Nor­men mis­sach­ten – mit Ge­winn für alle

Anwendung der quantitativen Risikoanalyse

Minimale Sicherheit lässt sich auch mit anderen als mit normgemässen Mitteln erzielen. Eine Kosten-Nutzen-Analyse zur Sanierung von zwei Tunneln bei Schaffhausen zeigt, dass mehr Notausgänge besser und günstiger sind als mehr Aufwand bei der Lüftung.

Date de publication
22-10-2015
Revision
15-11-2015

Die Autobahn A4 (Winterthur–Schaffhausen) quert mit dem 1260 m langen Cholfirst- und dem 1460 m langen Fäsenstaubtunnel (Foto oben) die Hügellandschaft bei Schaffhausen. Die beiden Tunnel nahmen 1996 den Betrieb auf, erfüllen aber die aktuellen Anforderungen des Bundesamts für Strassen Astra an die Tunnelsicherheit nicht mehr. Das Massnahmenprojekt des Astra aus dem Jahr 2013 zur Sanierung der Tunnel zeigte, dass anstelle der normgemässen Verbesserungen eine erhöhte Anzahl Notausgänge die bessere Wirkung hat als eine verstärkte und teure Lüftung und dazu sogar kostengünstiger ist.

Bestehende Tunnel, neue Normen

Der zweispurige Fäsenstaubtunnel hat eine Lüftung mit einer Absaugung in der Tunnelmitte (Mittenabsaugung), und Strahlventilatoren beeinflussen zusätzlich die Längsströmung. Der Cholfirsttunnel hat eine mechanische Längslüftung mit Strahlventilatoren und zusätzlich wegen der Längsneigung von 5 % eine dritte Spur. 

Gemäss der aktuell gültigen Astra-Richtlinie «Lüftung der Strassentunnel» und der Norm SIA 197/2 wären zur Verbesserung der Tunnelsicherheit zwei Massnahmen erforderlich: ein durchgehender, parallel verlaufender Sicherheitsstollen mit Notausgängen alle 300 m (also je 4 Notausgänge) und als Lüftungssystem eine Rauchabsaugung mit Brandklappen im maximalen Abstand von 100 m, inklusive einer zusätzlichen Anpassung der Längslüftung. Beide Sicherheitsmassnahmen wären sehr aufwendig und teuer umzusetzen gewesen.

Die Weisung Astra 74 001 (2010) Sicherheitsanforderungen an Tunnel im Nationalstrassennetz schafft die Möglichkeit, für in Betrieb befindliche Tunnel alternative Massnahmen in Betracht zu ziehen. Voraussetzung dabei ist, im Vergleich mit den Normanforderungen ein mindestens gleichwertiges Sicherheits­niveau zu erreichen, dabei aber ein Abweiche­verbot bei SOS-Nischen, Ausstellbuchten, Notausgängen und der Signalisation der Sicherheitsausrüstungen einzuhalten.

Eine quantitative Risikoanalyse sollte für beide Tunnel alternative Varianten und deren Risiko­aus­wirkung auf den Tunnelnutzer untersuchen. Mit einer Kosten-Wirksamkeits-Analyse prüfte man, ob mit kostengünstigeren Varianten ein gleichwertiges Sicherheitsniveau zu erreichen wäre, das dennoch die aktuellen Sicherheitsstandards einhielte. Als Grund­lage für die Untersuchungen zur Sicherheit dienten die prognostizierten Verkehrswerte für das Jahr 2025. 

Methodische Elemente

Die Risikoanalyse untersuchte und quantifizierte Risiken von möglichen Unfallszenarien, deren Kriterien Eintrittswahrscheinlichkeiten, Schadenswirkungen und Schadensausmasse lauteten. Dieses Risikomodell unterschied nur die Unfallszenarien des Typs «Kolli­sion» und «Brand». Da es zum Zeitpunkt der Analyse in der Schweiz keine verbindliche Methode für die Beurteilung von Risiken in Strassentunneln gab, wurde die in Deutschland entwickelte Methode zur «Bewertung der Sicherheit von Strassentunneln» (Forschungsbericht FE 03.0378/2004/FRB) in adaptierter Weise angewendet.

