Tag the Town!

Marseille

Ein Stadtspaziergang verdeutlicht, wie stark Marseille von Graffiti gezeichnet ist. Die Autoren der facettenreichen Bilder und Tags – Künstler, Touristen, ­Gesellschaftskritiker, waghalsige Akrobaten – erzählen eine informelle Geschichte der Stadt, an der täglich neu geschrieben wird.

Publikationsdatum
25-01-2018
Revision
25-01-2018

Auf kaum zwanzig Metern begegne ich an den Hausmauern am Cours Julien einem Yeti, dem überdimensionalen Zeichen NAT und einem silber-roten Drachen. Sie alle sind umgeben von einem unüberschaubaren Geflecht an kryptischem Gekritzel auf den Fassaden der Bauten aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Was zu ihrem Verständnis beitragen könnte, wäre ein kleiner Babelfisch – jenes Wesen aus dem Roman «Per Anhalter durch die Galaxis», das im Ohr seines Trägers sitzt und dort jede beliebige aus­serirdische Sprache übersetzt.

Die Dichte an Graffiti und Streetart-Bildern charakterisiert seit den frühen 1980er-Jahren das Marseiller «Quartier des Créateurs» um den Cours Julien. Bis dahin war der Platz Umschlagsort für Grossisten von Importwaren aus Afrika und Händler lokaler Landwirtschaftsprodukte. Heute machen Restaurants, Läden mit biologischen Produkten und eine Sitzlandschaft mit Stufen und Wasserflächen den Platz zum vielbesuchten Aufenthaltsort von Quartierbewohnern und Touristen. Immer mehr Kreative und junge Familien aus dem Mittelstand ziehen ins vormals ärmliche Quartier, und in der Folge steigen die Wohnungspreise.

Der Widerspenstigen Zähmung …

Eigentlich ist Graffiti überall in Marseille illegal – auch am Cours Julien, meint Tito, Inhaber der Backside ­Gallery und selber ehemaliger Graffeur. Aber die Stadtverwaltung und die meisten Bewohner tolerieren die Bilder auf dem Platz und in den umliegenden Strassen – es wäre zu aufwendig, die vielen Sprayer, die dieses Quartier besuchen, zu kon­trollieren. Die Anti-Graffeur-Brigaden der Stadt konzentrieren sich vor allem auf die repräsentativen Zentrumsquartiere und Schulhäuser und überlassen den Cours den Kreativen.

Diese Strategie wird von der Tatsache begünstigt, dass das Graffitimodell am Cours geschäftsfördernd ist. Mit der Zeit hat sich daraus eine erstaunliche Symbiose aus Kommerz und Kunst ergeben: Kleine ­Boutiquen vergeben Auftragsarbeiten an Street­art-Künstler, und der Verein Juxtapoz lanciert seit 2012 das Projekt Le M.U.R.-Marseille, bei dem halbjährlich an der Seitenstrasse Rue Crudère ein eingeladener Künstler ein Mauerstück von 3 × 5 m bemalt. Ein anderes Event ist ein regelmässig stattfindendes Streetart-­Festival, bei dem Quartierbewohner und aus­wärtige Besucher zuschauen, wie Künstler die Wände der Openair-Galerie, die der Platz darstellt, mit neuen Werken übermalen. Unter dem Platz hat die Metrogesellschaft die Gestaltung der Station Cours Julien bei ­verschiedenen Künstlern in Auftrag gegeben, und das Tourismusbüro der Stadt bietet geführte Touren durch das Quartier an. Viele der übrigen Wände werden durch ein babylonisches Gekritzel von tausendfach überschriebenen Tags dominiert.

… oder die wahre Kunst?

Das alles hat gemäss Tito nicht viel mit ursprünglicher Streetart zu tun, sondern dient vor allem kommerziellen Zwecken. Symptomatisch zeigt sich das darin, dass die Kommunikation und die Gesetze unter den Street­art-Künstlern, die anderorts meist funktionieren, hier nicht respektiert werden. Die Situation ist ausser Kontrolle geraten, und jeder macht, was er will. Oft sind es keine Marseiller Inside-Tagger, sondern Sprayertouristen aus ganz Europa, die ihre Kürzel auf die Wände schreiben und bestehende Arbeiten respektlos übermalen.

