Qualitätsbewertung versus Preisargumente
Im Gespräch: Diskrepanz zwischen Vergaberecht und Vergabepraxis
Gutes Vergaberecht hilft wenig, wenn die öffentlichen Hand ihre Spielräume für den Einbezug von Qualitätskriterien nicht ausschöpft. Bundesverwaltungsrichter Marc Steiner über juristische Möglichkeiten, die Vergabekultur zu gestalten.
Denis Raschpichler (DR): Herr Steiner, der SIA fordert den Qualitätswettbewerb im Sinn der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Was will das Beschaffungsgesetz?
Marc Steiner: Das Vergaberecht will seit je den wirtschaftlichen Mitteleinsatz; das ist für den Bund (BöB) wie auch auf kantonaler Ebene (IVöB) ein Gesetzesziel. Die Vorgabe der Wirtschaftlichkeit bleibt aber insofern unbestimmt, als sie als offenes Prinzip nicht abschliessend klärt, ob das Vergaberecht dem Preis- oder dem Qualitätswettbewerb verpflichtet sein soll. Interessant ist, dass im Vorentwurf zu den neuen Beschaffungsgesetzen für die Revision für Bund (Art. 1 lit. a VE BöB) und Kantone (Art. 1 lit. a E-IVöB) übereinstimmend gesagt wird, dass der wirtschaftliche Einsatz der öffentlichen Mittel unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit bezweckt wird. Und das ändert das Spiel.
Die Nachhaltigkeitsaspekte entsprechen jedenfalls einer – wie auch immer bestimmten – Qualität des Produkts; damit wird ein Signal im Sinn der Berücksichtigung längerfristig relevanter Aspekte gesetzt, was der Logik des Qualitäts- und nicht derjenigen des Preiswettbewerbs entspricht.
DR: Was muss passieren, damit im Zug der Revision des öffentlichen Beschaffungsrechts der Qualitätswettbewerb um intellektuelle Dienstleistung endlich Realität wird?
Marc Steiner: Bauenschweiz, usic, SIA usw. haben immer versucht, eine gesetzliche Formulierung zu finden, die die Bedeutung des Qualitätswettbewerbs betont – was auch bedeutet, im Zug der Beschaffung die gesamtwirtschaftlichen Kosten stärker zu berücksichtigen und das Beschaffungsrecht nicht einseitig dafür zu nutzen, die Ausgaben der öffentlichen Hand nach Möglichkeit zu senken. Zweiter Schauplatz dieser Debatte ist die Bestimmung zu den Zuschlagskriterien, aus der klar werden soll, dass nicht das billigste, sondern das Angebot mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis gewünscht wird. Da geht es beispielsweise um die Zuschlagskriterien Innovationsgehalt und Nachhaltigkeit.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die Berücksichtigung der sogenannten Mehreignung eines Anbieters im Rahmen des Zuschlags, die das Bundesgericht ausdrücklich als zulässig anerkannt hat. (In der EU wurden die Richtlinien so geändert, dass die Mehreignung neu ausdrücklich berücksichtigt werden kann. Diese rechtfertigt dann einen höheren Preis.)
DR: Ist die Regelung der Zuschlagskriterien gemäss geltendem Recht aus der Sicht des Qualitätswettbewerbs ein Problem?
Marc Steiner: Nein. Nach meiner Beurteilung ist Art. 21 BöB eine gediegene Formulierungsleistung. Und aus der Gesetzgebungsgeschichte wird völlig klar, dass das geltende Vergaberecht als Bekenntnis zum Qualitätswettbewerb zu verstehen ist. Aus Art. 21 Abs. 3 ergibt sich – aufbauend auf dem von einem Parlamentarier in diesem Zusammenhang zitierten Satz, dass Qualität langfristig stets das Billigste ist – in unzweideutiger Weise, dass (nur) für weitgehend standardisierte Güter der Zuschlag auch ausschliesslich nach dem Kriterium des niedrigsten Preises erfolgen kann.
DR: Warum sehen wir, dass der Auftrag oft dem billigsten Anbieter überantwortet wird?
Marc Steiner: Die Frage, ob sich die Verantwortlichen auf Beschafferseite für Preis oder Qualität entscheiden, liegt innerhalb des rechtlichen Rahmens im Ermessen derselben. (Und die Frage, wie dieses Ermessen gehandhabt wird, wird insbesondere aus der publizierten Gewichtung der Zuschlagskriterien deutlich.)
Die Verwaltung versteckt sich gern hinter dem Gesetz, aber dort, wo sie richtigerweise Spielräume hat, hat sie auch Verantwortung und macht das, was man in neudeutscher Sprache «policy choices» nennt. Die Frage, ob Qualitätswettbewerb gelebt wird, ist also keine primär rechtliche Frage, sondern eine der Vergabekultur.
Auch die Frage, ob für die Vorbereitung eines komplexen Projekts genügend Zeit von genügend qualifiziertem Personal zur Verfügung steht, ist nicht juristisch, sondern ebenfalls durch vergabekulturelle Steuerungseffekte vorbestimmt.
DR: Warum hapert es mit der Vergabekultur?
