«Neu­gier ist der Schlüs­sel zu sehr vie­lem»

Der Genfer Architekt Ivan Vuarambon leistet seit über 20 Jahren Einsätze für die Fachgruppe Bau des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe. Sein Engagement erlebt Vuarambon als kontrastreich und inspirierend zugleich. Er erzählt, warum Erfahrungen wertvoller sind als technisches Wissen.

Publikationsdatum
16-12-2024


Herr Vuarambon, Wie lange arbeiten Sie schon für das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH) und was umfasst Ihr Aufgabengebiet?

Mein Engagement für das SKH hat eine Vorgeschichte. Den Start in mein Berufsleben markierte ein städtebaulicher Wettbewerb für junge Architekturbüros, den ich zusammen mit zwei Studienkollegen Ende der 1980er-Jahre direkt nach dem Diplom an der EPFL gewann. Es ging um den Ersatzneubau dreier Wohnhäuser in einem dicht besiedelten Gebiet der Stadt Genf. 

Aus unserer vorurteilslosen Sicht war klar, dass man alle Beteiligten im Umfeld des Projekts in den Entwurfsprozess einbinden muss. Dazu gehörte auch die Hausbesetzerszene, die zu dieser Zeit in Genf sehr präsent war. Kurzum: Aufgrund unserer Unvoreingenommenheit gelang uns ein toller Entwurf, der tatsächlich realisiert wurde. Eventuell war es gar das erste Holzhochhaus in Genf – da bin ich mir aber nicht sicher. Jedenfalls wurde mir bei diesem Projekt bewusst, wie wichtig es ist, verschiedene Interessen einzubinden und den normativen Spielraum auszunutzen; in diesem Fall waren es die Brandschutznormen.

Dieses erste Projekt entsprach exakt meiner Haltung. Allerdings erlebte ich die darauffolgenden Jahre meines Berufslebens eher als Ernüchterung. Bei zu vielen Projekten beobachtete ich einen sorglosen Umgang mit dem Bestand. Meine Interessen lagen eher im bewussten Erhalt bestehender Strukturen. In den späten 1990er-Jahren war für mich die Zeit für einen Neuanfang gekommen. Ich entschied, mich selbständig zu machen, und stiess etwa zeitgleich auf ein Inserat des SKH für einen Einsatz von Baufachleuten im Balkan. Da ich mich als selbständiger Architekt einem Kollektiv anschloss, war es mit der Zeit auch projektseitig möglich, mich für Auslandeinsätze mehrere Monate auszuklinken; meine Kollektivpartner konnten meinen Part jeweils übernehmen oder ich stiess bei meinen Auftraggebern auf entsprechendes Verständnis.

Mein erster Einsatz für das SKH – nebenbei bemerkt nicht im Balkan, sondern in Sri Lanka – liegt mittlerweile über 20 Jahre zurück und ich bin erst vor Kurzem von meinem 40. Einsatz zurückgekehrt. Zu Beginn befasste ich mich mit konstruktiven Themen im Wiederaufbau, dann leistete ich mehrere Nothilfeeinsätze – unter anderem nach dem Erdbeben in Haiti im Jahr 2010. Zuletzt koordinierte ich humanitäre Einsätze und befasste mich mit «Cash and Voucher Assistance» (CVA). 

CVA geht davon aus, dass Menschen in Notsituationen ihre dringendsten Bedürfnisse selbst am besten kennen. Zur Deckung dieser Bedürfnisse stellen wir ihnen entweder konkrete finanzielle Mittel zur Verfügung oder dann Gutscheine für bestimmte Waren, wobei wir ein gewisses Qualitätsniveau – beispielsweise bei Baustoffen – sicherstellen. Ich finde CVA einen sehr interessanten Ansatz, der in gewisser Weise mit dem bedingungslosen Grundeinkommen vergleichbar ist, das hierzulande immer wieder diskutiert wird, und einer Art Versicherung entspricht. 

Die Leute setzen diese Mittel tatsächlich zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse, für den Wiederaufbau oder für Bildungszwecke ein – und nicht etwa für Genussmittel oder Drogen. Das erhöht die Resilienz dieser Menschen und ist ein wichtiger Schritt weg vom zum Teil immer noch kolonialisierten System in der Nothilfe.