Was Tito meint, wenn er von der wirklichen Graffitikunst spricht, findet man in einigen der kleinen Seitenstrassen. Zwar sind auch in der Gasse Armand-­Bédarrides die Erdgeschossfassaden flächendeckend bemalt, doch im Unterschied zu den Einzelbildern am Cours stellen sie als Ensemble eine eindrückliche Hommage an den früh verstorbenen Cofre dar, einen jungen Marseiller Graffeur. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion brachten seine Freunde, jeder in seinem Stil, den Schriftzug «Cofre» an den Mauern an. Der junge Mann starb 2017 im Alter von 19 Jahren, als er in einem Athener Metrodepot mit den Elektroleitungen eines Waggons in Berührung kam. Cofres Ziel war es, Metro- und Zugwaggons von möglichst vielen Bahnlinien in Europa mit seiner Signatur zu versehen.

Schade, findet Tito, wenn Leute aus anderen Ländern kommen und diese Hommage ahnungslos übermalen. Tito erläutert an der Strasse auch, was Respekt in der Sprayerszene bedeutet: Manche der Cofre-Bilder sind in die älteren, darunterliegenden farblich integriert und so eingepasst, dass sie mit dem Vorgängerbild eine ­Einheit bilden.

Auf der anderen Strassenseite des Cours Lieu­taud, hoch oben unter dem Dach an einer Brandmauer, befindet sich ein einzelnes, gut sichtbares Tag mit den Buchstaben NDC. Der Künstler ist in der Nacht vor der Demontage auf ein Gerüst gestiegen, das für die Fassadenrenovation und das Entfernen alter Graffiti angebracht worden war. Erstaunlich auch, was Tito aus den Zahlen und Buchstaben herauslesen kann, die für Uneingeweihte wie Hieroglyphen wirken – vielleicht ist er ein Babelfisch?  

Wandelbare Kapitel

Graffiti erzählen eine inoffizielle Geschichte der Stadt. In manchen Fällen transportieren Streetart-Bilder ­politische und soziale oder über Auftragsarbeiten kommerzielle Aussagen. Viel öfters aber handelt es sich um Botschaften, die nur Insider entschlüsseln können.  

Neben der individuellen Aussage eines Werks gibt es eine Lesbarkeit im Kontext des Stadtraums: Insgesamt legen sich die Tags, Bilder und Zeichen wie ein unregelmässiges Netz über Hausmauern, Eingangs­türen, Gara­gentore, Metroeingänge, Bänke und Briefkästen. Das Gesamtbild verändert sich täglich, wird übermalt, überklebt, ergänzt – oder es verblasst.

Die Darstellungen treten in unzähligen, kreativen Facetten in Erscheinung und verleihen im Nebeneinander Strassenzügen und sogar Stadtquartieren eine charakteristische Oberfläche – und diese Räume prägen ihrerseits wieder die Bilder und Tags: Je nachdem, ob sie darin toleriert werden oder unerwünscht sind, fallen die Darstellungen ausführlicher, grösser, sorgfältiger oder kleiner, flüchtiger und flächiger aus. Die wenig bildhaften Zeichen in vielen Strassenzügen zeugen von der Geschwindigkeit, mit der sie angebracht wurden, denn Taggen ist nach wie vor eine illegale Tätigkeit, auf die hohe Bussen verhängt werden.

Je nach Material des Untergrunds und je nach Architekturstil wirken die Bilder und Tags anders. Die Werke in einer Strasse oder einem Quartier unterscheiden sich so von denen an anderen Orten und lassen sich fast wie Kapitel eines Buchs lesen. Die Bilder in der Altstadt von Marseille, dem Panier, stammen meist von Sprayern aus dem Quartier, die sich gegenseitig und die übrigen Bewohner kennen. Diese relative Akzeptanz lässt die Arbeiten, die illegal sind und denen kein Auftrag vorausging, dennoch sorgfältig erscheinen.

