Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft

Sulzerareal, Winterthur (ZH)

Das Sulzerareal war die erste grosse Schweizer Industriebrache. Die Stadt Winterthur und zahlreiche Besitzer führen es sicher und ohne Eile in eine neue Ära über. Wo andere Städte sich schwer tun, Entwicklung zuzulassen, ohne den Bestand übereilig zu beseitigen, ist hier eine Balance gelungen. Im rund 22 Hektar grossen, vielfältig belebten Areal entstand eine Koexistenz zwischen Moderne und Industrievergangenheit, die baukulturell beispielhaft ist.

Publikationsdatum
11-03-2022

Velofahrer radeln vor Klinkerfassaden alter Fabriken vorbei, Mütter plaudern auf der Terrasse eines zum Café umfunktionierten Portierhäuschens, während Kinder auf dem Like-a-Bike Runden drehen; Wassergeräusche von jemandem, der Hochbeete giesst, und zielstrebige Menschen, die in den Eingängen der Häuser mit Anschriften von Architektur- und Grafikbüros verschwinden. Neben der Bewegung ist auf dem Sulzerareal die ausbalancierte Diversität zwischen Bestands- und Neubauten, die dem Ort etwas organisch Gewachsenes verleiht, ein Leitmotiv. Aber nicht wie anderenorts, wo sich historische und ­moderne Bauten sozusagen artig gegenüberstehen. Die wechselseitige Wirkung ist vielschichtiger und durchdringender. Der städtebauliche Massstab des Neuen übernimmt Anleihen des Alten – so die beachtlichen Gebäudevolumen, aber auch dazwischen die überraschend feine Durchwegung mit niederen Durchgängen und Passagen, die vor Plätzen enden. Auch die unerwarteten Durchblicke sind Teil davon – am Ende einer engen Häuserflucht rot-blaue Zugwagen auf dem Gleisfeld, oder zwischen Baustellen die Reiheneinfamilienhäuser, in denen dazumal Fa­brikarbeiter wohnten.

Am westlichen Arealrand bilden immense Hallenfassaden wie der Pionierpark, dem hinter dem denkmalgeschützten Äusseren ein neuer Glas- und Metallbau eingesetzt wurde, eine Front gegen die Zürcherstrasse. Die Altbausubstanz ist hier renoviert, gepflegt bereinigt. Anderswo auf dem Areal tragen die Bauten noch ostentativ die Spuren der Zeit. Dazwischen gibt es Gebäude aus den 1970er- oder 1990er-Jahren, die die Unterschiede zwischen Alt und Neu zusätzlich verwischen. All das ergibt selbstverständlich ein Ganzes, das auf natürliche Weise entstanden scheint und nichts Possierliches hat. So trägt die sich wandelnde Differenziertheit das Areal durch die Jahrzehnte.

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Dies hat auch einen Einfluss auf die Nutzer. Da ist die meist jüngere Bewohnerschaft in den neuen Wohnbauten, einige alte Ateliers und Werkstätten, in denen seit Jahren dieselben Leute arbeiten, sowie die Fachhochschulen, jene der zhaw für Architektur und jene für Gesundheit mit ihren Studentinnen und Studenten – gerade in Letzterer aus aller Welt. Doch wie kam es zu alldem?

Der alte und der neue Anfang

Die 1834 in Winterthur gegründete Firma Gebrüder Sulzer entwickelte sich bis in die 1960er-Jahre zu einem weltweit tätigen Industrieunternehmen mit 14 000 Angestellten. Zwanzig Jahre später, im Zuge des Neoliberalismus, der den Niedergang der Schwermetallindustrie in Europa mit sich brachte, zog sich die Firma aus dem Areal zurück und bescherte der Schweiz ihre erste grosse Industriebrache. Die Projektstudie «Winti Nova» sah einen von breiten Kreisen kritisierten Abbruch der Bauten vor. Daraufhin arrangierte die SIA Sektion Winterthur 1990 eine Veranstaltungsreihe zur Sen­sibilisierung für eine nachhaltige Arealentwicklung, was wiederum zwei Jahre später in eine Testplanung der Stadt Winterthur mündete und in einen von der Firma Sulzer ausgeschriebenen in­ternationalen Studienwettbewerb. Das Siegerprojekt «Megalou» stammte von Jean Nouvel und Emanuel Cattani.

Im Video erklärt Danielle Fischer, weshalb das Projekt in ihren Augen für hohe Baukultur steht.

