«Ein Ans­toss von aus­sen»

Interview mit dem Vertreter der Bauherrschaft

Was motivierte die Rhätische Bahn, einen Wettbewerb zu lancieren? Hält die historische Hinterrheinbrücke den künftigen Belastungen stand? Karl Baumann, Leiter Kunstbauten der RhB Infrastruktur, nimmt Stellung.

 

Date de publication
26-11-2015
Revision
27-11-2015

TEC21: Herr Baumann, Reichenau ist topografisch und baugeschichtlich eine aussergewöhnliche Landschaft (vgl. «Brücken am vereinigten Fluss»). Die Stahlbrücke der Rhätischen Bahn (RhB) ist als Teil des Ensembles zu erhalten. Woran orientieren Sie sich?

Karl Baumann: Die RhB hat vor einigen Jahren zusammen mit der Denkmalpflege Graubünden und Jürg Conzett das Dokument «Umgang mit bestehenden Brücken» erarbeitet. Dieses Dokument dient uns als Leitfaden für alle Massnahmen bei Instandsetzungen oder beim Ersatz von Brückenbauwerken. Die Hinterrheinbrücke Reichenau wird in diesem Dokument als eine Rarität von sehr hohem denkmalpflegerischem Wert bezeichnet. Es war somit von Anfang an klar, dass sie nach Möglichkeit zu erhalten ist. Die RhB hat deshalb 2010 die Durchführung einer Sonderinspektion mit einer statischen Nachrechnung der Hinterrheinbrücke in Auftrag gegeben. 

Mit welchem Ergebnis?

Die 120 Jahre alte Brücke soll für insgesamt rund 5 Millionen Franken instand gesetzt und mit einem neuen Korrosionsschutzsystem versehen werden. Die In­standsetzungsarbeiten beinhalten den Ersatz der sekundären Stahlkonstruktion, was in diesem Umfang nur während eines mehrmonatigen Betriebsunterbruchs realisierbar ist. 

Die historische Brücke rückzubauen war nie ein Thema?

Nicht, seit wir ihren immateriellen Wert kennen. So steht auch die Frage eines späteren Abbruchs im Moment nicht zur Diskussion. Mit entsprechenden Massnahmen lässt sich ein solches Bauwerk auch noch länger als 70 Jahre in Betrieb halten. Zum Beispiel wäre es heute undenkbar, den Eiffelturm oder die Golden-Gate-Brücke abzubrechen.

Was hat die RhB dazu bewogen, erstmals in ihrer Geschichte einen formellen Wettbewerb zu lancieren?

Die Projektierung einer zweiten Bahnbrücke neben der bestehenden Fachwerkbrücke in der historisch bedeutenden Umgebung von Reichenau, genau beim Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein, ist nach Beurteilung der RhB eine äusserst anspruchsvolle Planerarbeit. Für solche Aufgaben eignet sich das Werkzeug eines Wettbewerbs. 

Im Wettbewerbsprogramm wurden drei betrieblich gleichwertige Linienführungen vorgeschlagen. Wie begründen Sie deren Lage?

Ursprünglich war die RhB davon ausgegangen, dass die zweite Hinterrheinbrücke auf der Nordseite liegen müsse, da das bestehende Bauwerk in der Ansicht fast ausschliesslich von Süden wahrgenommen wird. Während der Vorbereitung der Grundlagen für den Projektwettbewerb mussten wir unsere Meinung aber revidieren. Wasserbauliche, denkmalpflegerische und betriebliche Gründe sprechen eindeutig für eine Lage auf der Südseite. Die geschwungene Linienführung C war ursprünglich die einzige Linienführung, vorrangig um aus bautech­nischen Gründen einen genügend grossen Abstand zwischen neuen und alten Pfeilern bzw. Widerlagern zu schaffen.