Was ist Ihr einprägsamstes Erlebnis aus Ihrer Zeit beim SKH?

Diese Frage wird mir immer wieder gestellt und ich kann sie nicht präzise beantworten. Irgendwie ist es immer der erste und der letzte Einsatz. Ich kann mich zum Beispiel noch an den Moment erinnern, als bei meinem ersten Einsatz das Flugzeug Richtung Sri Lanka abhob und mich ein unbeschreibliches Gefühl ergriff. Dann gibt es zwischendurch Einsätze, bei denen man im Niemandsland bei Hitze am Boden schläft und nicht weiss, wann und was man als Nächstes isst. Auf jeden Fall erschrecke ich bei jeder Rückkehr in die Schweiz über den vorhandenen Überfluss; etwa beim Angebot an Lebensmitteln. Und ich merke, wie viel Zeit wir mit nicht substanziellen Dingen verbringen.


Erleben Sie Ihre Tätigkeit als Architekt in der Schweiz und in der humanitären Hilfe als eher gegensätzlich oder inspirierend?

Bei der humanitären Hilfe muss man zuweilen schnelle, pragmatische Lösungen ausserhalb des normativen Rahmens finden; man muss das tun, was gefordert ist, mit den Mitteln, die einem exakt in diesem Moment zur Verfügung stehen. Das ist gegensätzlich und inspirierend zugleich. Um in bestimmten Situationen handlungsfähig zu bleiben, müssen wir stets abwägen, welche Bedürfnisse oder Dinge unerlässlich sind, was in zweiter Priorität wichtig ist und was daneben wünschenswert, aber nicht notwendig ist. Dieses Kaskadenprinzip liesse sich beispielsweise als Inspiration gegen die zuvor erwähnte hiesige Überflussgesellschaft einsetzen.

Manchmal bin ich aber auch erstaunt über meine Haltung, die ich aus der Schweiz ins Ausland mitbringe. Nehmen wir das Smartphone als Beispiel: Bei einem meiner Einsätze wies mich eine Person vor Ort darauf hin, wie wichtig es für die Leute in einer existenziellen Katastrophe sei, ihr Smartphone laden zu können. Klar, die Bereitstellung von Strom an sich hat in solchen Situationen hohe Relevanz. Aber die Überlegung, die Energie eines Generators vorrangig dafür zu verwenden, irritierte mich zunächst und ich realisierte erst mit der Zeit, wie bedeutend je nach Region und sozialem Gefüge die individuelle Nutzung von Mobiltelefonen unter solchen Bedingungen ist. Auch bin ich immer wieder überrascht, was die Menschen als wichtigstes Gut in Notsituationen zu schützen versuchen: Für die einen sind es Nutztiere, für die anderen offizielle Dokumente oder Erinnerungen.

Nach all den Jahren fällt mir immer wieder eine Sache auf: Schweizer Städte sind für Katastrophen nur schlecht gewappnet und bergen ein enormes Schadenspotenzial. Wir kennen zwar verschiedene Arten von Naturgefahren und versuchen ihnen auch mit möglichst geeigneten Massnahmen zu begegnen, sind dann aber doch immer wieder überrascht über das Ausmass von Schäden, wie etwa beim Sturmtief Bernd im Jahr 2021. Wir denken oft, wir hätten alles unter Kontrolle – aber am Ende sind wir dann trotzdem mit unter Wasser stehenden Wohnhäusern, beschädigten oder zerstörten Gebäuden und unterbrochenen Versorgungswegen konfrontiert.


Gibt es eine systematische Art und Weise, wie Sie (oder das SKH) das Wissen oder die Erfahrungen erfassen, die Sie bei Ihren Einsätzen gesammelt haben? Wie erfolgt der Wissenstransfer zwischen den beiden Welten oder zwischen den einzelnen Einsätzen?

Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Setzen wir «Wissen» mit technischem Know-how gleich, gibt es gewiss verschiedene Möglichkeiten, es festzuhalten und verfügbar zu machen. Technisches Wissen allein ist aber nicht ausreichend. Denken Sie an Ihr eigenes Studium zurück: Wie viel vom damals Erlernten ist Ihnen heute noch präsent oder brauchen Sie im Alltag? Diese Art von Wissen ist also nicht matchentscheidend, da es ohnehin stets irgendwo verfügbar ist.

