Wet­ter­ex­tre­me vor un­se­rer Haus­tür

Die jüngsten Unwetter in der Schweiz und deren Folgen werfen kritische Fragen auf: Was hätten wir vorsorglich tun können? Und wie viel Schutz ist sinnvoll?

Publikationsdatum
24-07-2024
Dörte Aller
Meteorologin, SIA-Verantwortliche Klima / Natur­gefahren
Federico Ferrario
Dipl. Forst-Ing. ETH/SIA, MAS Wasserbau (EPFL). Seit April 2022 Mitglied des SIA-Vorstands, seit Sommer 2023 dessen Vizepräsident

Die Pressebilder sind in allzu klarer Erinnerung: Im Juni haben anhaltende Regenfälle und heftige Gewitter in den Kantonen Graubünden, Tessin, Waadt und Wallis zu verheerenden Überschwemmungen, Murgängen und Rutschungen geführt. Todesopfer und erhebliche Schäden an Gebäuden waren zu beklagen. Wichtige Verkehrsverbindungen wie Strassen und Schienen, darunter die internationale Verbindung A13, wurden unterbrochen. 

Ausserdem kam es zu Ausfällen bei der Kommunikation sowie bei der Wasser- und Stromversorgung. Beschädigte Kläranlagen und Kanalisationssysteme führten dazu, dass Abwässer für Tage oder sogar Wochen ungeklärt in Flüsse und Seen geleitet wurden. Betriebe standen wochenlang still, viele Menschen verloren ihr Zuhause. Die Landschaft war teilweise nicht mehr wiederzuerkennen. Diese Ereignisse rücken wieder einmal die Fragen in den Fokus: Sind wir auf solche Ereignisse ausreichend vorbereitet? Und müssen wir unseren Umgang mit den Risiken der Naturgefahren überdenken?

Nicht nur Berggebiete sind betroffen 

Die Bevölkerung ist einer Vielzahl von Naturgefahren ausgesetzt – nicht nur in den Bergregionen, sondern auch im Mittelland. So entging die Stadt Zürich 2005 nur knapp einer Hochwasserkatastrophe. Hätte das Zentrum der Niederschläge nicht über dem Berner Oberland, sondern über dem Sihl-Einzugsgebiet gelegen, wäre diese über die Ufer getreten. Die Innenstadt wäre grossflächig überflutet worden. 

Alle Regionen können von Naturgefahren wie Überschwemmungen, Rutschungen, Hagel, Hitze oder Trockenheit betroffen werden. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Und Risiken verändern sich. 

Wenngleich einzelne Ereignisse wachrütteln, erfordert die Entwicklung eines angemessenen Schutzes einen langfristigen und vergleichenden Blick. Gravitative Naturgefahren wie Hochwasser, Murgang, Rutschungen, Steinschlag und Lawinen fordern in der Schweiz laut Bundesamt für Umwelt seit 1970 durchschnittlich 6.5 Menschenleben pro Jahr. Auch wenn jeder Todesfall tragisch ist, so sind das im Vergleich doch wenige: Die Naturgefahr Hitzewelle führte im Schnitt zu jährlich 300 Todesfällen – eine ähnliche Grössenordnung wie der Strassenverkehr. 

Risikoanalyse und Planungsprozess: ein ganzheitlicher Ansatz

Die Entwicklung von Lösungen für ein Gebiet oder ein einzelnes Objekt beginnt mit einer Risikoanalyse. Der Naturgefahren-Check, den der SIA als Partner mitentwickelt hat, zeigt rasch die lokale Gefährdung durch verschiedene Naturgefahren auf. Werden diese bei der Analyse der Schadenfolgen berücksichtigt, ist ein wichtiger Schritt getan. 

Risikoanalysen sollten zu Beginn des Planungsprozesses erstellt werden, wenn noch mehr Spielraum für eine passende Massnahmenkombination besteht. So lassen sich die Ressourcen optimal einsetzen und andere Anliegen berücksichtigen. Damit sollen die Risiken für die Bevölkerung und ihre Lebensgrundlagen auf ein tragbares Mass begrenzt werden. 

Die Antworten auf die drei zentralen Fragen «Was kann passieren?», «Was darf passieren?» und «Was ist zu tun?» führen zu annehmbaren Lösungen und einer angemessenen Sicherheit. Dabei gilt es abzuwägen, was wir als Gesellschaft in Kauf nehmen können, und wie viel wir für die Sicherheit aufwenden möchten.  

Der SIA bietet hierfür zusammen mit dem WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF einen Kurs «Reise zum akzeptierten Risiko» an. Die Dokumentation SIA 0260 «Entwerfen & Planen mit Naturgefahren im Hochbau» beschreibt das Vorgehen je nach Planungsphase für verschiedene Naturgefahren exemplarisch und basiert ebenfalls auf dem integralen Risikomanagement (IRM).

Blick nach vorne statt zurück

Der SIA setzt sich dafür ein, dass alle Gefahrenbeurteilungen künftig auch den Klimawandel berücksichtigen. Heute verwenden wir Daten und Karten, die Auskunft über die Vergangenheit geben. Wir schauen also zurück. Die Ereignisse der letzten Wochen, Monate und Jahre lassen uns erahnen, dass das nicht mehr ausreichend ist.

Deshalb hat der SIA mit Partnern für die Planung des Innenraumklimas Zukunfts-Datensätze auf Basis der Klimaszenarien Schweiz entwickelt und den Planenden praxistauglich zur Verfügung gestellt. Denn die Gebäude, die heute geplant werden, müssen dem Klima der Zukunft standhalten. 