Die gerade Linienführung A parallel zur bestehenden Brücke kam später hinzu. Wir beliessen beide Varianten, weil wir zum damaligen Zeitpunkt keine schlüssigen Gründe für den Ausschluss der einen oder anderen Variante hatten. Unsere Unschlüssigkeit widerspiegelt die Linienführung B. Sie ist ein Kompromiss zwischen A und C und ist als solcher auch in den Eingaben zu erkennen.

Aus den Eingaben ging hervor, dass die Linienführung A nach einer konstruktiven Annäherung und C nach einer gewissen Eigenständigkeit der neuen Brücke «verlangt». Die Linienführung B wurde selten eingegeben. Das Siegerprojekt zeichnet sich durch eine Eigenständigkeit auf der Linienführung C aus, wobei das Siegerteam betont, dass die beiden Brücken dennoch ein Ensemble bilden (vgl. «Das Siegerteam und sein Vorschlag», Kasten unten). Sehen Sie als Bauherrschaft das neue Brückenduo ebenfalls als Ensemble?

Die RhB ist der Meinung, dass das neue Bauwerk «Sora Giuvna» klar Bezug auf die bestehende Fachwerkbrücke nimmt. Natürlich reagiert das Projekt nicht spezifisch auf ein eigentliches Brückenduo. Dies ist mit der 1963 dazugekommenen Über­führung über die A13 nicht mehr möglich. Vielmehr besticht das Projekt mit einem einheitlichen Tragwerkskonzept, das sowohl die grosse Spannweite über den Hinterrhein als auch das etwas kleinere, aber in der Bauwerkshöhe stark eingeschränkte Feld über der A13 überbrückt. Diese Eigenheit ist nur bei ganz wenigen Projekten vorhanden.

Mit der schlanken Trägerhöhe von 1.70 m und der Ausbildung eines leicht nach oben versetzten Trogquerschnitts gelingt es ausserdem, die bestehende Fachwerkbrücke fast vollständig frei sichtbar zu belassen. Das ist schliesslich das gewünschte Zusammenspiel, das die beiden Brücken zum Ensemble werden lässt.

Ich persönlich begrüsse die Linienführung C zudem noch wegen zweier weiterer Aspekte: Sie bewirkt eine leichte Entflechtung der engen Platzverhältnisse im Bereich der A13-Überführung, und der Respektabstand zum bestehenden Bauwerk ermöglicht unseren Fahrgästen bei der Überfahrt über die neue Brücke einen Blick auf das alte Tragwerk. Schliesslich nutzen viele Touristen unsere Bahn.

Das Siegerprojekt stammt von einem internationalen Team. Die RhB gilt als regional verortet. Ist das ein Widerspruch?

Ich habe mich während der Jurierung immer wieder gefragt: Wer könnte der RhB eine solche Stahlbrücke mit V-Stielen anbieten? Und im ersten Moment nach der Couvertöffnung war ich überrascht, dass es ein internationales Team ist. Wir haben – das darf ich ehrlich sagen – mit Bedauern zur Kenntnis genommen, dass unter den preisgekrönten Projekten keine einheimische Firma ist. Dies, obwohl im Kanton Graubünden mehrere gute Firmen vertreten sind, die ihre Kompetenz bei verschiedenen Projekten immer wieder beweisen.

Es stellen sich Fragen, die ich so (noch) nicht beantworten kann: Zeigt dieses Resultat nicht auch auf, dass manchmal eine etwas grössere Weitsicht sinnvoll und nötig ist? Hat die Wettbewerbs­auf­gabe dazu geführt, dass neue Ideen angeboten wurden – V-Stiel-Brücken, Stahllösungen, integrale Brückenprojekte? Haben sich die lokalen Anbieter nicht getraut, bisher wenig bekannte Konzepte anzubieten? Ist der Markt Graubünden zu stark abgeschottet und demzufolge weniger offen?

