Die Not der Emme findet ein Ende
Revitalisierte Emme (BE/SO)
Mit seiner Erzählung «Die Wassernot im Emmental» löste Jeremias Gotthelf eine eigentliche Wasserbauoffensive in der Schweiz aus. Die Emme selbst wurde vor 150 Jahren in einen engen Kanal gezwängt. Nun haben Bern und Solothurn das Korsett entfernt und dem Wasser, der Natur und den Menschen viel Raum zurückgegeben. Das urbane Mittelland erhält einen dynamischen, erlebnisreichen Landschaftsraum.
Was habe ich mir bloss eingebrockt? Für die Auswahl der baukulturellen Leistungen schlug ich spontan ein Hochwasserschutzprojekt vor. Was aber haben strenge Sicherheitsstandards, Gewässerregulierungen und Flussrevitalisierungen mit frei gestaltbarem Bauhandwerk zu tun? Statt einer direkten Antwort fiel mir selbst nur ein Umweg über diese Vermutung ein: Wenn das Schweizer Mittelland so bevölkert ist wie sonst kaum eine Grossregion in Europa, muss dann die Landschaft nicht einen Ausgleich für die urbane Dichte bieten? Oder dringlicher formuliert: Ist die Stadt Schweiz, die sich vom Bodensee bis zum Lac Léman erstreckt, nicht auf Zonen angewiesen, die der Zersiedelung endlich Paroli bieten?
Im Video erklärt Paul Knüsel, weshalb das Projekt in seinen Augen für hohe Baukultur steht.
Gesucht sind also Räume, in denen die Natur frei walten darf und in denen auch der Mensch willkommen ist. Darum geht es doch bei Kulturlandschaften: Vielfältigste Ansprüche finden kultiviert zueinander. Dieser Meinung ist auch die europäische Landschaftskonvention: Landschaft ist alles und nicht nur der letzte Rest an grüner Natur. Zwar trennt das Raumplanungsgesetz immer noch Siedlung von Nicht-Siedlung. Doch die Realität überschreitet diese Grenze längst: Sehr viele «unbebaute» Flächen sind von Menschenhand überformt. Die Absichten und die Qualitäten, mit denen wir nicht nur Siedlungen, sondern auch Landschaften gestalten, summieren sich deshalb zu einem Erbe, das kommenden Generationen vor die Füsse fallen wird. So scheint die inhaltliche Brücke geschlagen: Landschaftsgestaltung und Baukultur gehören wirklich zusammen.
Wild und beruhigend zugleich
Mittlerweile stehe ich auch physisch auf einer Brücke, unweit von Solothurn – zentraler im Mittelland geht kaum. Hinter mir braust der Verkehr zwischen Zuchwil und Derendingen; mein Blick richtet sich jedoch auf Wildes und Beruhigendes zugleich: ein Flussbett mit dominierenden Kiesbänken und weit auseinander liegenden Ufern. Eben erklärt Roger Dürrenmatt, Projektleiter im Amt für Umwelt des Kantons Solothurn, wie sich die Emme durch das aussergewöhnlich breite Gerinne schlängeln darf. Fünf Jahre waren Bauarbeiter und Bagger am Werk, um einen engen Kanal zu entfernen. Mindestens so viel Zeit verbrachten Ingenieure, Biologen und Fachbehörden vorher mit Diskutieren, Zeichnen und Verhandeln, bis alle Betroffenen mit dem Plan einverstanden waren, den Hochwasserschutz zu verbessern und ihn mit einer naturräumlichen Aufwertung zu verbinden. Nun sind auch die letzten fünf Emmekilometer bis zur Mündung in die Aare mit Biotopen, Badestellen, Seitenarmen und stillen Beobachtungsplätzen bestückt. Der Kanton Solothurn schloss dieses Jahr sein Hochwasserschutz- und Revitalisierungsprojekt ab – und setzt fort, was die Nachbarn aus Bern flussaufwärts schon länger tun.
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Die Emme ist eines der letzten Fliessgewässer der Schweiz, deren Abflüsse nicht regulierbar sind. Das in den Berner Voralpen gesammelte Wasser kann in kurzer Zeit zu einem Wildbach anschwellen; im Sommer 2005 trat die Emme bis weit ins Mittelland über die Ufer. Diese Schäden lösten die jetzige Wiederbelebung und die Verbesserung des Hochwasserschutzes aus. 150 Jahre zuvor war es «Die Wassernot im Emmental» – eine Erzählung von Jeremias Gotthelf –, die zur erstmaligen Koordination des Wasserbaus in der jungen Schweiz beitrug. Emile Ganguillet, Oberbauingenieur des Kantons Bern, ordnete bahnbrechende hydraulische Versuche an und liess die Emme dementsprechend kanalisieren. Damit begann eine Entwicklung der Kulturlandschaft entlang der begradigten Gewässerlinie, die den Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft und neuerdings zur Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft beispielhaft veranschaulicht. Der Gestaltungswille war und ist gross; auch der Respekt vor der Naturgewalt blieb. Die kulturelle Leistung besteht jedoch darin, die Kraft in Positives umzumünzen: Die historische «Wassernot» wurde mit dem Industriekanal gebändigt, der als mechanischer Antrieb nutzbar war. Entlang der Emme – vom Berner zum Solothurner Mittelland – reihen sich bis heute Kleinwasserkraftwerke und Fabriken.