Dieses Risikomodell fokussiert auf das Personenrisiko der Tunnelbenutzer. Es errechnet aus den durchschnittlich zu erwartenden Todesfällen pro Jahr einen Risikoerwartungswert als «Kollektives Risiko der Tunnelnutzer» und besteht aus den beiden Kernelementen «Quantitative Häufigkeitsanalyse» und «Quantitative Schadensausmassanalyse». Diese beiden Grundelemente werden ergänzt mit einer Gefahrgutanalyse und dann anschliessend bewertet. 

Häufigkeitsanalyse: Die Wahrscheinlichkeit einer Reihe von Schadensszenarien berechnet sich mit einem Ereignisbaum. Beginnend mit einem Initialereignis, dessen Häufigkeit aus der Schadensstatistik bekannt ist, entwickeln sich in mehreren Schritten über alle Zweige eines Ereignisbaums die verschiedenen möglichen Abläufe des Ereignisses zu verschiedenen Schadens­szenarien. 

Schadensausmassanalyse: Diese berechnet die Unfallfolge für jedes Folgeszenario im Ereignisbaum. Die Werte für Schadensausmasse bei Kollisionen, die in Deutschland erhoben wurden, übernahm das Astra für schweizerische Verhältnisse und sah diese für die Tunnel Fäsenstaub und Cholfirst als plausibel an. 

Die Schadensausmasse (d. h. die Anzahl Todesfälle) für Brände (ohne Gefahrgüter) werden durch detaillierte Simulationen mithilfe von dreidimensionalen Rauchausbreitungssimulationen berechnet. Hierfür stand die Software «Fire Dynamic Simulator» zur Verfügung. Ein kombiniertes 3-D- und 1-D-Modell simuliert die Ausbreitung von Schadstoffen und Russ im Tunnel und liefert damit die Parameter für das Evakuierungsmodell.

Die Evakuierungssimulation wertet die Sichtweite im Tunnel in 1.8 m Höhe aus und schätzt die ­Letalitäten der Flüchtenden ab. Die grösste Gefahr für die Tunnelnutzer besteht darin, vor Erreichen eines Notausgangs durch die Einwirkung von Rauchgasen zu ersticken.  

Gefahrgutanalyse: Die angewandte Methode berücksichtigt die Risiken, die von Gefahrgut ausgehen, nicht, weshalb man sie grob separat mithilfe eines vereinfachten OECD/PIARC-CH-Modells ermittelte und in die Gesamtrisikobetrachtung mit einbezog. 

Bewertung: Risikowerte sind grundsätzlich unscharfe Grössen, den ermittelten Risikoerwartungswert eines untersuchten Tunnels vergleicht man deshalb mit demjenigen eines richtlinienkonformen «Referenztunnels», der alle Anforderungen und Bedingungen der Normen und Richtlinien erfüllt.

Die Risikoanalyse wird sowohl für den Referenztunnel als auch für den bestehenden Tunnel mit der Verkehrs­prognose für 2025 durchgeführt. Liegt das Risiko des bestehenden Tunnels (2025) über dem Risiko des Referenztunnels, sind Massnahmen zur Risikoreduktion zu ergreifen. 

Massnahmenpakete

Für die Tunnel Fäsenstaub und Cholfirst wurden neben dem heute bestehenden Tunnel und dem Referenztunnel drei Ausführungsvarianten mit unterschiedlichen Sicherheitsmassnahmen untersucht. Im Zentrum standen die Fluchtmöglichkeiten und das Lüftungssystem. Zur Bewertung der Fluchtmöglichkeiten betrachtete man einen Sicherheitsstollen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Querschlägen (Fluchttüren zum Tunnel).

