Un­be­kann­tes Um­land

Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer lebt heute in städtischen Agglomerationen. Trotzdem liegen diese Funktionalräume im toten Winkel föderalistischer Aufmerksamkeit. Die integrale Entwicklungsstrategie RZU-Gebiet 2050 möchte das ändern.

Publikationsdatum
22-09-2021

Die grosse Erzählung «Schweiz» ist uns wohlvertraut. Sie geht in etwa so: Die Schweiz ist ein Land der Berge, der Seen, der Landschaften. Neben dem Land gibt es hier auch Städte, einige, aber nie zu grosse. In diesem Land wird emsig gearbeitet, geforscht und entwickelt, wodurch wir uns mit allen möglichen Teilen der Welt verbinden und prosperieren.

Erzählungen haben Lücken – so auch diese. Nähern wir uns der Schweiz z.B. über Google Earth, erkennen wir schon von Weitem die markanten Gebirgsketten, die Verläufe des Juras und der Voralpen, die Seen und Landschaften des Mittellands. Mit anderen Worten: Das «Land» betritt schon von Weitem selbstbewusst die Bühne. Dem anderen Pol der grossen Erzählung, den Städten, fällt dies nicht so leicht. Oft helfen zwar Seen oder Flussläufe, die Städte wenigstens annäherungsweise zu lokalisieren. Doch je näher wir heranzoomen, desto weniger lässt sich ignorieren, dass «Stadt» in unserem Land ein unscharfes Element grösserer räumlicher Gebilde geworden ist, die sich weit über das frühere Hinterland hinausstrecken und sich über mäandrierende, mehr oder weniger kontinuierliche Siedlungsbänder in die Täler der Voralpen und Alpen ziehen.

Die Umgangssprache hat längst ihr eigenes Wort für diese mehrheitlich in den letzten Jahrzehnten entstandenen Räume geprägt: die Agglo. Mit der Agglo sind Birsfelden, Köniz, Renens, Carouge oder das von Stiller Has besungene Wallisellen gemeint, aber niemals Bern oder Basel, Genf oder Zürich. Wir folgern: Was aus der Luftperspektive über Eisenbahnlinien, Autobahnen, Siedlungsteppiche und Landschaftsräume unentwirrbar miteinander verwoben ist, steht sich faktisch offenbar unverwandt gegenüber.

Der Expertendiskurs über Urbanisierungsgrad und Funktionalräume vermag zu dieser unverbundenen Verbundenheit nur wenig Erhellendes beizutragen. Er belegt zwar aufgrund von statistischen Messgrössen, dass der Urbanisierungsgrad in der Schweiz mittlerweile beinahe 85 % beträgt, und packt die grossen räumlichen Gebilde um Basel, Bern, entlang des Genfersees oder um den Zürichsee faute de mieux in die technokratische Hilfskonstruktion der «Funktionalräume». Doch bleiben diese Botschaften ohne Resonanz – mit erheblichen Folgen: Die Funktionalräume mögen zwar die Motoren der Schweiz sein, in denen sich das wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Leben des Landes weitgehend abspielt, faktisch aber liegen sie im toten Winkel föderalistischer Aufmerksamkeit.

Sie sind weder Stadt noch Land noch politische Gebietskörperschaft, sie können auf keine Parteien, Verbände und Interessengruppierungen zurückgreifen, die sich wie bei Stadt und Land für sie stark machen würden, und haben deshalb weder Stimme noch finden sie Gehör. Allein bei verkehrlichen Alltagsnöten schafft der Bund mit den «Agglomerationsprogrammen» dort Abhilfe, wo es besonders drängt. Aber es hilft nichts. Die Funktionalräume fallen durch die Maschen, weil der Raster fehlt, vor dem sich diese punktuellen Interventionen einordnen liessen.

Eine Strategie für 2050

Die RZU, der Planungsdachverband Region Zürich und Umgebung1, möchte mit seinem vom Bund als Modellvorhaben geförderten «Strategieprozess RZU-Gebiet 2050» (kurz: RZU 2050) die funktionalräumlichen Alltagsräume erkunden, ihnen mit Blick auf die Zukunft konkrete Konturen verleihen und Programme zuordnen, die ihre Zukunftsfähigkeit sichert. Mit anderen Worten: RZU 2050 will die zukünftigen Bedingungen, Chancen und Herausforderungen des RZU-Gebiets mit seiner Million Bewohnerinnen und Bewohnern und 800'000 Arbeitsplätzen im Kontext von anhaltendem Wachstum, der Vorgabe der Innenentwicklung und raumrelevanten Trends ausloten.