Marc Steiner: Nicht nur unter Milizpolitikerinnen und Milizpolitikern und Führungskräften, die als Nichtspezialisten nebenbei für grosse Vergabeprojekte Verantwortung tragen, hält sich hartnäckig das Vorurteil bzw. Ammenmärchen, wonach ein Zuschlag am einfachsten politisch zu verkaufen und begründbar ist, wenn man den preisgünstigsten Anbieter berücksichtigt. Und noch schlimmer ist, dass einige Akteure glauben, dass es auch für den Fall einer Beschwerde am einfachsten ist, wenn das billigste Angebot zum Zug kommt. Aber die Justiz hat nach meiner Beobachtung längst erkannt, dass Qualitätsbewertungen ebenso in rechtskonformer Weise den Ausschlag geben können wie das Preisargument.
Fazit: Man muss nicht an das günstigste Angebot vergeben, um die rechtlichen Risiken zu minimieren. Aber diese Debatte muss breit geführt werden, die Lufthoheit über dem vergaberechtspolitischen Stammtisch will erkämpft sein. Die Schweiz hat immer den Qualitätswettbewerb betont. Dazu stünde ein reiner Preiswettbewerb im öffentlichen Beschaffungswesen in einem Wertungswiderspruch.
DR: Kann das Gesetz etwas gegen die Tiefpreisspirale für Ingenieurleistungen ausrichten?
Marc Steiner: Wo es Tiefpreisspiralen gibt, gibt es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch nicht kostendeckende Angebote. Rechtspolitisch relevant sein kann also die Frage, wie man mit Unterangeboten umgeht.
Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist man – der in der Mitte der 90er-Jahre geltenden Prämisse folgend – überzeugt, dass garantierter Marktzugang und Intensivierung des Wettbewerbs alle Probleme lösen. Dann ist die Tiefpreisspirale wenn nicht das Ziel, so jedenfalls der billigend in Kauf genommene Effekt der Regulierung des öffentlichen Beschaffungswesens.
Oder man sagt sich, dass die Tiefpreisspirale einen Grenznutzen hat, was dazu führt, dass man die Vergabestelle verpflichtet, genauer hinzuschauen, wie denn solche Unterangebote zustande kommen, und die Anbieter mit Rückfragen zu konfrontieren. Das scheint tendenziell der europäische Ansatz zu sein. Die Schweizer Regulierung (Art. 25 Abs. 4 VöB) scheint dagegen eher vom Geist der 90er-Jahre geprägt zu sein und auch so umgesetzt zu werden.
DR: Welches sind die wichtigsten Gedanken im Zusammenhang mit der Vergaberechtsreform?
Marc Steiner: Ganz entscheidend und im Interesse namentlich auch der Anbieter ist sicher die Harmonisierung. Dadurch, dass die IVöB zu einer wesentlich dichteren Regulierung wird, die möglichst weitgehend mit dem BöB übereinstimmt, sind die Anbieter in der Schweiz grundsätzlich überall mit dem möglichst weitgehend gleichen Regelwerk konfrontiert, was sicher ein Vorteil ist.
Dann sind die Verhandlungen ein Thema. Bisher kann auf Bundesebene mit den Anbietern verhandelt werden und auf kantonaler Ebene nicht. Da gilt es nun, eine konsensfähige Lösung zu finden. Im kommunalen Kontext sind Verhandlungen wohl missbrauchsanfälliger als im Rahmen von zentraler Beschaffung auf Bundesebene. Ein weiteres Thema ist die Möglichkeit, die Rechtskonformität eines Zuschlags gerichtlich überprüfen zu lassen.
DR: Wären Sie ein Planerverband, was würden Sie im Thema Beschaffung unternehmen?
Marc Steiner: Was nach meiner Wahrnehmung schon passiert ist: Dass man sich offensiver Verbündete sucht als bisher und nicht einfach mehr nur im herkömmlichen Stil vor sich hin jammert. Das ist gut, um vergaberechtspolitische Themen an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu bringen. Was noch zu wenig passiert, ist der Austausch mit europäischen Planer- und Baumeisterverbänden, indem man die ganz einfach fragt, wie sie denn mit den gleichen Problemen umgehen. Was auch hilft, ist der Vergleich mit anderen Branchen.
Am erstaunlichsten ist für mich persönlich der vergaberechtspolitische Weg, den der Branchenverband der Textilindustrie (und mit ihr die armasuisse als Vergabestelle) hinter sich hat. (Das zeigt übrigens auch, was im Dialog zwischen Vergabestelle und Branchenverband möglich ist.) Diese neue Linie beruht auf der Erkenntnis, dass der reine Preiswettbewerb zum Verschwinden schweizerischer Anbieter führt und dass öffentlicher Einkauf auch Reputationsrisikomanagement ist – für die Vergabestelle, aber auch für die Anbieter.
In vergleichbarer Weise hat der Bundesverband der Deutschen Industrie erkannt, dass die Belohnung von Ökoinnovation im Rahmen der öffentlichen Beschaffung den deutschen Ingenieuren in völlig europa- und welthandelsrechtskonformer Weise dient, und propagiert neuerdings Green Public Procurement, wogegen die economiesuisse die Nachhaltigkeitszielsetzung des Vergaberechts bekämpft.
Hat der von mir fiktiv beratene Planerverband dieses strategische Radar einmal installiert, stellt sich die Frage nach dem politischen Mut, der die logische Konsequenz des festgestellten Leidensdrucks sein müsste. Die Maxime «Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass» hilft in diesem Kontext sicher nicht weiter. Jede Form der Berücksichtigung von Qualität erhöht die Chancen hiesiger Anbieter – und das in den meisten Fällen in absolut rechtskonformer Weise.