Vermutlich hat die Offenheit, die wir mit dem Wettbewerb sichergestellt haben, dazu geführt, dass wir nun andere Lösungen präsentiert erhielten, als wir das im Bündnerland gewohnt sind. Es könnte durchaus sein, dass regional verankerte Firmen in erster Linie auf eine gute technische Qualität und auf gut funktionierende Bauvorgänge achteten. Hingegen fehlten leider wirklich gute Lösungen, die der Erwartungshaltung der RhB standhielten.

Ein Anstoss von aussen dürfte nicht schaden. Zumal es sich beim Siegerprojekt nicht einfach nur um eine gute Idee handelt. Das Projekt ist durchdacht und zeigt, dass es von erfahrenen Stahlbauern erarbeitet wurde. Man spürt die Sicht des Ingenieurs und die Sicht des Architekten. Beides vereint sich zu einem einheitlichen Gesamtbauwerk.

Wir sind als Bauherrschaft mit den eingereichten Projekten sehr zufrieden und anerkennen den grossen Einsatz aller Teilnehmenden. Die Wertschätzung möchten wir auch mit dem ausführlichen Jurybericht äussern. Wir hoffen, damit etwas zur künftigen Entwicklung im regionalen und nationalen Ingenieurbau beigetragen zu haben.


Jurybericht «Zweite Hinter­rheinbrücke Reichenau»

Der erste Projektwettbewerb in Sinn des SIA der RhB wurde umfassend dokumentiert. Im 92 Seiten starken Jurybericht kann sich der Leser umfassend über die Planungsaufgabe und die Randbedingungen informieren. Grundsätzliches zum Verfahren und zur Jurierung ist ebenfalls enthalten.
Das Vorgehen und die Gedanken der Jury geben einen guten Einblick in den Entscheidungsprozess. Besonders interessant ist der Abschnitt über die Einteilung der Projekte nach Tragwerksystemen.
Im zweiten Teil des Berichts sind alle 42 eingereichten Projekte beschrieben und durch eine kurze Beurteilung der Jury ergänzt. Durch das DIN-A3-­Format sind Pläne und Skizzen sehr gut lesbar.
Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem sei der umfangreiche Jurybericht empfohlen. Mit dem informativen und aufwendig gestalteten Bericht anerkennt die RhB die Arbeit der Teilnehmenden. Aber auch für alle anderen Interessierten ist er ein lesenswertes Dokument. (dd)


Das Siegerteam und sein Vorschlag

Das Siegerteam ist ein internationales Team, das sich aus Ingenieuren und Architekten aus London, Kopenhagen und Zürich zusammensetzt. Ian Firth von Flint & Neill aus London und Andreas Galmarini von WaltGalmarini aus Zürich lernten sich 2009 bei der Arbeit für eine feste Fehmarnbeltquerung zwischen Dänemark und Deutschland ­kennen. Im Zusammenhang mit dem ­Negrellisteg (Wettbewerbsgewinn, vgl. TEC21 19-20/2011) vertieften sie ihre Zusammenarbeit.

Die Beziehungen zu Dissling + Weitling aus Kopenhagen reichen noch weiter zurück: Ian Firth und Steen Savery Trojaborg gewannen 1996 einen ersten Brückenwettbewerb in Poole, England, und haben seither gemeinsam erfolgreich an Projekten wie der Stonecutters-Brücke in Hongkong, der Universitätsbrücke in Malmö und der eingangs erwähnten Fehmarnbeltquerung gearbeitet.

Andreas Galmarini wiederum bearbeitete seit der Nelson­-Mandela-Brücke in Johannesburg 2002 weitere Brückenprojekte mit Dissling + Weitling, und mit Hager Partner aus Zürich durfte WaltGalmarini in einem internationalen Team einen beeindruckenden Entwurf für einen Wettbewerb mit Brücke in Ho-Chi-Minh-Stadt entwickeln.