Viel wichtiger sind Erfahrungen, die man im Kontext von lokalen Gegebenheiten sammelt. Ich erinnere mich an den Wiederaufbau eines Schulhauses in Pakistan. Grundsätzlich kann jeder mit entsprechendem technischem Wissen ein Schulhaus bauen. Das ist aber nicht der springende Punkt. In diesem Fall ist es enorm wichtig, wo das Schulhaus steht, damit es überhaupt genutzt wird. Bei zu gefährlichen, ungewohnten oder zu langen Schulwegen bleiben die Kinder letztlich fern. In gewissen Kulturen muss man auch Randbedingungen schaffen, damit beispielsweise nicht nur Knaben, sondern auch Mädchen die Schule besuchen.

Solche Dinge lassen sich am Ende nicht mit leicht transferierbarem technischem Wissen bewerkstelligen: Bei der Umsetzung von Projekten im Kontext humanitärer Hilfe muss man wissen, wie man die Entscheidungskompetenz von lokal einflussreichen Leuten zugunsten der Sache aktiviert. Hier gibt es nicht ein bestimmtes Erfolgsrezept. Eines ist aber sicher: Nur mit technischem Sachverstand und rein rationalen Argumenten gelingt das meist nicht.

Viel wichtiger als Wissen ist also die Gewissheit, dass es für jede Situation zwar individuelle Herausforderungen, aber auch stets Lösungen gibt. Solche Gewissheit schafft man mit Beispielen und Erfahrungen. Diese Art von Know-how ist jedoch schwieriger zu übertragen und es braucht Menschen, die bereit sind, ihre Erfahrungen direkt untereinander auszutauschen. Klar gibt es auch beim EDA institutionalisierte Ansätze zum Transfer von Know-how. Ob eine Vermittlung gelingt, ist aus meiner Sicht aber personenabhängig. Auch Mentoring-Programme funktionieren meines Erachtens nur, wenn es zwischen Mentor und Mentee menschlich funktioniert und sie aus freien Stücken zueinanderfinden.


Sie unterrichten auch und geben Seminare an Universitäten. Warum ist es für angehende Fachleute wichtig, neben den traditionellen Studieninhalten einen Einblick in die humanitäre Hilfe und die Architektur für humanitäre Ausnahmesituationen zu erhalten?

In erster Linie scheint mir wichtig, Studierende von Zeit zu Zeit aus den normativ geregelten Strukturen herauszuholen. Ich versuche, sie entweder mit realen oder fiktiven Szenarien alle gewohnten Randbedingungen vergessen zu lassen – ich setze sie gewissermassen der Realität fernab von Musteraufgaben aus. Damit möchte ich eine Prise aus moralischem und sozialem Engagement gesammelter Lebenserfahrung in ihre Ausbildung streuen. 

Ich erhoffe mir, den Studierenden dadurch eine erweiterte Sicht, einen neuen Zugang zu ihrem Fach zu ermöglichen. Ein Bauwerk – beispielsweise ein Gebäude – muss ja nicht nur einen bestimmten Zweck erfüllen. Es wird im Optimalfall verschiedenen Ansprüchen gerecht und erfährt vielleicht im Lauf seines Lebenszyklus auch unterschiedliche Nutzungen. Klar gibt es hierfür akademische Herangehensweisen – nur entsprechen diese nicht immer den Anforderungen des wahren Lebens..

In meinem Unterricht versuche ich, möglichst viele Sichtweisen einzubringen: entweder mit dem Bild von Szenarien oder durch den direkten Dialog mit Menschen. Ich habe meine Studentinnen und Studenten auch schon in Flüchtlingsheime entsendet – als Übung, um neugierig zu sein, verschiedene Arten von Bedürfnissen kennenzulernen und andersartiges Wissen zu aktivieren. Neugier ist der Schlüssel zu sehr vielem. Mir liegt daran, den Studierenden zu zeigen, dass sie zwar sehr viel Wissen besitzen, das allein aber nicht reicht. Also vermittle ich ihnen keine «Lösungen», sondern möchte sie viel eher mit ihrem Wissen leiten und ihnen ermöglichen, neue Perspektiven einzubinden.
 

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