Beim Lüftungssystem wurden Varianten mit der geforderten Rauchabsaugung und/oder mit einer angepassten mechanischen Längslüftung untersucht. Im Weiteren konnte man die Konsequenzen des Anpassens der Lüftung (Rauchabsaugung und Längslüftung) beim Weglassen von Fluchtmöglichkeiten untersuchen. 

Für jede der untersuchten Varianten liess sich nun die statistisch zu erwartende Anzahl Todesopfer infolge Kollision und Brand pro Jahr berechnen. Daraus ergab sich das gesamte Risiko der Varianten, welches anschliessend mit dem bestehenden Tunnel und mit dem Referenztunnel zu vergleichen war. 

Ergebnisse und Beurteilung

Die analysierten Varianten konnte man nun nach ­deren Kosten-Wirksamkeit beurteilen (vgl. «Wie viel ist uns unser Leben wert?»). Die Wirksamkeit (= Nutzen) einer Variante entspricht dem Sicherheitsgewinn infolge der statistisch weniger zu erwartenden Todesfälle. Der Nutzen eines geretteten Menschenlebens (vgl. Kasten «Wer bewertet Menschenleben?») ergab sich bei Kollisionstoten durch Monetarisieren mit 5 Mio. Fr., bei Brandtoten mit 10 Mio. Fr. (diese Unterscheidung ergab sich aufgrund des Aversionseffekts).

Die ­Jahreskosten setzen sich aus den diskontierten Investitionskosten und den Betriebs- und Instandhaltungskosten zusammen. Wenn das Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis (das Verhältnis der Kosten zum Nutzen) kleiner ist als 1.0, so handelt es sich um eine kostenwirksame Massnahme. Das Kollisionsrisiko vernachlässigte man, da es unabhängig von der Notausgangskonfiguration und dem Lüftungssystem ist.

Mit dem Referenztunnel, gemäss den heute geltenden Richtlinien mit vier Notausgängen und einer Rauchabsaugung, ergäbe sich ein deutlich höheres Sicherheitsniveau als heute. Massnahmen zur Verbes­serung der Sicherheit sind also zwingend notwendig. Die Varianten 1 bis 3 unterscheiden sich lediglich in der Anzahl der Notausgänge, auf eine Rauchabsaugung wurde überall verzichtet.

Bei beiden Tunneln führt die Variante 1 zu einem höheren Risiko bei Brand als beim Referenztunnel, ist also nicht zu empfehlen. Die Varianten 2 und 3 liefern je ein höheres Sicherheits­niveau als der Referenztunnel und sind daher ausreichend sicher. 

Die Kosten-Wirksamkeits-Analyse zeigt, dass die (normgemässe) Referenzvariante mit der Rauchabsaugung ein deutlich schlechteres Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis aufweist. Die Varianten 1 bis 3 sind bei beiden Tunneln positiv kostenwirksam (d. h. KW < 1.0) und deshalb realisierungswürdig, wobei nur die Va­rianten 2 und 3 ein geringeres Gesamtrisiko als der jeweilige Referenztunnel aufweisen und dadurch die Sicherheitsanforderungen erfüllen. 

Aufgrund dieser Ergebnisse für die Varianten 2 und 3 (günstiger und sicherer) entschied der Bauherr (Astra), von der richtlinien- und normkonformen, aber kostenintensiven Lösung abzuweichen. Umgesetzt werden nun je ein Sicherheitsstollen mit (der Richtlinie gegenüber) verdichteten Fluchtwegabständen sowie eine Anpassung der Längslüftung und im Tunnel Fäsenstaub eine Ertüchtigung der bestehenden Mittenabsaugung.

Die Ergebnisse der quantitativen Risikoanalyse zeigen deutlich, dass die von Richtlinien und Normen vorgegebenen Massnahmen nicht in allen Fällen die optimale Lösung für einen Tunnel darstellen.

Bauherrenunterstützung: Amberg Engineering AG

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