Unterrichtsgebäuden setzte man den Suffi­zienzgedanken um, indem auf Spezialnutzungen wie eine Aula und eine Mensa verzichtet und stattdessen ein Mehrzweckraum ausgeführt wurde. Arbeitsräume für Schülerinnen und Schüler sind in einem reduzierten Mass vor­handen. Zudem kamen einfache Materialien und Verbindungen im Innenausbau zum Einsatz, zum Beispiel geklammerte Fermacellplatten anstatt Gipsplatten, die ebenfalls für eine Wiederverwendung geeignet sind. 

Aktivierung des neuen Stadtraums

Die baulichen Anforderungen der temporären Schulanlage ermöglichen einen hohen Komfort in der Benutzung. Zusammen mit der Fassadengestaltung, dem sichtbaren, unbehandelten Holz in der Turnhalle und gelegentlichen Farbakzenten im Innern wirkt die Schulanlage nicht unbedingt provisorisch, sondern eher bescheiden und leicht. 

Und obwohl die Aussenanlage mit Pausenplatz, Foodtrucks und Allwetterplatz noch nicht ganz fertig ist, erahnt man schon die Wirkung dieser neuen Nutzung auf die Umgebung. Denn wo bis vor einigen Jahren der Güterbahnhof nicht öffentlich zugänglich war, wird ein frequentierter Stadtraum entstehen. Der Ort scheint zunächst ungewöhnlich für eine Schule, denn die Bahngleise verhindern den Zugang von der anderen Stadtseite. Dennoch konnte mit dem temporären Bau das Gebiet in kurzer Zeit nutzbar gemacht sowie neuer Schulraum erstellt werden. Zusätzlich entsteht mit dem Zirkusquartier als direktem Nachbar – im Moment in den letzten Überbleibseln des Güterbahnhofs untergebracht – ein Dialog unterschiedlicher Nutzungen. 

Das Areal bietet mit seiner Offenheit einen neuen zugänglichen Lebensraum für die Stadtbewohner und die filigrane Gestalt der Schulanlage bildet einen starken, aber wohltuenden Kontrast zum monumentalen Polizei- und Justizgebäude – vorerst zumindest. 

Kantonsschule Wiedikon Zürich, 
Filiale Hohlstrasse Provisorium

 

Bauherrschaft
Baudirektion Kanton Zürich, Hochbauamt


Architektur
Schultrakte: baubüro in situ, Zürich, Sporthallentrakt: pool Architekten, Zürich


Vergabeform
Schultrakte: Folgeauftrag über Planerwahlverfahren, Sporthallentrakt: Rahmen­vertrag über Planerwahl­verfahren


Tragkonstruktion
Schultrakte: Jäger Partner Bau­ingenieure, Zürich, Sporthallentrakt: Makiol Wiederkehr, Beinwil am See


Baumanagement
Schultrakte: Cockpit Projektmanagement, Zürich, Sporthallentrakt: Takt Baumanagement, Zürich


Landschaftsarchitektur
Balliana Schubert Landschaftsarchitekten, Zürich


HLK-Planung
Schultrakte: Kegel Klimasysteme, Zürich, Sporthallentrakt: Gruenberg + Partner, Zürich


Bauphysik
Schultrakte: BB & A Buri Bauphysik & Akustik, Volketswil, Sporthallentrakt: Grolimund + Partner, Aarau


Generalunternehmung und Holzbauer
Blumer-Lehmann, Gossau


Elektroplanung
Schultrakte: R+B Engineering, Zürich, Sporthallentrakt: TGA Solutions, Lenzburg


Fertigstellung
Juli 2024 

 

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