SIA: Qua­li­fi­ziert er­set­zen

Tagung «Ersatzneubau | Erneuerung, Entscheidungskriterien»

Sanieren oder abbrechen? Die Tagung «Ersatzneubau» des SIA-Fachrats Energie in Bern war ein Meilenstein für die systematische Entwicklung von Entscheidungskriterien und Handlungsoptionen bei der Erneuerung des Gebäudebestands.

Date de publication
07-10-2015
Revision
10-11-2015

Nachdem der Bund alle Weichen gestellt hat für die Umsetzung der Energiestrategie 2050 und seit 2012 auch ein klares Votum des Stimmvolks besteht, Zersiedlung zu bremsen und die Innen­entwicklung zu forcieren, wird der bestandsorientierte Weg der energetischen Sanierung zunehmend hinterfragt. Um nämlich die gesteckten energiepolitischen Ziele zu erreichen, muss die Erneuerung des ­Gebäudeparks sehr viel schneller vorankommen als bisher und mit verdichteten Quartieren einhergehen – denn die Schweiz wächst. Vor diesem Hintergrund befasste sich die vom SIA-Fachrat Energie initiierte Tagung «Ersatzneubau | Erneuerung, Entscheidungskriterien» mit dem Für und Wider von Abbruch und Neuerrichtung von Bauwerken oder eben deren Sanierung. Am 24. September waren im Ratssaal des Berner Rathauses 193 Architekten und Ingenieure, Bauherrenvertreter und Stadtplaner zusammengekommen, um sich zu informieren bzw. aus ihrer jeweiligen Warte über das Thema zu sprechen. Aufgeboten war ein breites Spektrum von Referenten – vom Architekturhistoriker bis zum Energieingenieur. Zahlreich und auch erhellend waren die aus dem Publikum vorgebrachten Meinungen und Fallbeispiele. 

Vorurteilsfreie Bewertung von Bauten

Neben grossen Immobilienunternehmen sind es vor allem die öffentliche Hand oder institutionelle Bauherren wie Genossenschaften, für die der Entscheid für Sanierung oder Ersatzneubau Brisanz besitzt, weil sie ihr Handeln und die entsprechenden Investitionen gegenüber den Stadtparlamenten bzw. dem Genossenschaftsvorstand rechtfertigen müssen – und diese Entscheide sollen weitsichtig sein. «Wenn man ersetzt, dann sollte der Ersatz ein qualifizierter Ersatz sein», sagte Architektin und SIA-Vorstandsmitglied Anna Suter, die zuvor am Beispiel des von ihr er­neuerten Berufs- und Weiterbildungszentrums in Lyss Partei ergriffen hatte für eine vorurteilsfreie Bewertung von Bauwerken der 1960er-Jahre mit ihrem «energetisch denkbar schlechten Ruf».

Ein Exempel für einen solchen «qualifizierten Ersatz» ist die Siedlung Grünmatt der Familienheim Genossenschaft (FGZ), die im Zürcher Friesenbergquartier rund 2300 Wohnungen besitzt. Genossenschaftspräsident Alfons Sonderegger erläuterte in seinem Vortrag die Entscheidung, 64 im Jahre 1929 errichtete, eingeschossige Reihenhäuser durch Neubauten zu ersetzen. Ab­gesehen von ihren schlechten energetischen Kennzahlen war die Bausubstanz angegriffen, und es gab grosse Feuchtigkeitsprobleme. In den «Rheuma-Häusern», wie sie manche nannten, «konnten Sie keine Bücherkiste mehr an die Wand stellen, ohne dass sich die Seiten wellen», berichtete der promovierte Volkswirt. 

Ein Ersatzneubau drängte sich drittens auch wegen der geringen Ausnützung der stadtnahen Siedlungsfläche auf. Damit waren aus Sicht der FGZ-Verantwortlichen drei Voraussetzungen für einen Abbruch erfüllt. Man führte einen Wettbewerb durch, den das Zürcher Büro Graber Pulver Architekten ­gewann. Statt knapp 200 Menschen leben auf dem Areal in den 2014 ­fertiggestellten Ersatzneubauten jetzt 490 Menschen, aus 64 wurden 155 Wohnungen. 

Bei den Neubauten, die die Architekten in einer Abfolge leicht gewölbter Zeilen in den Hang platzierten, hatte die Genossenschaft von Beginn an entschieden, sich auf drei Geschosse zu beschränken, ­obschon eine höhere Ausnutzungsziffer möglich gewesen wäre, wie Sonderegger betonte; mit Blick auf die Akzeptanz bei den Bewohnern verzichtete man bewusst darauf. Dennoch konnte die totale Wohn­fläche fast verdreifacht werden. Eine Zahl ist dem Genossenschaftspräsidenten dabei wichtig: Die Pro-Kopf-Wohnfläche stieg nur von 31 auf 33 m2 je Person. «Wir haben mit dem Ersatzneubau also wirklich mehr Qualität und Raum für die neuen Einwohner geschaffen – anstatt Wohnluxus für wenige!» 

Wie wollen wir morgen wohnen?

Mit diesem Gedanken einer umfassend verstandenen Qualitätsverbesserung sprach Alfons Sonderegger ein Thema an, auf das schon im ­morgendlichen Einführungspanel «Perspektiven» der Autor und FAZ-­Redaktor Niklas Maak fokussiert hatte. «Wie wollen wir künftig wohnen?» war das Leitthema seines Vortrags, in dem er neue Wohnmodelle etwa aus Berlin vorstellte. Maak unterstrich, die Angebote der öffentlichen Hand wie auch kommerzieller Bauträger gingen weit am wahren Bedarf vorbei, weil sie auf die Gesellschaft der 1960er-Jahre zugeschnitten seien. 

