Stüt­zen­ras­ter in der Schwe­be

Stahlbau für Bogenschützen

Beim Trainingszentrum der World Archery Federation in Lausanne nutzen die Architekten Tardin & Pittet das Dachwerk einer stützenlosen Halle. Mit den Vierendeelträgern von MP ingénieurs conseils bleibt die Nutzung zudem flexibel. Optimale Verdichtung oder teurer Kraftakt?

Publikationsdatum
18-09-2015
Revision
22-11-2015
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

Als Standort für das Trainingszentrum des Bogenschützen-Weltverbands wählte dieser eine Parzelle in einem Vorort von Lausanne, doch gefühlt befindet man sich eher am Waldrand. Der Teilnutzungsplan für das grosszügige Raumprogramm – 5646 m2 für Schiesshallen, Büros, Cafeteria, Fitnesszentrum sowie Unterrichts- und Konferenzräume – stiess auf Einsprachen der Anwohner, und die Stadt predigte einen sparsamen Umgang mit den Bodenressourcen.

Doch anstatt das Programm grundlegend zu revidieren, fanden Architekt und Ingenieur auf ihrem jeweiligen Gebiet einen innovativen Ansatz, der eine konzeptionell starke Lösung ermöglichte. Tragwerk und Raum wurden als Einheit verdichtet.


Dachträger als Nutzraum

Um die niedrige zulässige Bauhöhe einzuhalten und den Entwurf auf eine Grundfläche von 34 x 85 m zu reduzieren, bringen die Architekten die stützenfreie Schiessanlage im Untergrund an. Im Erdgeschoss obendrauf, 27.5 m in Gebäudequerrichtung über diese Anlagen spannend, sind die restlichen Nutzungen sowie drei Lichtschächte angeordnet, die das Tageslicht ins Untergeschoss bringen.

Wegen der grossen Lasten und Spannweiten musste das Tragwerk geschosshoch ausgebildet werden. Für Nutzräume gelten zudem strengere Vorschriften bezüglich Brandschutz, Akustik und Verformung. Aus diesen Gründen wurde ein Ingenieurwettbewerb ausgeschrieben. Lösungen mit Stahl, Beton und Holz wurden jeweils von einem eingeladenen Büro untersucht. Im Sinn der Nutzungsflexibilität bekam MP ingénieurs conseils mit seinem unkonventionellen Vierendeelträger aus Stahl den Zuschlag: Das Erdgeschoss konnte somit ohne tragende Wände oder Fachwerkdiagonalen ausgebildet werden.


Eigenheiten des Vierendeels

Die Erfindung des belgischen Ingenieurs Arthur Vierendeel (1852–1940) ist eine statische Variante des Fachwerkträgers, bei der die aussteifenden Diagonalen gänzlich entfallen. Die Stabilität der Träger wird stattdessen durch biegesteife Fachwerkknoten erreicht (vgl. Kasten).

Was die flexible Nutzung ermöglicht, erfordert jedoch einen deutlichen Mehraufwand in der Herstellung: Gurte und Vertikalen mit Blechdicken von bis zu 55 mm werden vollflächig miteinander verschweisst. Diese hochwertigen Stahlprofile konnte nur ein einziger Stahllieferant offerieren, was sich auf Kosten und Liefertermine ungünstig auswirkte.


Der Preis der Verdichtung

Gegenüber einer klassischen Hallenüberdachung wurden viele Nutzungen in die Trägerhöhe integriert, was einen kompakten Entwurf ermöglichte. Dank dem Ingenieurwettbewerb und dem Einsatz von Vierendeelträger wurde zudem eine maximale Flexibilität erreicht, und das Raumgefühl bleibt analog zum klassischen Skelettbau. Erst beim Ausblick durch die Lichthöfe wird einem bewusst, dass der Stützenraster im Untergeschoss verschwindet – eine spektakuläre, aber leicht schwindelerregende Wirkung.

Die Gesamtanlage soll 13 Mio. Franken kosten und wird Ende 2016 eröffnet. Ihre einzigartige Typologie entstand aus der Not einer maximalen Verdichtung und mit entsprechenden finanziellen Mitteln. Die Bilanz der grauen Energie fällt mit 115 kg Baustahl pro m2 Doppelgeschoss eher ungünstig aus – doch im heutigen städtebaulich-politischen Kontext sind solche Lösungen zeitgemässer denn je.


Kompaktes Tragwerk

Die acht Vierendeelträger im Erdgeschoss wirken als Einfeldträger mit 27.5 m Spannweite in Gebäudequerrichtung (l/h= 8.7) und sind in Längsrichtung alle 10.8 m angeordnet. Die Träger wiegen je 30 t und tragen 20 t/m’. Sie dienen als Auflager für Dach und Erdgeschossdecke und werden von zwei Reihen Stahlbetonstützen beiderseits der Schiessanlage abgestützt. Aus optischen Gründen wurden die weichen Vierendeelträger mit einer Stichhöhe von 40 mm vorgekrümmt. Ansonsten war die Tragsicherheit für die Bemessung massgebend. Um die Blechstärken zu minimieren, wurden thermomechanisch gewalzte Stahlprofile der Festigkeit S460M und Duktilitätsklasse Z35 verwendet. Hinsichtlich der Delaminierungsgefahr wurden im Werk Ultraschallmessungen an den einzelnen Blechen durchgeführt. Die Trägergurte sind in den Dach und Deckenaufbau integriert, womit eine lichte Raumhöhe von 2.47 m für eine statische Höhe von bloss 3.14 m erreicht wurde. Die Photovoltaikanlage und das extensive Gründach werden von einem Trapezblech getragen, das in Gebäudequerrichtung 3.06 m zwischen den Dachträgern spannt. Diese Wabenträger mit kreisförmigen Öffnungen (Durchmesser 250 mm) integrieren die Gebäudetechnik, spannen zwischen den Vierendeelträgern und steifen deren Obergurte gegen Knicken aus. Auf dem Vierendeel-Untergurt sind die in Gebäudelängsrichtung vorgespannten, vorfabrizierten Hohlkörperdecken aufgelagert, die für eine Nutzlast von 4 kN/m2 bemessen wurden. Die Brandschutzanforderungen R60 können vom Stahl allein nicht erfüllt werden. Die Dachkonstruktion, die Obergurte und die exponierten Teile des Untergurts werden daher mit einem Brandschutzanstrich geschützt; die Vertikalen sind mit Gipsplatten verkleidet. Die Akustik wird durch einen Doppelboden verbessert, der zudem als zweite Ebene für die Gebäudetechnik aktiviert wird.

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