«Es ist im­mer noch der Hand­wer­ker, der das letz­te Fi­nish macht»

Marlena Senne ist Steinmetzin, diplomierte Handwerkerin in der Denkmalpflege und Lehrmeisterin. 2023 gewann sie in ihrer von Männern dominierten Disziplin die Goldmedaille an den EuroSkills, Europas grösstem internationalem Berufswettbewerb für junge Talente. Sie spricht über ihre Faszination für ihr Handwerk und dessen Geschichte.

Publikationsdatum
23-10-2024


Marlena Senne, Sie sind Steinmetzin. Wie kam es dazu, dass Sie sich für diese Lehre entschieden haben?

Marlena Senne: Ich war schon als Kind und Jugendliche handwerklich sehr interessiert. Es hat mich immer begeistert, mit den Händen etwas zu formen. In der Schule haben wir zum Beispiel mit Ton gearbeitet, und ich fand es spannend, meine eigenen Töpfe herzustellen. Da war mir schnell klar, dass ich später nicht in einem Büro arbeiten will. Ich durfte eine Schnupperwoche in einem Steinmetzbetrieb machen, und es hat sich bestätigt, dass dieser Beruf für mich der richtige ist.


Sie haben also keinen familiären Bezug zu diesem Beruf, sondern haben ihn selbst für sich entdeckt?

Genau. Als sich zeigte, dass ich ein Handwerk erlernen wollte, haben mir meine Mutter und meine Patin geraten, mich über diese Lehre zu informieren. Den Beruf kannten wir aber vorher alle nicht.


Die Lehre dauert vier Jahre. Was war besonders herausfordernd? Was war besonders schön?

Die Berufsschulzeit war toll, wir haben mit der Klasse viele coole Sachen erlebt. Streng war es natürlich auch immer wieder – aber so soll es sein während der Lehrzeit, man muss ja etwas lernen. Schlussendlich konnte ich meine Ausbildung erfolgreich abschliessen. Das war speziell, weil ich 2020 abgeschlossen habe, mitten im Lockdown der Corona-Zeit. Deshalb musste ich nur die praktische Prüfung hier im Werk der J. &  A. Kuster Steinbrüche in Bäch ablegen, wo ich meine Lehre gemacht habe. Die schriftliche Prüfung in der Schule fand nicht statt.


Mittlerweile haben Sie auch eine Ausbildung als Lehrmeisterin absolviert. Betreuen Sie schon einen Lernenden oder eine Lernende?

Richtig, ich bilde aktuell einen Lernenden aus, der im August sein zweites Lehrjahr angetreten hat. Im ersten Lehrjahr arbeiten die Lernenden mit traditionellen Werkzeugen, später kommen Maschinen hinzu. Schwere Maschinen dürfen sie erst ab 16 Jahren bedienen.


Gibt es etwas, was Sie diesem jungen Menschen ganz speziell weitergeben möchten? 

Dass er erkennt, wie vielseitig und spannend unser Beruf ist, was für besondere Einblicke man auf der Baustelle haben kann. Oder auch im Werk: Gerade im Winter, wenn draussen auf der Baustelle harte Wetterbedingungen herrschen und man es gerne etwas wärmer hat, kann man all die schönen Werkstücke bearbeiten. Natürlich muss man manchmal auch weniger Interessantes herstellen, aber auch das hat seinen Reiz.


Stichwort Vielfalt: Sie haben einen eidgenössisch anerkannten Abschluss als Handwerkerin in der Denkmalpflege und sind somit qualifiziert, architektonisch anspruchsvolle Werkstücke zu bearbeiten. Dazu gehören Ornamente, figürliche Darstellungen, Schriftzüge und so weiter. Was ist das Besondere daran?

In der Regel muss ich zuerst eine Dokumentation für die Denkmalpflege schreiben: Ich untersuche den Bestand und mache eine historische Recherche, was bei diesem Projekt alles geschehen ist. Ich finde es sehr interessant, mich in die Geschichte eines Bauwerks einzulesen. In einem zweiten Schritt arbeite ich vielleicht an einem Profil, das heute nicht mehr häufig hergestellt wird. Das ist immer wieder etwas ganz Besonderes.