Dass Sprayen im Panier vorwiegend positiv wahr­genommen wird, zeigte sich am Protest der Bewohner, als vor zwei ­Jahren die Anti-Graffiti-Brigade der Stadtverwaltung 30 Bilder um einen Platz übermalte. Einzelne Bilder – den traurigen Fischer mit den grünen ­Sardinen etwa von einem Sprayer mit dem Pseudonym Nhobi – verbindet man mit dem Panier. Die Tags und Bilder auf den Mauerflächen in und um den Kultur­komplex La Friche Belle de Mai (vgl. TRACÉS 7/2013) beim ­Bahnhof sind oft mit kulturellen Projekten verbunden, die Museen und Vereine indirekt auch staatlich subventionieren. Die flüchtigen Bilder der ärmeren Quartiers Nord drücken dagegen oftmals elementare Lebens­fragen aus.

Natürlich nimmt auch die Bevölkerung von Marseille – wie diejenige anderer Städte – Graffiti entweder als Bereicherung oder im Gegenteil als Vandalismus wahr. Einige der Ladenbesitzer am Cours Julien ärgern sich, wenn ihre Auftragsbilder innert kurzer Zeit wieder übersprüht werden. Im Gegensatz zur Schweiz jedoch kennen viele die «Stars» der Szene; man spricht über ihre Geschichten, und den Protagonisten haftet etwas Heldenhaftes an, auf das man auch ein wenig stolz ist. Diese unterschwellige Toleranz bewirkt, dass sich die Werke unbefangener ausbreiten und so Teil der Gestaltungskultur der Stadt werden.


Graffiti

Die Wurzeln der modernen Graffiti liegen in der New Yorker Bronx, Ende der 1960er-Jahre. Graffiti sind eines der vier wichtigsten Elemente der Hip-Hop-Kultur (die anderen sind DJing, Rap und ­Breakdance). Die Bilder dienten anfangs der friedlichen territorialen Abgrenzung unter Banden und deren Kommunika­tion und waren u. a. von der Kategorie der Underground-Comics inspiriert. Die Ausführenden werden Sprayer oder Graffeurs genannt. In Marseille entstanden die ersten Graffiti-­Werke in den 1980er-Jahren in den Quartiers Nord, ihre Verfasser waren meist Immigranten aus Afrika oder Südamerika.

Es gibt verschiedene Arten von Graffiti, deren Abgrenzungen oft nicht eindeutig sind – darunter Taggen oder Streetart. Letztere vermittelt im Gegensatz zum Taggen über ein Bild in der Regel einen politischen oder sozialen Inhalt. Der Tagger verbreitet dagegen einen Schriftzug mit seinem Signatur­kürzel, Pseudonym oder Zeichen. Die Zeichen und Buchstaben können verschiedene Stile haben – ­bekannt ist z. B. der Bubble-Style. Andere Street­art-Tech­ni­ken als Sprayen sind das Plakatekleben, Schablonieren oder Adbusters, bei dem Wahl- oder Werbeplakate überklebt oder übermalt werden.

Zur Veranschaulichung des Aufwands: Für ein durchschnittlich grosses Bild benötigt ein Sprayer bis zu 30 Spraydosen, die in seiner weiten Kleidung stecken. Gleichzeitig muss er jederzeit vor Polizei und Wachleuten fluchtbereit sein. Unter Umständen befindet er sich dabei auf einem schmalen Fassadenvorsprung in mehreren Metern Höhe oder zwischen Stromleitungen.

Allein in Paris werden über 500 000 m2 Mauern jährlich (das ­ent­spricht 500 Fussballfeldern) von Graf­fiti gereinigt. Die französische Bahn­gesellschaft SNCF dokumentiert Graf­fiti u. a. auf ihrem Gelände in Marseille systematisch und arbeitet mit der Polizei und anderen Institutionen zusammen, um die Graffeurs zu identi­fizieren. (Danielle Fischer)

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