Die grösste, das Stahlwerk in Gerlafingen, ist noch in Betrieb; weitere einst schweizweit bekannte Papier- oder Garnfabriken stehen still. Andere Uferzonen, die mit der frühen Kanalisierung trockengelegt wurden, kamen in den Emmegemeinden zuerst als Kiesgruben und danach als Abfallhalden zum Einsatz. Inzwischen ist das belastete Material entfernt, die sanierten Ränder sind wieder dem Gewässerraum zugeordnet. Insgesamt durfte der Fluss eine Fläche von beinahe 30 Hektar zurückerobern. Das Meiste war zuvor Wald. Die Emme verbessert so die regionale Diversität: Neben natürlicher Dynamik und vielfältigen Ökonischen bietet das einst eingeengte Fliessgewässer jetzt auch generös Platz für Bildung, Kunst und Naherholung.
Am Ortstermin im Spätsommer sind Erholungssuchende in Wanderschuhen oder auf E-Bikes unterwegs; auch solche mit Nordic-Walking-Stöcken oder einer Hundeleine in den Händen passieren den Uferweg. Roger Dürrenmatt erzählt von weniger auffälligen Profiteuren der Revitalisierung: Die Bachforelle laicht nach mehr als hundert Jahren wieder in der Emme. Und auch der Flussregenpfeifer, ein seltener und stark gefährdeter Vogel, hat die neuen Kiesbänke letzten Sommer zum Brüten entdeckt. Damit das Nebeneinander konfliktfrei bleibt, werden Zugänge provisorisch abgesperrt. Die wenigen Verhaltensregeln sind für Passanten auf Tafeln im Gewässerraum oder zeitgemäss auf dem digitalen Outdoor-Guide «EmmeApp» gut erklärt.
Reserven für Unwägbarkeiten
Eingriffe in Fliessgewässer sind interdisziplinäre Aufgaben, weil unterschiedliche Schutz- und Nutzungsanliegen aufeinanderprallen. Die Eingriffe selbst können schnell zur Materialschlacht werden; die hohe Wiederverwertungsrate für den Aushub und das Gestein bei der Emme sind deshalb vorbildlich. Was das Bauen mit und am Wasser jedoch besonders illustriert, ist ein generelles Verständnis dafür, wie jede Planung nicht alles bis ins Letzte vorhersehen kann.
Die Hydraulik der Fliessgewässer ist ein eigenständiges Gestaltungsmittel, das in offener Weise zu berücksichtigen ist. Die hohe Wasserbaukunst besteht ausserdem darin, den meteorologischen Unwägbarkeiten mit einer grosszügigen Reserve zu begegnen. Die Emme kann sich in ihrem erweiterten Gerinne viel stärker als früher austoben. Der Niederschlagssommer 2021 liess die Pegel auch im Solothurner Wasseramt steigen. An einzelnen Böschungen musste zwar nachgebessert werden. Doch die geringen Schäden – kahle Flecken und ausgerissene Büsche – wird die Natur diesmal weitgehend selbst reparieren. Genau diesen grosszügigen Rahmen in Raum und Zeit soll der wiederbelebte Fluss ebenso langfristig ausloten wie zuvor der erzwungene Kanal.
Ein Nachtrag in Sachen Kultur: Nicht nur das Wasser darf gestalten, auch Künstlerinnen und Künstler wurden für skulpturale und bildnerische Beiträge eingeladen. Mehr dazu verraten wir hier nicht. Stattdessen folgt die Aufforderung, vor Ort selbst nach der Baukultur im Wasserbau zu suchen.
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Revitalisierte Emme (BE/SO)
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Kanton Solothurn
Planung und Bauleitung (Etappe 2)
Ingenieurgemeinschaft Emme Auen: Kissling + Zbinden, Bern, und IUB Engineering, Bern
Umweltverträglichkeitsbericht und Umweltbaubegleitung
Ingenieuergemeinschaft ME: IC Infraconsult, Bern, Fischwerk Luzern, Impuls Thun (BE)
Wasserbau
ARGE Emme 2017: Marti Solothurn, Eberhard Kloten (ZH), wsb Rafz (ZH), Gebr. Jetzer Schnottwil (SO)
Projektdaten
Bezeichnung
Hochwasserschutz und Revitalisierung Emme, Bauetappe 2: Wehr Biberist (SO) bis Aaremündung Zuchwil/Luterbach (SO)
Fertigstellung
2020/2021
Bausumme
72 Mio. Fr.
Programm
Planung 2010–2015
Bauarbeiten Sommer 2016–Herbst 2020 (Nachbesserung im Herbst 2021)
Projektlänge
4.8 km
Landerwerb
27.5 ha
Materialbedarf und -Kreislauf
Aushub: 300 000 m3; davon 90 % vor Ort
Blocksteine: 120 000 t; davon 60 % vor Ort