Letztes Jahr haben Sie an der Stadtmauer in Zug gearbeitet, die teilweise aus dem 15. Jahrhundert stammt. Was waren dort die Themen?

Es ging um einen etwa 33 m langen, bis zu 8 m hohen Mauerabschnitt zwischen Huwilerturm und Bohlstrasse. Auftraggeberin war die Stadt Zug; als Steinmetz-Spezialisten arbeiteten wir eng mit dem kantonalen Amt für Denkmalpflege und Archäologie zusammen. Wir mussten die Mauer trocken­legen und das Mauerwerk stellenweise neu aufbauen, weil die Steine und der Mörtel über die Jahrhunderte durch Wasser und Salze ausgespült worden sind. Insbesondere der Wehrgang musste ertüchtigt werden: Wir haben die Bodenbretter herausgenommen und die darunter liegende Mauerkrone erneuert, damit sie ihre Tragfunktion wieder besser erfüllen kann. Die darunter liegenden Teile der Mauer haben wir ebenfalls saniert. Einige Steine, die nicht gesund waren, haben wir ersetzt. Einige haben wir – in Absprache mit dem Restaurator – gefestigt, also konserviert, sodass sie wieder weitere Jahrzehnte halten und sich die Oberfläche nicht weiter abnützt. Dabei hatte ich die Gelegenheit, Arbeiten zu erledigen, die ich nicht an jedem Gebäude machen kann und die eine Kenntnis des geschichtlichen Hintergrunds voraussetzen. Dabei konnte ich viel lernen.


Als Wehrbauten wie die Zuger Stadtmauer errichtet wurden, verwendete man Steine aus lokalen Steinbrüchen. Konnten Sie bei den Restaurierungsarbeiten auf die gleichen Steinbrüche zurückgreifen?

Die Zuger Stadtmauer besteht ursprünglich aus Rooterberger Sandstein, der aus der Nähe stammte. Heute müssen wir bei solchen Aufträgen oft auf andere Steine zurückgreifen, weil die historischen Vorkommen nicht mehr ausreichen oder die Steinbrüche nicht mehr in Betrieb sind.


An den SwissSkills 2020 haben Sie als Zwanzigjährige den Schweizermeistertitel erreicht, im September 2023 folgte an den EuroSkills in Danzig der Europameistertitel. Was waren die entscheidenden Faktoren, die diese Erfolge ermöglicht haben? 

Viel Motivation, sich mit anderen zu messen, und die Fähigkeit, sich bei den Trainings zu verbessern – also zu erkennen, was ich noch nicht gut genug kann, was ich falsch mache und wo ich mich noch steigern kann. Und vor allem braucht es den Willen und die Bereitschaft dazu. Man muss auch verstehen, wie diese Entwicklung überhaupt funktioniert.


Heutzutage drehen sich viele Debatten um Digitalisierung und virtuelle Welten, also um überhaupt nicht fassbare Dinge. Sie sind in einem Handwerks­beruf tätig, die physische Realität ist Ihr Alltag. Warum sind gute Handwerkerinnen und Hand­werker nach wie vor so entscheidend wichtig für 
die Schweizer Wirtschaft?


Nun ja, Roboter können heutzutage schon sehr viel machen. Aber letztendlich ist es immer noch der Handwerker, der das letzte Finish macht. Bei Figuren, die mit dem Roboter bearbeitet werden, müssen zum Beispiel die Kanten präzisiert und gesäubert werden, es kommen einige weitere Schritte hinzu. Vor allem aber muss man den Roboter mit den richtigen Angaben füttern, bevor er die Figur herstellen kann. Meiner Meinung nach kann man das nur, wenn man nicht nur im CAD arbeitet, sondern auch handwerkliche Kenntnisse besitzt und viel Erfahrung mit sol­chen Figuren mitbringt. Ich merke das immer wieder an mir selbst: Das Entscheidende an einer Figur erkenne ich erst beim zweiten oder dritten Hinschauen – manchmal sogar erst während ich sie bearbeite.

→ Ein Videoporträt von Marlena Senne finden Sie hier.

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