«Bevor wir über regenera­tive Energien und Dämmsysteme nachdenken, sollten wir uns mit der sozialen Energie des Wohnens beschäftigen», forderte Maak. Anstatt Vereinzelung zu zementieren, müssten Gebäude Gemeinschaft ermögli­chen, kollektive Nutzungen für einen Lebensstil jenseits der Kleinfamilie, die heute kaum mehr 20 % der Grossstadtbewohner ausmache. Auf ebendiesen Anspruch hat die Genossenschaft FGZ aktiv reagiert: Ihre Ersatzneubauten verfügen über Gemeinschaftsräume, Kindergarten und Hort, eine Pflegewohngruppe, zwei Ateliers, Gästewohnungen sowie Individualzimmer, die von Nutzern der benachbarten Einheiten bei Bedarf zugemietet werden können – zum Beispiel für Gäste oder bei veränderten Fami­liensituationen. Auch das wäre in der früheren Bebauung nicht machbar gewesen.

Objektive Entscheidungskriterien

Wie aber finden Ingenieure, Architekten und Eigentümer von Liegenschaften zu fundierten und objektiven Kriterien und Grundlagen zur Beurteilung einer Immobilie, wenn die Dinge nicht so eindeutig liegen wie bei der Siedlung Grünmatt?

Einen Eindruck, wie dies erfolgreich gelingen kann, gab der Berner Stadtbaumeister Thomas Pfluger mit dem Beispiel des von ­seiner Behörde initiierten Ersatzneubaus für die 1972 errichtete ­Berner Volksschule Kleefeld. Wie bei der Zürcher FGZ-Siedlung gesellte sich zu den energetischen und funktionalen Defiziten der Wunsch nach höherer Ausnutzung. Bei der Metron AG beauftragte die Stadt eine Entwicklungsstudie für eine Erneuerungs- oder Neubauvariante. Er­gebnis war eine Kostenprognose von 23 Mio. Fr. für die Erneuerung und 26 Mio. Fr. für den Neubau; in der Lebenszyklusbetrachtung schnitt jedoch die Neubauvariante besser ab. Bemerkenswert an dem Beispiel war die analytische und ausgewogene Vorgehensweise der Planer: Denn in der Studie wurden in einer detaillierten Bewertungsmatrix die Qualität von Architektur, Städtebau, Funktionalität, die graue Energie, Wirtschaftlichkeit, aber auch Aspekte wie «Identität» einander gegenübergestellt. Die Betrachtung aller Gesichtspunkte führte dann zum Entscheid für einen Neubau und zur Auslobung eines Architekturwettbewerbs. Doch nicht jede Gemeinde und jeder Bauherr können es sich leisten, vor Bauentscheiden Studien in Auftrag zu geben.

Insofern ist es gut, dass es das Merkblatt SIA 2047 gibt, das Architekt Armin Binz, Mitglied der Kommission SIA 2047, vorstellte. Auch hier werden in einer «strukturierten Situationsanalyse» der je­weiligen baulichen Gegebenheiten «strategische Optionen» entwickelt, doch die daraus abgeleiteten Folgerungen liegen ganz klassisch bei den Planern. Wer aber kann qualifiziert entscheiden, ob eine Sanierung oder ein Ersatzneubau sinnvoll ist? Am zweiten Podium des Tages, das an die Präsentation der Praxisbeispiele anschloss, brachte es TEC21-Chefredaktorin Judit Solt auf den Punkt: Bei der Evaluation des Bestehenden komme es darauf an, «Werte zu erkennen», und entscheidend sei die Frage, wer dafür qualifiziert sei. 

Position der Architekten stärken

Aus Sicht von Armin Binz und auch Thomas Ammann vom Hauseigen­tümerverband Schweiz sind Arbeitsgemeinschaften aus sanierungs­erfahrenen (und denkmalaffinen) Architekten, Energieingenieuren und Immobilienökonomen der beste Garant für einen ausgewogenen Blick auf die Perspektiven einer Immobilie. Allerdings, schränkte Binz ein, ­seien solche interdisziplinären Teams nur bei grossen Projekten wirtschaftlich vertretbar, nicht bei der Vielzahl kleiner Bauaufgaben. «Hier müssen die Architekten von den Fachplanern Terrain zurückerobern, und wir müssen unsere Querschnittskompetenz unter Beweis stellen.» 

Deutlich wurden an der Tagung zwei Dinge: Zum einen führt es zu schlüssigeren Ergebnissen, wenn bei der Entscheidungsfindung energetische Ziele oder der Wunsch nach Nachverdichtung in eine Gesamtbeurteilung des Status quo und seiner Potenziale eingebunden sind. Zum anderen zeigten die regen Diskussionen zwischen Publikum und Referenten im Ratssaal, dass der SIA mit der Tagung die richtige Tür aufgestossen hat – denn am Ende des Tages waren viele wichtige Themen bestenfalls angerissen. Die Diskussion beginnt jetzt erst richtig.


TAGUNGSDOKUMENTATION

«Ersatzneubau | Erneuerung, Entscheidungskriterien»
Interessierte können die Vorträge der Tagung «Ersatzneubau» online einsehen und abrufen über den Link: www.sia.ch/energie
Merkblatt SIA 2047 Energetische Gebäudeerneuerung, zu beziehen über www.shop.sia.ch

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