«Umsichtig»: Sanierungstrategien für die Cité du Lignon, Genf
Umsicht – Regards – Sguardi 2013
Am 22. März verleiht der SIA die Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi 2017». Bis dahin präsentiert espazium.ch wöchentlich einen Gewinner der vorigen Auslobung. Diese Woche: die Sanierungstrategien für die Cité du Lignon, Genf.
Die zwischen 1963 und 1971 realisierte Cité du Lignon im Kanton Genf ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Aufgrund ihrer Architektur und ihrer städtebaulichen Anordnung im Gelände auch als «liegender Wolkenkratzer» bezeichnet, verkörpert die Siedlung mit ihren 2700 Wohneinheiten für rund 10 000 Bewohner bis heute die ihrem Gesamtkonzept zugrunde liegende Vision einer funktionierenden sozialen Durchmischung. Von Beginn an erachtete der Kanton Genf das gemeinsam von öffentlicher Hand und privaten Investoren getragene Bauvorhaben als optimales Modell für die Überwindung der Wohnungsnot. Architekten und Bautechniker bewunderten zahlreiche am Monument der späten Moderne erstmals angewendete Konstruktionsverfahren. Die Überbauung mit dem grössten Wohnhaus der Schweiz war ohne Zweifel eine Pionierleistung.
Im Jahre 2008 nahmen einzelne Eigentümer auf eigene Faust bauliche Eingriffe vor und begannen, die vorhandenen Fenster mit Holz-Aluminium-Rahmen durch solche aus Kunststoff zu ersetzen. Dies, obwohl bereits bekannt war, dass seitens des Kantons Überlegungen angestellt wurden, die Siedlung unter eine Form des Schutzes zu stellen. Darauf suchte die Denkmalbehörde den Kontakt zur Eigentümergemeinschaft und beauftragte ein interdisziplinäres Team der ETH Lausanne, sich der Fensterrenovation anzunehmen. Dieses schlug eine umsichtigere Betrachtungsweise unter Einbindung der kantonalen Energiebehörde vor. Die erst daraus resultierende Güterabwägung zwischen natürlichen und kulturellen Ressourcen machte klar: Die baulichen und sozialen Qualitäten der Siedlung sollten erhalten und der Energieverbrauch gleichzeitig deutlich reduziert werden. 2009 wurde die Cité du Lignon unter den Schutz eines Ortsplans gestellt.
Das Team der ETH Lausanne entwickelte und evaluierte unterschiedliche Varianten von Eingriffen für die Renovation der 125 000 m2 grossen, aus Aluminiumprofilen und Glas bestehenden Vorhangfassade. Drei Jahre später präsentierten die Verfasser in einer Studie drei verschiedene Sanierungslösungen: «Einfacher Unterhalt», «Instandsetzung» und «Renovation». Für die repräsentativen Bereiche des Gebäudes, die Fassade, die Laubengänge und die Eingangshallen wurden Prototypen erstellt. Messungen zeigten, dass Senkungen des Energieverbrauchs um bis zu 70 % möglich sind.
Zur Qualitätssicherung wurden an alle Eigentümer vom Kanton überprüfte und anerkannte Pflichtenhefte abgegeben. So können sie sich nun selber für eine der drei Eingriffsvarianten entscheiden. Auch in der Wahl der Architekten und Unternehmen sind die Eigentümer frei. Der Kanton Genf schafft zudem zwei verschiedene Investitionsanreize: ein vereinfachtes, schnelles Genehmigungsverfahren sowie Subventionen für die zu erwartenden energetischen Einsparungen. Mit Erfolg: Ein grosser institutioneller Anleger hat bereits einen ersten Laubengang mit 22 Wohneinheiten saniert. 15 weitere Laubengänge folgen 2014, womit dann bereits rund 20 % des Gesamtkomplexes modernisiert sein werden.
Die Sanierungsstrategien der Cité du Lignon beeindrucken durch ihren pragmatischen, zielorientierten und interdisziplinären Lösungsansatz. Dank dem umsichtigen Engagement von Behörden und Eigentümerschaft konnten vermeintlich gegensätzliche Ansprüche optimal harmonisiert werden. Die sich am baukulturellen Wert orientierende Eingriffsmethode leistet für anstehende Sanierungen ähnlicher Grosssiedlungen der 1960er- und 1970er-Jahre einen wertvollen, inspirierenden und weit über die Schweiz hinausreichenden Beitrag. (Text: Michael Mathis)
Mit «Umsicht – Regards – Sguardi» zeichnet der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA «umsichtig» ausgeführte Werke, Produkte und Instrumente unterschiedlicher Art und Grössenordnung aus, die sich exemplarisch mit unserer Umwelt auseinandersetzen und in besonderer Weise zu einer zukunftsfähigen Gestaltung des Lebensraumes Schweiz beitragen. Die Preisverleihung findet am 22. März 2017 im Landesmuseum Zürich statt. Weitere Infos: www.sia.ch/umsicht