Das Pilotprojekt hat gezeigt, dass der Blick in die Zukunft ein Umdenken erfordert. Bei der Planung werden mehrere Möglichkeiten durchgespielt. Hierbei sieht der SIA in der Digitalisierung eine grosse Chance. Denn es ist heute einfacher, Simulationsgrundlagen zu erstellen und in die Planungswerkzeuge zu integrieren. 

Die Simulationen ermöglichen eine optimierte Planung und vermeiden so eine Überdimensionierung. Das spart Kosten und Ressourcen (eine genauere Analyse ist in diesem Artikel zu finden). Die digitalen Daten haben noch einen weiteren Vorteil: Sie ermöglichen den Fachexperten eine Visualisierung der Gefährdungen und Schadenfolgen. Das unterstützt den Dialog und die Entscheidungsfindung.

Massnahmen stossen auch an Grenzen

Nach den neuesten Extremwetterereignissen werden wieder Rufe nach raschen Massnahmen laut. Der raschen Umsetzung stehen jedoch verschiedene Faktoren im Weg: Hohe Kosten, technische Umsetzbarkeit oder die gesellschaftliche Akzeptanz sind einige davon. Ausserdem steigen die Risiken, da der Siedlungsraum dichter bebaut ist und auch die Häufigkeit und die Intensität von Extremwetterereignissen zunehmen. Zukunftsgerichtete Lösungsansätze sind gefragt. Der SIA fördert die Baukultur. Sie umfasst sowohl die Art des Planungsprozesses als auch die gebaute Umwelt.

Manchmal stossen auch die besten Massnahmen an ihre Grenzen: Wenn bestimmte Gebiete von Naturgefahren mit hohem Zerstörungspotenzial betroffen sind, ist es in Einzelfällen sinnvoller, Menschen umzusiedeln oder die Nutzung dieser Gebiete einzuschränken. Dies muss jedoch sorgfältig abgewogen werden, und es stellen sich neue Fragen: Führt eine Umsiedlung zu anderen Risiken, weil die Hitzegefährdung am neuen Ort sehr gross ist? Oder was bedeutet der Verlust der Heimat für die betroffenen Personen? 

Den Schutz von Beginn weg einplanen – ohne Mehraufwand

Mit verschiedenen zusätzlichen Hilfsmitteln erleichtert der SIA die weiteren Schritte für die Planung. Für die nachhaltige Raumentwicklung für kommunale und regionale Planungen gibt es das Merkblatt SIA 2050 / SIA 0246. Dieses geht über den Verzicht von Einzonungen hoch gefährdeter Gebiete hinaus und bezieht alle Gefahrengebiete risikobasiert mit ein. 

Für einzelne Gebäude empfiehlt der SIA, dass Neubauten in allen Gefahrengebieten mindestens den Schutz gemäss der Norm SIA 261 und SIA 261/1 erreichen. Meist lässt sich der Schutz konzeptionell und ohne Mehraufwand lösen, wenn Naturgefahren von Anfang an in die Planung einbezogen werden. Die Norm SIA 4002 erläutert anschaulich Gebäudeschutzmassnahmen gegen Überschwemmungen. Klar ist jedoch: Trotz Massnahmen verbleibt ein Restrisiko. Umso wichtiger ist die Auseinandersetzung damit, wer wie viel Risiko akzeptieren kann. 

Integrale Planungen berücksichtigen gleichzeitig Risiken und mehrere Nutzungen. So lassen sich Freiflächen sowohl für Kühlung und Wasserrückhalt als auch für Freizeit und Erholung nutzen. Der SIA-Fachverein Bund Schweizer Landschaftsarchitekten BSLA veröffentlichte hierzu seine Broschüre «Klimaangepasste Siedlungsentwicklung». Ein Thema ist dort das Schwammstadt-Prinzip, welches das Regenwasser integral anschaut, als Ressource für verschiedenste Zwecke statt als notwendiges Übel. Der SIA ist Partner beim Netzwerk-Projekt «Schwammstadt», das nützliche Hilfsmittel, Best-Practice-Beispiele und Weiterbildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt. 

Eine intakte Natur spielt eine entscheidende Rolle bei der Minderung der Folgen des Klimawandels: Moore und Wälder speichern riesige Mengen an CO2. Bäume und Gewässer sorgen für Abkühlung, natürliche Flussläufe helfen gegen Hochwasser und gesunde Wälder schützen das Berggebiet vor Lawinen und Murgängen. Effektiver Schutz vor Naturgefahren muss daher auch den Naturschutz berücksichtigen. 

Beim Klimaschutz schützen wir nicht das Klima, sondern wir schützen uns vor den Folgen des Klimawandels. Wenngleich das heute mit Kosten und Umstellungen verbunden ist, so ersparen wir uns Schäden und hohe Kostenfolgen bei der Anpassung. Dies ist auch ein Ziel des SIA-Aktionsplans «Klima, Energie und Ressourcen», der das interdisziplinäre Expertenwissen sammelt und wirkungsvoll verankern und weiterentwickeln will.

Auch Biodiversität schützt vor Naturgefahren

 

Am 22. September stimmt die Bevölkerung über die Biodiversitätsinitiative ab. Die Initiative will die Biodiversität in der Schweiz – also die Vielfalt an Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen – bewahren und fördern. Hierfür sollen der Naturschutz besser in der Verfassung verankert und Bund und Kantone verpflichtet werden, mehr geschützte Gebiete zu schaffen und mehr Mittel für die Biodiversitäts-Förderung aufzuwenden. 

 

Zudem soll die Natur auch ausserhalb der Schutzgebiete geschont werden. Die Initiative fördert eine nachhaltige Gestaltung unseres Lebensraums – nicht nur in ländlichen Gebieten, sondern insbesondere auch in den Städten. Deshalb unterstützt der SIA das Anliegen.

 

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