In der Strategie wird es um Antworten auf Zukunftsfragen wie die Automatisierung und Digitalisierung des Fahrens, um veränderte Familien- und Arbeitsmodelle, um den Klimawandel und den Strukturwandel in der Land(wirt)schaft gehen. All diese Themen lassen sich, wenn wir ehrlich sind, nicht als Themen der Städte oder der Landschaften behandeln, sie bilden vielmehr komplexe Herausforderungen, die dringend auf der Ebene der Funktionalräume behandelt werden müssen.

Ein paar Eckpunkte des Strategieprozesses in aller Kürze: Die Strategie wird «bottom up» und partizipativ formuliert. Das heisst konkret: Im Prozess verbinden sich die Einschätzungen und Erfahrungen der RZU-Mitglieder mit den Kompetenzen von Expertinnen, Experten und Stakeholdern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft in der Definition und Selektion der drängenden Themenfelder. Gleichzeitig will RZU 2050 dem allzu häufigen Schicksal von Leitbildern und Strategieprozessen entgehen, ein kunstvolles Gedankengebäude ohne Fussabdruck in den Niederungen des Alltags zu bleiben: Pilot- und Anschlussprojekte sollen deshalb frühzeitig konkrete Entwicklungen in den strategischen Themenfeldern initiieren.

Die RZU möchte das Modellvorhaben als Gelegenheit nutzen, den bisher fehlenden Austausch zwischen den wichtigsten Funktionalräumen in diesem Land zu lancieren und so im fortgesetzten Dialog zu konkreten Themen mit zentralen Exponentinnen und Exponenten der Planung und Raumentwicklung in Basel, Bern und Genf das terrain vague Funktionalraum besser verstehen lernen.

Was heute schon auffällt

Zum Auftakt zu diesem funktionalräumlichen Austausch, der unseren Strategieprozess über die nächsten Jahre begleiten wird, lancierten wir eine Umfrage mit Basel, Bern und Genf, deren Resultate wir anschliessend mit der Situation im Zürcher Grossraum abgeglichen haben. Zwei Aspekte, die gleichsam spiegelbildlich zueinander stehen, stechen dabei besonders ins Auge. Einmal fällt auf, dass es zwischen Basel, Bern, Genf und Zürich ein hohes Mass an Übereinstimmung bezüglich der thematischen Brennpunkte und Prioritäten gibt, nach denen aktuell die städtischen Räume bearbeitet werden. Die Stichworte sind vertraut: Urbanität, Rückeroberung des öffentlichen Raums, Verdichtung, stadtverträgliche Mobilitätspolitik und Klimaanpassung sowie Sicherung bzw. Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.

Gleichzeitig gibt es aber in keinem der vier Funktionalräume auch nur Ansätze einer damit vergleichbaren Agenda, die deutlich machen würde, wie kernstädtische Referenzgrössen wie Urbanität oder urbane Standards der Freiraum- und Landschaftsentwicklung oder Konzepte einer nachhaltigen Mobilität für den Umgang mit dem Umland weiterentwickelt werden müssten. Dieses Defizit verschärft sich noch dadurch, dass es für diese elementaren Zukunftsfragen in den Funktionalräumen weder klare Adressaten noch klare Zuständigkeiten noch belastbare und plausible Zukunftsvorstellungen gibt.

Planung neu ausrichten

Planung bedeutet grundsätzlich, sich den Bedingungen der Zukunft und gleichzeitig ihren heutigen Gestaltungsmöglichkeiten zu stellen. In den letzten Jahren wird immer deutlicher, dass das planerische Business as usual im aktuellen Umfeld unterschiedlicher Dynamiken, Akteure und Herausforderungen nicht mehr länger im vertrauten direktiven Top-down-Muster verharren kann. Planung braucht einen neuen Modus Operandi, um ihre Aufgabe der Vorausschau in Zukunft erfolgreich einzunehmen, indem sie das Narrativ der Zukunft massgebend zu prägen vermag. RZU 2050 möchte auf dem Weg dorthin einiges beitragen.

 

Die RZU wird bis zur Verabschiedung der Strategie im Jahr 2023 regelmässig auf espazium.ch und in TEC21 über RZU 2050 berichten. Der nächste Beitrag wird sich den Ausgangsbedingungen im Grossraum Zürich und den daraus abgeleiteten Zielsetzungen der Strategie widmen.

 

Anmerkung

1 Das RZU-Gebiet umfasst die sieben Planungsregionen Stadt Zürich, Furttal (ZPF), Glattal (ZPG), Knonaueramt (ZPK),
Limmattal (ZPL), Pfannenstil (ZPP) und Zimmerberg (ZPZ) sowie den Kanton Zürich.

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