Vor diesem Hintergrund bot der Wettbewerb zweite Hinterrheinbrücke Reichenau dem Team einen willkommenen Anlass, gemeinsam eine Antwort auf eine spannende Fragestellung zu entwickeln. Die Wettbewerbsteilnahme sei ein inspirierendes Erlebnis gewesen: «Wir waren begeistert und haben uns gegenseitig herausgefordert und hinterfragt, um einen gesamtheitlichen Entwurf herzuleiten», meinen die Beteiligten unisono. Dabei hätten sie auch die herkunftsbedingt unterschiedlichen Sichtweisen beflügelt. Der gleiche Geist werde bei der anstehenden Umsetzung helfen, das Projekt weiter zu schärfen und bis ins Detail konsequent zu entwickeln.

Die klaren und unterschiedlichen Sichtweisen verwischten sich mit dem Entwurfsprozess. Die Projektierenden erhielten eine Sichtweise als Team: «Wir sind überzeugt von der Einfachheit unseres Projekts. Es gibt nur noch zwei Brücken, die ältere und die jüngere Schwester. Die jüngere ist transparent, um respektvoll den Blick auf die ele­gante ältere Schwester freizuhalten. Sie bekennt sich durch Materialisierung und geometrische Bezüge zu ihrer Verwandtschaft und ist dank ihrer Formsprache und dem Abstand zur älteren eine starke eigene ‹Persönlichkeit›.»

In Bezug auf Proportionen, Transparenz und Ingenieurfertigkeit widerspiegelt die jüngere Schwester die Gegenwart ebenso, wie die historische, ältere Schwester dem damaligen Stand der Technik entsprach. Die Transparenz und reduktivistische Formgebung sowie die Höhenlage der jüngeren Schwester tragen dazu bei, dass die Eisenbahnbrückenfamilie weiterhin in der Landschaft erkennbar bleibt.

Die landschaftliche Gestaltung des Entwurfs bedingt einen Hangabtrag von nicht weniger als 31 000 m3. Das Siegerteam ist von dieser ordnenden und befreienden Hand der landschaftlichen Gestaltung überzeugt: «Paradoxerweise ist es gerade dieser Eingriff, der ebendieser Natur ihre Natürlichkeit zurückgibt.» Mit dem erforderlichen baulichen Eingriff bietet sich die Möglichkeit, die heute dominierende obere Stützmauer durch eine landschaftlich weniger auffällige und der Typologie der Tomalandschaft besser entsprechende Böschung zu ersetzen.

Der Verzicht auf Stützmauern oberhalb der Gleise reduziert und konzentriert also die Masse der Infrastruktur am Plong Vaschnaus, sodass die bewaldete Böschung und die Typologie der Tomahügel deutlicher ablesbar werden. Damit erreichen die Projektierenden auch, dass sich das Augenmerk klarer auf die Brücken selbst richtet und sich der landschaftliche Eingriff auf den «Brückenhorizont» beschränkt. Das Eisenbahnbrückenpaar kommt besser zur Geltung, weil der Blick nicht durch eine riesige gemauerte Fläche abgelenkt wird.

Mit dem Vorschlag, das Abbaumaterial – soweit es nicht für die Dammverbreiterung auf der Seite Bonaduz verwendet wird – für die Rekultivierung der Kiesgrube nebenan einzusetzen, werde ein natürlicher Prozess wieder aufgenommen bzw. weitergeführt. Die Hügel sind schliesslich Folge des historischen Taminser Bergsturzes. Das Material wurde also schon früher durcheinandergebracht und neu zusammengestellt. Die vorgeschlagene Materialverschiebung sei daher nichts Neues, sondern eine weitere, folgerichtige Umlagerung.

Als besonders wichtig erachteten die Projektierenden schliesslich die Anforderung, dass sich die beiden Brücken – aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet – nicht gegenseitig stören, sondern vielmehr zusammenspielend wirken: «Das entworfene Bauwerk und die vorgeschlagene landschaftliche Gestaltung bedingen einander – das Zusammenspiel Bauwerk-Landschaft ist entschlackt, akzentuiert und damit harmonischer.» (cvr)

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