Fast nebenbei entwickelten sich auf dem Areal Zwischennutzungen mit hunderten Arbeitsplätzen. Eine der ersten Institutionen war die ZHAW, Fachhochschule für Architektur, die 1991 in die ehemaligen Kesselschmiede, die Halle 180 am Südende des Lagerplatzes, einzog. Obschon der Stadtrat 1995 Nouvels Projekt bewilligte, verzögerte ein Rekurs des Verkehrsclubs Schweiz die Investoren- und Mietersuche um weitere drei Jahre. Dann beendete eine Rezession den Immobilienboom, und das Grossprojekt «Megalou» wurde ad acta gelegt. Neun Jahre später verkaufte der Sulzer-Konzern seine nicht betriebsnotwendigen Immobilien mit der Winterthurer Immobilien AG an Implenia.

Zwanzig Jahre und noch mehr

Implenia erstellt heute nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen die Lokstadt – ein Quartier mit einigen hundert Wohnungen, einem Hochhaus, Hotellerie und Büros. Auch gänzlich Neues fügt sich also in den Bestand. Inzwischen gibt es viele Eigentümer auf dem Areal, darunter die Siska, die Stadt Winterthur, die Axa und die Credit Suisse. Ein Glücksfall, der massgeblich zum gelungenen Städtebau beiträgt, ist die Stiftung Abendrot am Lagerplatz. Sie hat dort unter anderem die Halle 118 aufgestockt, ein schweizweit beachtetes Re-use-Projekt. Den südlichen Schlussstein des Platzes gegenüber der alten Halle 180 der ZHAW bildet die soeben von Beat Rothen abgeschlossene neue Halle  141, ein langer, in die Höhe gestaffelter Bau mit Ateliers, Labors, Wohnungen, Läden, einem Café und Funktionen für die Hochschulnutzung. Ein Lehrling, der im Aussenraum werkt, erzählt, wie arbeitsintensiv die Begrünung der Gasse zwischen alter und neuer Halle ist, der artenreiche Kletterpflanzen eine wundersame Dschungelatmosphäre verleihen.

Das sind die neuesten Entwicklungen. Doch der Ort wandelt sich schon seit über 20 Jahren vom Industrieareal zum Wohn-, Schul- und Dienstleistungsquartier. Das «neue Wohnen» begann im Industrie­gebäude G48 mit Lofts. Der auffällige, denkmalgeschützte Backsteinkomplex aus dem Jahr 1912, einst ein ­Magazin, folgt gerundet den Gleisen. Gleich hinter ihm befindet sich die rote Betonüber­bauung Sieb10, die Kaufmann van der Meer & Partner 2005 erstellten. Den spannenden innenräumlichen Dispositionen der Wohnungen steht leider die mangelhafte Begrünung im Hof gegenüber. Die Bewohnerinnen und Bewohner behelfen sich mit Hochbeeten und riesigen Töpfen.

Zwei Strassen weiter liegt der Katharina-Sulzer-Platz mit der Fachhochschule für Gesundheit der ZHAW, einem Backsteinbau von Pool Architekten. Nicht nur das Foyer mit terrassierten Vor- und Rücksprüngen nimmt mit dem Sheddach industrielle Elemente auf, der Bau schliesst auch räumlich und stilistisch an die alte Halle 53 an, die als «schönstes Parkhaus Europas» zwischengenutzt wird. Der Hauswart, der davor fegt, erklärt, dass der Bau an Wochenenden als Disco genutzt wird. Um Zigarettenstummel und anderen Abfall einzusammeln, muss er sonntags jeweils früh aufstehen, denn wie die meisten Arbeiter wohnt auch er heute weiter weg vom Stadtzentrum. Der Einzug wohlhabenderer Haushalte prägt auch das Sulzerareal.

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SulzerAreal, Winterthur (ZH)
An den Projekten Beteiligte

 

Halle 118, Lagerplatz. Sanierung und Aufstockung
Architektur
Baubüro in situ, Zürich

 

Bauherrschaft
Stiftung Abendrot, Basel

 

Erstellungsjahr
2021

 

Haus Adeline Favre, Katharina-Sulzer-Platz, Neubau ZHAW, Hochschule für Gesundheit
 

Architektur
Pool Architekten, Zürich

 

Bauherrschaft
Siska Immobilien, Winterthur

 

Nutzer
ZHAW Departement Gesundheit

 

Ausführung
2017–2020

 

Gebäude 141, Areal Lagerplatz. Hochschulerweiterung ZHAW, genossenschaftlicher Wohnungsbau
 

Architektur
Beat Rothen Architekten, Winterthur

 

Bauherrschaft
Stiftung Abendrot, Basel

 

Planung und Ausführung
2014–2020

 

Lokstadt Winterthur Wohnhaus Krokodil, Neubau mit Gewerbeflächen und 251 Wohnungen
Architektur
u.a. KilgaPopp, Winterthur; ARGE Baum­berger & Stegmeier Architekten, Zürich

 

Bauherrschaft
Genossenschaft Gesewo, Winterthur / Genossenschaft Gaiwo, Winterthur / Anlagestiftung Adimora, Zürich / Implenia Schweiz, Winterthur

 

Ausführung
ab 2016

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